Auszug aus
Almatastraße,
Teil III

   I

   Auf der Domtreppe. Dann versucht, unter die Räder zu kommen. Statt dessen sah ich einen älteren Mann durch leichten Regen streichen. Er trug steuerbord in Cellophan geschlagen ein aufgerolltes Formular, kam vor mir zu stehen, reckte den rechten Arm und schüttelte ihn konvulsivisch. Damit er wohl meinte, den Dompredigern, die in Gestalt ihrer gedruckst an die Domwand gehauenen Statuen die Szene bevölkerten, zu fluchen. Deutlich erkannte ich in der verwünschenden Hand den blaßgrünen Antrag auf Lohnsteuerjahresausgleich. Stärkerer Regen dann. Ich trollte mich.
   Doch eine Flasche Bongeronde, viertelvoll, die mit einem Wackerstein beschwert im Neptunbrunnen lagerte, inspirierte mich. Ich erwarb in der Horten-Schlemmerzone eine unbenutzte, ferner ein halbes Baguette und einen netten Weichkäse, den mit Pfaffenemblem drauf. Wieder Domtreppe. Jemand stieß die schweren Flügeltüren auf und sprang mich von hinten an. Wer hätts gedacht : ein Japaner : »Would you please be so kindly...« Ich vermied es, den Asiaten ausreden zu lassen. Per Blick strafte ich sein Lächeln ab, hob aber dann doch zu einem Rundumschlag die Arme halbrechts, »Stadtmusikanten«, geradeaus »Böttcherstraße«, scharf links »Schnoor«
   Überreich der Tag. Ich trollte mich endgültig.
   Den Rest Tafelwein an einen Berber, der stilecht an Altensteins Monument campierte, ein bescheidenes offenes Feuer anhand von Reisigzweigen unterhielt und einen kleinen Weltempfänger betrieb. »Fürs Depot« — »Die Firma dankt«

   II

= pythagoreisch für Fixsternhimmel, via lactea Milchstraße Hödel, Hodel frz con,
Schnecklein, weibliche Scham callibistrae
farfadets Tückebolde Momus, Gott des Spottes und des Tadels
& des Rhetoriklehrstuhls in Tübingen
CANIDIA und SAGANA Zauberinnen bei Horaz EpV
AD METAN NON LOQUI 422 (1122 ?) testiculos non habet
Semiramis´ Beischlaf mit einem Pferd (R7OO ? 2700 ?)

   Vorletzte Nacht erhaben über Bremen gethront und durchwacht — brave Stadt. Bißchen lächerlich, wo sie bemüht ist, nach den Spätnachrichten nicht zu schlafen aber Nachtleben auf die Beine zu stellen. Bunte Lichter, mal flakkern sie dort auf ... oder dort ... Kneipen im Lindenhof ... kleine Geschwister meiner Wohnbatterie ... andere Seite die Gartenfeste auf den Parzellen ... Wohlwollende Menschen hatten mir einst empfohlen, alles, was je ich begänne, mit Spaß zu tun. Tatsächlich tu ich nichts aus Spaß. Sondern mich die Nacht daran gewagt, alte Exzerpte ins Reine zu schreiben. Meine Ausfallerscheinungen verlagern sich immer weiter nach vorn, sie wachsen in immer Früheres — ich kann buchstäblich nicht mal mehr mich selbst lesen.
   Heute aus den Briefkästen fünfter Stock die Zeitung zum Kaffee gewildert. Der erste, der hier die taz hält. Ich war dem charmanten Photo auf dem Titel erlegen. Amerikanische Ranger hatten ein gutgetroffenes Porträt geschossen : der gefesselt-grinsende Milizchef der Rhesusäffchen am Kap Horn.
   Milky-Way-Brotaufstrich — äß ich einfach zu viel von. Auch nährts meinen Argwohn, wenn eine Werbebotschaft sich mir plausibel macht. Von wegen des Gebuhles, der anschaulichen 30 % mehr im Bottich — jetzt mehr ! Schlimm, daß sich diese Strategie ungestraft fährt. Denn die, die zu fragen gewagt hatten ›warum nicht schon früher und nicht noch mehr Prozent mehr‹, die sitzen jetzt mit gebrochenem Handgelenk in einem stacheldrahtbewehrten Zentralstadion, kenn ich doch.
   Diesen Hinweis verdank ich Clemens — fair geht vor. ›Genie in der Werbung‹ gedeiht prächtig. War nicht unbedingt zu erwarten. Zumal viele Steine sich selbsttätig in Clemens´ Weg rollen. Auch greifen die Intrigen zur Gründung der Fakultät, die seine Diss annimmt, nicht recht. Seltsam beglückend, die Gesellschaft eines überlegenen Geistes genießen zu dürfen — wenn der Große dem Geringeren mit einem Leuchten in den Augen für die Bemerkung dankt : »Sag mal, hast du schon die absteigende Tonfolge im elfengesungenen Jingle Vesir Ultra, äußerst günstig krisenzyklischer Analyse unterzogen ?«
   Käpt´nNuß zu labbrig, Nutella zu sehr mit rotbackigen Erinnerungen behaftet. Was eine Zeit, als in Mamas Küche noch Unmündigkeit regierte ! Und das viele Eisen und eklig knackige Knabenwangen davon, wie ich sie nicht mal nach einem halben Dutzend Schlittenpartien aufwies in Wintern, die noch welche waren, und die nicht mal mein Vater mir verschaffen konnte, und der tat doch was er konnte und prügelte mich täglich die Schneekoppe rauf und runter. Deswegen surf ich nicht besser — aber mit Nutella bist du einfach besser drauf.
   Und zur guten Konfitüre langts meist nicht : diese leckre britische, versetzt mit bittrer Orangenschale. Vielleicht das wahre Unglück meines Lebens.
   Also ich, Hansawelle an und mit Großer Geste, vorm Katzentisch vom Sperrmüll : die angetrockneten Marmeladentöpfe ins Aus gewischt. Die Kambriumkrumen aus Harrys Guter Brotfabrik, die meine Handkante in einem Aufwasch gleich mitfegen wollte, verschwanden entweder in den Canyons der Platte, bildeten ein Überhangmandat an der Tischkante oder blieben an der Haut kleben. Was sie auch taten, die hohle Hand, die unterm Tischrand wartete, ging leer aus. Anyhow, dann doch : war sauber, war Platz. Dann Anzeige entworfen. Leichter Hand. Ich bin nur unschlüssig, ob ich sie in einem bremer SzeneBlatt schalte oder im Zentralorgan des DIHT. Wie in allen eroticas werd ich des todsicheren Indikators Clemens Schiedsspruch abwarten und dann mit gutem Gefühl in etwa zum genauen Gegenteil greifen. Text vielleicht:

   Du, Komma, neulich, Du eine Sylphide, ein Salamanderweibchen im Großen Aldi Utbremen, Heinrich-Köselitz-Straße, wo´s noch den klasse Camembert aus wärmebehandelter H-Milch gibt. Schmeckt wie gezuckerter Samenerguß, gemolken aus süßmodriger Leiche. Du eine aberrante Wirbellose im Discounter. Viele Segmente ringelten vor Kassen kurz nach sechs und vier dickbäuchige Flaschen Mineralwasser irgendeines Vogesenquells rollten in einem flachen Karton, auf den aber von außen holländische Wassertomaten gemalt waren. Du trugst diesen Karton. Dein Haar war gezündelt im Burgunderrot der Fieberräusche Rimbauds. Wir haben uns exakt nicht angelächelt.
   Drei Kassen, drei Wurmfortsätze.
   Im ersten hielt sich wacklig zwischen Süßwaren, vergittertem Tabak und Laufband eine Sklerose in den besten Vierzigern. Ihr war ein Glas rubinroter Kirschen vom Band gesprungen. Sie erheischte Verzeihung vom Publikum und gab dazu umständliche Berichte aus der Welt ihrer Krankheit. Und weil sie weder auf Aldis Einrichter schimpfte noch offen die Ideologie der reibungslosen Abläufe verachtete, geschah ihr schließlich, was sie wollte : man war nachsichtig, trotzdem der kandierte Saft mit Farbstoff und Splittern die Abfertigung verschleppte. »FREULEIN DÖHNKEN, KOMMSDU MA ? UN BRING FEUDEL MID SCHIPPE MID, NÄ !«
   Ob´s damit zu tun hatte, daß mich die mittlere Kasse strikte ausspie ? »HIER NICH MER, SIE DA IM GELBEN, HIER NICH MER, GEHN SIE BIDDE EINS WEIDER«
   — Du kennst mich noch nicht so gut, aber glasklar : zuerst tat ich so, als hörte ich nicht. Bin ich der, der einsieht, daß die Zäsur wieder mal mit ihm gesetzt wird ? Bin ich der, dessen Leben ist, stets als der Eine Erste im ungezählten Strom der Menschkörperchen von einer errötenden Ampel gestoppt zu werden ? Und wenn ich´s wär : ich begehrte auf ! Hier aber flüchtete ich noch in eine List. Ich pflückte ein Taschenbuch, eine kataklyme Studie über die IngeborgBachmann-Festspiele, und versank mich : ein ungefähr Neunter in der Reihe. Bis zuletzt gab ich vor, zu konzentriert zu lesen, als daß ich die wiederholt ausgestoßenen Aufforderungen, doch anderswo um Bezahlendürfen zu bitten, hätte wahrnehmen können. Auf deutsch : auch ich bettelte um Mitleid. Bloß : ich trag den Ekel auf der Stirn und mich zwang man anzuerkennen, daß den Moment, da mein Pud Nudeln kassiert werden wollte, das Transportband nicht mehr lief. Der Goldkettchenträger vor mir grabbelte schon am Ausgang nach Kartons, die Flaschen Campari und Cinzano zwischen die Oberschenkel gepreßt. Die Oberschenkel ihrerseits waren in eine Jogginghose gefaßt, die schlapp unterm Bauch geschnürt damit drohte, mindestens eine Schachtel Lord extra light aus der Flankentasche zu verlieren — ein kitzliges Spiel, von dem meine Aufmerksamkeit abzulenken erst der Kassiererin gelang, die mit finaler Entschlossenheit den Kassenschlüssel umdrehte und aufstand. Ich schaute mich um : hinter mir war schon gar keiner. Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen, hast Du´s auch mal gelernt ? Ich aber schwankte, wie ich mich am schicklichsten empören sollte, ein schüchternes »Das ist doch nicht Ihr Ernst« oder ein —
   — just da ... starrte ich viel lieber auf Dich als Letzte in der Schlange rechts, wechselte flugs in Dein gefärbtes Haar, Dir in Deinen freizügigen Nacken und zählte die handvoll Hitzepickelchen. Deine Achselhaare glänzten schwitzig, fascesweise lugten sie hervor, kleine saftige Ruten aus Speckfältchen. Ich schnupperte nach Dir. Du mußt wissen, das ist mit die älteste Schicht, die die liebe Evolution in uns übrigließ. Damit wir was zum Nachdenken haben. Eins der wenigen Dinge, die ich dann doch gern tu. Für einen Moment, als am Eingang eine Kolonne Handwerker durchs Drehkreuz flirtete und Zug war, gelang´s. Das war nicht überwältigend — so bitteschön hat die Frau meiner Träume nicht zu riechen. Aber Dich mochte ich darum nur noch mehr. Hinter uns stauten sich flachsend die Brandflecken in Blaumännern und Tätowierungen auf Unterarmen. Ich studierte den Kragen Deines pechschwarzen Shirts. Es schwärmte von Dir. Zwar bin ich nicht vom Fach, aber hätte doch geurteilt : sauber. Auf Deine Stimme war ich sehr gespannt. Ich dachte mir, sie müßte kommen, als es für Dich ans Zahlen ging. Doch Du bliebst stumm. Bravo. Du wirst auch stumm und klaglos sterben — soviel ist mal sicher. Du Schöne ! Die Elende, die wagte, Dir Geld abzunehmen, diese Vettel, unterließ es nicht, mir dann das Wechselgeld möglichst langsam auszuzahlen und dabei meine feuchte Handfläche zu berühren. Das Vorrechnen von Pfennigbeträgen dauerte, bis Du draußen warst — entschuldige ... ich bin Dir nicht nachgerannt. Entschuldigung auch bei all unsren ungezeugten ungebornen Kindern. Meinst Du, ich darf Dich da wiedersehen wollen ? Ich weiß nicht. Was ich weiß ist, daß ich die Kassenmatrone wiedersehen werde.
   Ich bin sehr traurig.

   III

   Clemens ist doof. Er hält mich für einen bösen und perversen Menschen, der nur gucken will, sich aber das Kleingeld auszahlen läßt. Ist zwar was dran — aber mir deshalb ohne Zögern zuzuraten ? Morgen werde ich ihn noch einmal fragen — wenn er ganz bei der Sache ist und nicht damit beschäftigt, eine Fotoserie über beschädigte Plakatwände in Obervieland auszuwerten.
   Ich verließ Clemens mittags. Mittag ist die dürre Zeit des Tages — es ist, als setze der Höhepunkt von Sonne und Zeigern die Unleidlichkeit der Menschen ins Quadrat. Mittags ist die Schminke zerflossen, ist mehr wahr. Andre Tageszeiten lassen sich gern durch die Phantasmagorien der Gefühle besetzen und mühlos überdecken. Mittags ist auch die Luft am dünnsten. Ich selbst bin mittags ängstlicher, unentschiedener, einsamer. Mittags ist Engadin und gut philosophiern. Aber das macht Philosophie ja so albern : das sie Ausnahmezeit, Auszeit voraussetzt und sich methodisch nie damit begnügen kann, wenn schon nicht in Handeln, dann wenigstens in Ethik aufzugehen.
   Mittags stakste ich Clemens´ Treppenhaus hinunter, mied das wacklige, elephantenkotgekittete Geländer und grüßte mürrisch winkend die Plastiktüte. Plastiktüten grüße ich immer. Diesmal war sie von Comet und der blaue Aufdruck an einigen Stellen schon abgeplatzt. Die Tüte war über der Frau, die über Clemens wohnt. Diese Frau, von der sonst nur bekannt ist, daß sie Ratten aus dem Fenster schmeißt, Sozialarbeiter nicht über ihre Schwelle läßt und pünktlich jeden Morgen sechs Uhr einem unwiderstehlichen Brechreiz Folge leistet, diese Frau weiß sich, wer im Haus ihr auch wo begegnet, stets rechtzeitig eine Plastiktüte übers Gesicht gezogen zu haben.
   Ist das klug ?
   Die meisten Menschen schätzen den Mittag. Da gibts Futter, da ist Pause. Ich ahne nur, wie sehr beides zum Fürchten gedacht ist. Ich schätze den Mittag nicht. Er ist anstrengend und viele Geschäfte haben dicht. Er ist optimistisch, er überredet, man möge doch froh sein, die Hälfte schon geschafft zu haben, und während er mit spitzem Licht so daherparliert, spritzt er lähmendes Gift. Und will man trotzdem über ihn nachdenken, so brennt er und verwirrt vollends die Gedanken. Ich hab dem nichts entgegenzusetzen.


   Trotzdem trat ich aus diesem Speicher für Wahngebilde heraus und mich wehte in des Mittags Helle aus einem Winkel der ewignässenden Eingangsüberdachung ein schönes Bild für Erlösung an : eine von Natur magere, langbeinige Spinne. Verhungert. Ich muß mir selbst hier von etwas Neuem sprechen. Von Windbestattung. Dieser Leichnam mit acht eingekrümmten Beinchen landete nichtsgetrieben auf meiner Schulter, ich dachte nur flüchtig daran, ihn vorsichtig anzuhauchen, nur daß ich sähe, was es sei — und hauchte ihn damit schon fort — die Windstille trug ihn fernhin die Erde. »Der gelbe Nachmittag des Glücks« — das ist eine Formulierung, die der Philosoph des Großen Mittags fand. Der gelbe Nachmittag des Glücks — ist unbedingt ein Land. Und die durch und durch opake Spinne steuert es an.
   Ich bin nicht so eingebildet, daß ich mir von Spinnen keine Lektion erteilen ließe. Mutmaßlich betrachtete sie die Leute näher, die unter ihrer Idee von Netz ein und ausgingen, las sie Gedanken unter Schädelplatten und hielt es daraufhin für angezeigt, archaisch autoaggressiv die Nahrung zu verweigern. Geschickt, wie sie kraft Negation das Ideal der Lebendigkeit und Reinheit in der Metamorphose zum Abgestorbenen hin transzendierte und die narzistische Besetzung ihres Körpers aufgab. Fortan hält sich ferne — immateriell nun und unsterblich. Und nie wird ihr Körper den Boden berühren.
   Vielleicht aber auch hatte sie nur eine schlechte Woche.

   IV

   Doch Milky-Way geklaut. Nur mal probieren. Und noch hypnotisierender gewunden die braunweißen Spiralen, noch bunter der beiliegende Gimmik aus dem Dorfidyll des Asterix. Glücklicherweise zähl ich zu denen, die noch mal in die höchste Form der Verbindlichkeit, die Unverbindlichkeit, entkommen sind.

   V

   Keine Post bekommen. Heut find ichs schad. Ich laufe die »Allee der Stadtwerke« entlang, kasernierende Mauern, bezaubernd wie nur irgend ein barocker Park mit Haschmichhecken zu überschaubaren Labyrinthen gestutzt, Kleintransporter mit blutleer freienden Aufschriften, zügighuschig graphisch gestaltet, stoßen Dämpfe neben mir aus, viele Opel unterwegs auch, immer ungewaschene Kühlerhauben, immer den letzten Regen noch mitgenommen und dokumentiert mit Schmutzrändern noch und noch, ich sach ja nichts, diese elende Straße, schnurgrad, ausweglos allem, das sich bewegen will. Weg der Ausweglosigkeit, Allee der Aporien. Laster mit offenen Müll über offene Grenzen. Irgendwo hier steht das »Haus des Volkes«. Das ist der Ort, Sozialhilfe zu beantragen. Wenn man nur die Straßen zu überqueren wüßte.
   Kaiser Honorius übt lustwandelnd Großen Posen in Ravenna und setzt ein übertriebenes Zeichen seiner Liebe zu Rom : er tauft sein Lieblingshuhn auf den Namen Rom. Als Honorius die Nachricht vom Fall Roms vernimmt, erliegt er einem verständlichen Mißverstehen — denn er hatte Rom stets frei in seinen Gärten laufen lassen. Honorius also bezieht das Unglück konsequent aufs Ableben des favorite chicken und erleidet tief erschüttert eine hysterische Attacke. Gelesen bei Gregorovius. Heut nacht zwischen 1 und 3, wo, nach Nietzsche, die Zeit aufhört und wir keine Uhr mehr im Kopf haben.
   Eine angemessene Haltung ! Hätt ich sie nur, wiederführe mir das Mißgeschick, in den Strudel geschichtstektonischer Verschiebungen zu geraten. Honorius ist größer als Caligula. Caligulas Verhältnis zu seinem Gaul Incitatus beweist blankes Mittelmaß. Vor Rennen wachten zwar über des Incitatus Ruhe Soldaten, wohl auch wohnte Incitatus in marmornem Stall, fraß aus elfenbeinener Krippe, lag auf Purpurdecken mit Edelsteinen am Hals und gebot mit seinem Wiehern über einen eigenen Palast nebst Personal — aber wie ordinär das alles. Die eigentliche Lieblosigkeit ist auch aus der mangelnden Vorsorge zu ersehen : durfte den wirklich die Ernennung des Incitatus zum Konsul scheitern am bloßen Tod Caligulas ?
  Größer auch als dieser der andere Kindskopf, dessen Name mir grad entfallen, der seinen Senatoren damit drohte, an ihrer Statt leibhaftige Esel zu berufen. Dahinter dann doch nur wenig mehr steckt als eine tiefe Polemik gegen den juristischen Sklavenbegriff (=Sache)
   Was ist nur mit meinem Gedächtnis ?
   Um diese Zeit sitzt in Bethlehem Hieronymus in seinem 63. Jahr. Er schreibt an ein Nönnchen in Not : »Ich hatte eben die achtzehn Bücher der Erklärung des Jesaias beendigt und schickte mich an, zum Hezechiel überzugehen ... siehe, da vernehme ich plötzlich den Tod des Pammachius und der Marcella, die Einnahme der Stadt Rom und den Hingang so vieler Brüder und Schwestern. Also verlor ich Besinnung und Stimme ... Da nun aber das hellste Licht des Erdkreises verloschen, da selbst das Haupt des römischen Reiches vom Rumpfe getrennt worden und, um es besser zu sagen, mit der einen Stadt die ganze Welt untergegangen war, da ward ich stumm und gedemütigt; ich hatte keinen Laut für das Gute, es erneuerte sich mein Kummer, mein Herz war heiß in mir, und in meinen Gedanken entbrannte es wie Feuerglut. Meine Stimme stockt, und mein Schluchzen unterbricht die Worte, die ich schreibe : die Stadt ist bezwungen, die den Erdkreis bezwang«
   Ins Deutsch übertragen, das in der Almatastraße verstanden wird, solls heißen : Stenderhoff trägt endgültig Schwarz. Vor kurzem war der eine ihrer Pinscherzwillinge, ›Pik‹ benamt, wie ich über eine Danksagung für erwiesene Beileidsbekundungen, die ans Schwarze Brett gepintet war, erfahren hab, an Magendurchbruch zugrundegegangen. Die RaffaelloKokossplitter, an denen Pik sich überfressen hatte, sollen sich ja wie Eisenspäne ins Blut getrieben haben. No 2 nun : in einem unbedachten Moment — ich gesteh : ich wars. Köter Puk war vor der Lottoannahmestelle wieder mal ausgebüxt, wie Stenderhoff den liebreizend verspielten Charakter ihres verbliebenen Lieblings zu rühmen gepflegt hatte. Nur, daß er diesmal mich ansprang, mich, der ich daherkam die Straße ohne Schuld, eine Melodie des Gleichmuts auf den Lippen, seinen erigierten Mikropimmel an meiner Cordhose zu wichsen zu seinem Vergnügen. Ein Tritt in die Köterkehle. Blut trat aus und saute das Fell ein. Dessen Weiß aber eh von der schmutzigen Sorte war. Ein letzter Schiß entzuckte dem Enddärmchen, und gab den dumpfsahnigen Geruch verwesender Negerküsse von sich — ein weiterer Hinweis auf die Wohnhaft der Seele. xxx Aber unbedacht war der Tritt dennoch, weil nämlich : Stenderhoff trägt im ihrerseits verfetteten Herzen den Plan, auszuziehen, restloses Vergessen zu wählen und gegen eine Klause in der Negev-Wüste die Wohnung jemandem zu überlassen, der sich noch als bedeutend gräßlicher herausstellen könnte. Einer ihrer Großneffen, ein wahrer Überzeugungstäter, scheint ernsthafter Aspirant zu sein. Dieses Wesen aus mir völlig unbekannten Welten raucht Mentholzigaretten, kauft Rosen und Kaugummis. Die Rosen bringt er der Stenderhoff mit und verbeugt sich und hat sie mit Silbersternchen von Kindergeburtstagen noch streuseln lassen. Die Kaugummis aber deponiert er, unmittelbar bevor er klingelt, in einer eigens dafür mit Staniolpapier ausgelegten Streichholzschachtel. Habs selbst gesehn. Und gleichzeitig befreit er die Sohlen seiner Schuhe von Kot. Und das tut er — auch das hab ich beobachtet — auf dem Fußabtreter, den die Stenderhoff vor Jahresfrist gestickt hatte : eine wundervolle emblematische Arbeit : zwei Riesenraffaellos, die Porträts ihrer Lieblinge darstellen sollen, zusammen mit dem Sinnspruch MEI RUH WILL I HAM. Das Stärkste aber ist : dieser Mann, der mit Wagnermelodien aus dem Raum zwischen seinen Lippen dem Lift entsteigt, darf Geld von hinter den Postschaltern aushändigen. Ich hätts wissen müssen — nichts wird besser : diese Kleinpäpste und -päpstinnen, diese Freaks des Details, die die großen Verbrechen imitieren.

   VI

   Ein zweites großes Wort Götes ist zu meiner Kenntnis gelangt : nichts sei schwerer zu ertragen als eine Folge schöner Tage. Nur : ich sehe diese Folge nicht.

   VII

   ES IST OSTERN. ES IST OSTERN. KRIST IS AUFERSTANDEN. Rohre liegen hier. Unverlegte Riesenstrohhalme. Bagger stehen verlassen. Zyklopen erziehen ihre Brut immer lässiger. Junge Männer ostersonntags erhitzen sich zum Spaß auf den Fußballplätzen der Gemeinde. Dumpfe Tritte gegen Leder eilen über den Platz, Gelächter und Schreie voller Verlangen nach Anspiel. Eine Alustange klirrt und irgendwo klatschts. Ein Hund scheißt und knurrt anschließend an. Er hat sich die Lefzen noch nicht abgewischt. Wie ein überlanger Katheter die Leine seines Männchens. Zersiedelung und wenig Orte für Enten, an die sie fliehen könnten in Beschaulichkeit. Zeit zum Gähnen, Zeit zum Fürchten, Nichts, an das man sich erinnern wird von diesem Tag — und wohl verwandt mit dem letzten Bild, mit dem man von dieser Erde stirbt. Taedium vitae.
   Das Gras ist kühl, auf dem ich sitz, und endlich, die Gattinnen der Pastoren tragen nach Karfreitag nun das erfrischende Grau. Nichts im Übermaß. Hier, der hufausgetretene Acker, die Profile schwerer Reifen und keine Spurensicherung : hier liegt keine Steinzeitvenus mehr. Vor solcher Leere hört die Existenz des Gelehrten auf. Die Sonne, wieder : durchaus leseunfreundlich. Sie knallt von hinten, das Papier zu weiß und das Auge spielt nicht mit. Der Wind pfeift kalt und es lungern Jugendliche um eine alte Eiche. Autos parken nun ein, andere gegürtelte Stoffhosen und frische Hemden steigen aus, Telephone klingeln durch Flure, ein herzerfrierendes Frohe Ostern mehr. Ach, daß sie alle an den Drähten verreckten, an denen sie telephonieren. Eine Kleingruppe Gläubiger tritt an : Spaziergang ! Der Gute Winter der Kühe vorbei : Fliegen erheben wieder das Haupt. Da vorn gehts nach Stuhr. An der Baumschule vorbei, und wer hier seine Ruhe sucht, nur seine Ruhe, die nur ihm gehört, und wer seinen Herzschlag nicht mehr hören möcht, der sich vor jeder Kreatur entschuldigt, ehe er sie, möglich, zertritt, selbst der stört noch eine Ente auf und stöhnt über seine Unvollkommenheit.
   Wie ?! ein Leben soll nicht mehr sein als ein schlechter christlicher Aphorismus ? Ein Leben ist wie eine Schachpartie : es werden immer zwei Partien gespielt. Erst mit dem letzten Zug werden sie deckungsgleich.
   Tüll und Tarlatan

   VIII

   Die kleinen Dinge, die nicht passen die Zentimeter und Sekunden, die fehlen an der Wirklichkeit eines Gedankens, die machen das Leben madig, die bedeuten mehr als die skurrilen Momente des Glücks.
   Ich auf DAS RAD. Die Kreuzung : wenig befahren. Aus meiner Richtung drei Spuren, eine führt Gegenverkehr und auf der rechten die vergessenen Geleise einer stillgelegten Straßenbahnlinie. Die Herrenstange zwischen meinen Schenkeln nutze ich, eine Tasche voll erdigen Gemüses abzustützen. Also bin ich mit gespreizten Beinen unterwegs. Langsam rolle ich aus auf der rechten Spur. Zwei Wagen auf der mittleren stehen vor der Ampel, einen dritten hör ich heranrollen und bremse derart zärtlich, daß ich, der ich auf den Gehweg links möchte, einen so knappen wie eleganten Bogen werde schlagen können hinter dem dritten Fahrzeug — wenns denn hinter die ersten zwei zu Stehen gekommen sein wird. Rechnen eigentlich mit nur einer Unbekannten : v des Fahrzeugs in meinem Rücken. Daran liegts nicht mal. Das Auto fährt vor, ich schlage meine Parabel ein, sanfter Winkel, weil behindert durch die Tasche — und muß bremsen, schlingre, stolpere, weil : der dritte Wagen hat Überlänge, amerikanisches Kennzeichen und enttarnt die größtmögliche Eleganz als Ungelenkheit. Das bedeutet was.
   Ein draller Kerl stellt einem Kind ein Bein und entschuldigt sich nicht. Ein Reißverschluß wird gehalten von einer piekenden Sicherheitsnadel. Die Träger der Tasche sind zu lang : die Tasche schlenkert in die Speichen. Das alles bedeutet was.

   IX

   Die Kykladen hattens ihm angetan. Dikaiarchos — Ruhm ihm ! (ewigen, wenns geht) — Admiral des fünften Griechen auf Ägyptens Thron, überzog die überwiegend unbewohnten Kleinviehweiden mit Krieg. Jawohl, er schämte sich nicht, Eroberungskrieg zu machen gegen zuletzt wohl in der Jungsteinzeit gut besucht gewesenen Inselchen, gegen ein loses Gelege von Steinpfützen in der Ägäis. Strategisch, klar, von Gewicht in den postdiadochalen Händeln, in nachepigonaler Ära : die klipprige Mitte aus Schiefer und Kalk, Mitte eines Triangels von GriechenFestland, Asia und Kreta. Dikaiarchos führte den Feldzug modern. Das heißt : unter Nichtachtung des von den Göttern geschützten Völkerrechtes. Klaus Störtebecker ist seinerzeit sehr weit gewesen. Dikaiarchos aber war schon noch weiter gewesen. Sehr unmodern allerdings, daß er sich zu seiner Feindschaft gegen Götter und Menschen bekannte. Und er dokumentierte seine Götterverachtung und Gesetzlosigkeit, indem er überall auf den eroberten Inseln Altäre der und der errichtete. Sein Verdienst bleibt es, als erster einer sehr feinen Haltung kultischen Ausdruck verliehen zu haben.
   Heute ist mir nörgelig. Bei wem soll ich mich entschuldigen ?

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