Martin Jordan


Gequälte Menschen
oder
Traktat wider die WG


Betrachtungen eines Frustrierten aus unausrottbarer Lebenswirklichkeit

 

I. Einführung

In allen Wohngemeinschaften sieht es gleich aus : Ikea und Sperrmüll und Erinnerungen, möglichst originell, pardon, irgendwie ganz witzig drapiert. Die Zimmer stehen immer offen und man kann Flokatis, Drecksocken und Poster irgendwelcher langvergangener Ausstellungen sehen. Sind die Zimmer dennoch einmal verschlossen, hört man aus ihnen Fickgeräusche.
Es wohnt in jeder WG, insofern es keine FrauenLesben-WG ist, ein Typ namens Siggi. Der ist entweder gerade in Thailand, besucht Hausbesetzer oder steht in Unterhose an die Küchentür gelehnt und klagt, er müsse morgens früh raus und ob man nicht leise sein könne.
Dieser Siggi ist es, der dir deine Freundin ausspannt — wenn sie es ist, die mit ihm in der WG wohnt.
Wohnst aber du selbst in einer WG, haben alle dort gemeldeten und ungemeldeten Frauen feste Freunde in anderen Städten und alle Anmachversuche finden sich im Keim erstickt.
Zum Essen gibt es in Wohngemeinschaften entweder nur Dosen von Aldi oder sauteure Produkte aus Läden, die Korngeist oder Grüner Kramladen heißen. Diese Lebensmittel schmecken entsetzlich und sehen aus wie DDR-Waren. Du ißt sie nicht, bezahlst sie aber, weil man dich überstimmt. Du bist immer der, der abwäscht und mit dem Kloputz dran ist. Im Badezimmer haben alle ihre Körperpflegeartikel stehen. Benutzt werden aber nur deine. Jede FrauLesbe, die mit dir in der WG wohnt, bewahrt ihre Tampons in Bonbongläsern auf. Und zwar auf dem Spülkasten, da, wo das Schild hängt MÄNNER HINSETZEN.

II. Die Andrea

Die Andrea studiert irgendwas. Was, kann ich gar nicht genau sagen, aber ich glaube, irgendwas auf Lehramt, ja genau, Lehramt Primarstufe war´s, ja genau. Wenn jemand Lehramt Primarstufe studiert, kann man darauf wetten, daß niedlich-alternative Plattheiten in der Küche hängen, nein, nicht die Cree-Geschichte, sondern ein kleines Mädchen mit Dackel im Arm vor einer apokalyptischen Szene mit ganz vielen Fabriken, Atomkraftwerken und giftigbuntem Wasser. Oder was anderes. Andrea — das muß zu ihrer Verteidigung gesagt werden — hat nur sehr zögernd ihre Tampons in ein Bonbonglas gelegt, weil, katholisches Elternhaus und so weiter.

III. Der Siggi

Der Siggi, eben derselbe, der es mit deiner Freundin treibt, ist knapp 30 und verbringt das halbe Jahr in Thailand, wo er sich in der Sonne aalt und »total günstig, du« echtes Kunsthandwerk kauft. Das verscherbelt er dann auf Flohmärkten im norddeutschen Raum. So kommt er an das Geld, das er braucht, sich wieder ein halbes Jahr in der Sonne zu aalen. Er selbst nennt sich »Lebenskünstler«, die anderen in der WG einen »total witzigen Typen« und ich »die blöde Sau, die es mit meiner Freundin treibt«. Siggi hat die meisten Flokatis, die meisten Drecksocken und die meisten Poster. Er schläft in einer Hängematte, zwischen thailändischem Kunsthandwerk und Ikeamöbeln und raucht ständig Haschisch.

IV. Spleens

Jede WG hat ihren Spleen, der auch dann noch fortlebt, wenn kein Gründungsinsasse mehr dort wohnt. Von einer autonomen WG wird berichtet, es seien überall aus Gründen totaler Witzigkeit Photos von Adolf Hitler aufgehängt worden, insonderheit an unvermuteten Plätzen, etwa in Schubladen, im Klodeckel oder über den Betten. In einer anderen WG nahmen witzige Botschaften der Belegschaft untereinander derart überhand, daß man zu Sprühdosen und Tapetenrollen griff.
Des weiteren sind verbreitete Spleens :

— Diskussionsabende (sog. Familiensurrogat)
— total witzige Anrufbeantwortertexte
(CVJM, Emdener Landjugend, Papst, H. Kohl, Chorsprechen)
— Brettspiele
— unverriegelbare Klotüren
— Boxen in jedem Zimmer. Auch im Bad
— Lichterketten und buschige Grünpflanzen (Ikea)
— Nutellafetischismus

Zuweilen leiden Neueingezogene bis zu ihrer Assimilation oder ihrem Auszug unverhältnismäßig stark unter den verschrobenen Steckenpferden der Alteingesessenen, wenn es sich etwa um Ritterrüstungsbauer oder Punkmusiker handelt. Schroffe Gitarrenriffs und Schwertgeklirr gehören aber meist bald auch für die Novizen zu Frühstück und Hausarbeit wie der gute Ersatzkaffee und werden dann als heimelig und vertraut betrachtet.

V. Feten

Mit der Zahl der WG-Insassen steigt auch die Fetenfrequenz. Für Examenskandidaten ist das natürlich sehr schön. Erinnern wir uns nur an Siggi : er raucht ständig Haschisch. Das tut er nicht gern allein. Er findet, daß er besonders originell und witzig ist, wenn er gekifft hat (das findet deine Freundin übrigens auch). Kiffer halten selten die wünschenswerte Ruhe. Bei vier WG-Insassen beträgt übrigens die jährliche Anzahl der Geburtstagsfeten vier. Es ist ständig Besuch aus Berlin und/oder Göttingen da 1), was heftigen Anlaß zur Fete und Mitverfressen deines Verpflegungsgeldes gibt; die Leute, man sah sie schließlich lange nicht (Fickgeräusche) und alle haben Bierdurst. Nachteile :
— es handelt sich um dein Bier
— laute Unterhaltung und Grölen folgt
Aus Göttingen kommt auch der Siggi (»Ja, total witzig, daß der auch so heißt« usw.), in den sich deine Freundin umgehend verliebt (Untreue, Tränen, lange Spaziergänge, Vorwürfe, Flucht nach Göttingen, Rückkehr, Versöhnung — bis Siggi 3 [aus Berlin] kommt).

VI. Frauen

Über Frauen haben wir schon einige Worte verloren, besonders, was ihren menstruativen Exhibitionismus angeht. Es gibt im Leben von WG-Frauen aber noch einen zusätzlichen Halt, nämlich das immerwährende Oszillieren zwischen Pille und Naturverbundenheit. Das geht so : die Frauen nehmen die Pille nicht mehr, weil Hormone und so, und mit dem Rauchen, das sei ja gefährlich so in der Kombination. Sie überreden auch deine Freundin, die Pille abzusetzen. Monatelang mußt du nun die seltenen lichten Momente des menschlichen Daseins durch einen Gummi hindurch zu ertasten suchen, bis deine Freundin es in weinseliger Nacht »ohne« mit dem Siggi macht und fast schwanger wird 2). Daraufhin nimmt sie wieder die Pille. Ebenso wie die anderen Frauen aus der WG, die schon lange vor deiner Freundin ihre Hormonabstinenz wieder beendet hatten.

VII. Auto

Niemand in der WG hat ein Auto. Weil man ökologisch auf Draht ist. Du aber hast ein Auto und bist deshalb längst als Unalternativer und Umweltmuffel enttarnt. Als Diskutant in Demo- und Flugblattfragen bist du also abgemeldet. Eines Tages aber bemerkst du, daß dein Auto für dich niemals verfügbar ist. Die anderen WG-Insassen leihen es sich nämlich immer aus (Beulen, Motorschäden, Verschleiß, leerer Tank, Strafzettel aus allen möglichen Städten). Vorzüglich Siggi fährt fast an jedem Wochenende mit deinem Auto nach Berlin. Vorher leiht er sich von dir noch das Benzingeld und nimmt deine Freundin mit. Natürlich nur, um einen Friedenskongreß mit ReferentInnen aus Thailand und den neuen Bundesländern zu besuchen. Auch kleinere Touren in der Stadt muß Siggi ja mit deinem Auto fahren, seit ihm dein Fahrrad gestohlen wurde, als er es nach einem Unfall unabgeschlossen am AuKultZent abstellte.

VIII. Die Essensaxiome

A : Bist du Vegetarier, ernähren sich die anderen fast ausschließlich von Schweinskopfsülze und Steak.
B : Bist du kein Vegetarier, gibt es fast nur Körnerbrei.

IX. Ein Wort zur Miete

BEISPIEL

Insassen : Siggi, Andrea, Atze und du.
Wohnung : 120 qm Altbau, EinsAcht warm, vier Zimmer.

   Der Siggi : 40 qm, DM 300.-, weil, er ist Hauptmieter und ja meistens auch in Thailand und die Wohnung damals, die hat er ja aufgetan und überhaupt hat keiner mehr den Überblick.
    Die Andrea : 40 qm, DM 300.-, weil Andrea ist mal mit Siggi zusammengewesen und mit ihm damals hier eingezogen. Außerdem hat sie keinen Job.
    Atze : 25 qm. Das Sozialamt bezahlt 500.-
   Du : 15 qm. Du wohnst neben der Küche im ehemaligen Hauswirtschaftsraum, bezahlst aber, weil Wohnungsnot herrscht, DM 700.-

X. Alternativen und Auswege

Verfasser würde seinem Anspruch, zu helfen, zu heilen und an der Beseitigung die Geißel ›Wohngemeinschaft‹ zu wirken und zu weben, nicht gerecht, hätte er nicht in unermüdlicher Tätigkeit im Dienste menschenwürdigen Wohnens, ja, zum Wohle der Menschheit selbst Recherchen betrieben, demoskopiert, experimentiert und manche Nacht grübelnd über Manuskripten, Grundrissen, Einrichtungsmagazinen und dem Immobilienteil der »Bremer Nachrichten« gebrütet. Die Forschungsergebnisse sind daher auch recht umfänglich. Deshalb beschränkt sich Verfasser hier darauf, eine Passage aus dem zweiten von zwölf Bänden (plus Einführungsband) zu zitieren. Dieser Band behandelt die bangen Fragen junger Menschen, die das elterliche Nest zu fliehen im Begriffe waren und sich ratsuchend an Verfasser wandten, der bekanntlich während seiner mehrjährigen Forschungstätigkeit als Berater im psychologischen Dienst einer ungenannt bleiben wollenden norddeutschen Universität tätig war.

Frage : Was ist denn besser als ein WG-Zimmer ?
Antworten :

— Ein 140 qm-Loft in Oberneuland
— Ein Penthouse an der Contrescarpe
— Eine Jugendstilvilla in Bremen St. Magnus
— Ein reetgedecktes, toprestauriertes Zweiständerfachwerkhaus bei Worpswede oder Fischerhude
— Ein behaglicher Bungalow in Moordeich
— Eine gemütliche Wohnung über zwei Ebenen in der Parkstraße

Frage : Weißt du überhaupt, was das kostet ?!
Antworten :

— 650000
— 500000
— 700000
— 580000
— 400000
— 500000

Frage : Sag mal, spinnst du ?
Antwort : Na klar, eine der Wohngemeinschaften, deren Insasse zu sein ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, hortete Unmassen schmutziger, nach Schafscheiße riechender Wolle. Dort galt es als besonders hip und trendy, dieses mithin von allen Veredelungsprozeessen ausgeschlossene Material in langer, harter Arbeit zu stinkenden, häßlichen und kratzigen Säcken zu verarbeiten, die selbst härtestgesottene Ökofreunde, wenn damit beschenkt oder sonstwie konfrontiert, nur bei großzügiger Auslegung des Begriffes ›Pullover‹ als solche zu erkennen in der Lage waren.
Seither spinne ich.

XI. Zwischenbilanz

Ledig aller MitbewohnerInnen räkelt sich Verfasser frohgemut in den Polstern von bequemen Sesseln, die weder allen gehören noch vom Sperrmüll stammen. Hin und wieder schiebt er sich einige Stücke Lindor.gefüllt.Zartbitter in den Mund und freut sich. Alle Etagen des Kühlschrankes gehören ihm. Seine Bibliothek ist keinen Plünderungen ausgesetzt. Kein kiffender Siggi sitzt in der Küche und beeindruckt blondalternative, rastagelockte siebzehnjährige Mädels mit Erzählungen aus Thailand und Wackersdorf. Weder Plakate von Robert Doisneau noch total witzige Gegenstände trüben den angenehmen Gesamteindruck seiner Wohnung. Ja, wenn er wollte, könnte er sogar im Stehen pinkeln, jawohl ! Wen wundert es, daß ein kluger und kreativer Mensch in solch entspannter und friedvoller Lage seine Gedanken schweifen läßt und daß Erinnerungen und Episoden aus Jahrzehnten alternativen Lebens und Zusammenwohnens förmlich Schlange stehen, um aufgezeichnet zu werden ?

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1) zu diesem Problem sehr ausführlich : H. J. Kemmerer, Berlin und Göttingen als Störfaktoren im menschlichen Leben — unter besonderer Berücksichtigung Thailands sowie studentischer und anderer Wohngemeinschaften und deren BesucherInnen, Bremen, 1987
2) das gibt es zwar nicht, wird aber sehr schön beschrieben bei : H. J. Kemmerer »Fast schwanger« und andere Phänomene zwischen weiblichen Wünschen und männlichem Murren (Diss), Bremen 1976