Arrenaes

ein Ferienidyll von Ralf Grötker

     Die in den Arresø hineinragende Halbinsel Arrenaes, sagt Professor Matzig, ist eine kulturhistorische Schatzkammer. Wir, die wir an Außergewöhnlichem interessiert sind, lassen uns gerne von ihm zu einer kleinen Wanderung überreden.
     Viel anderes gibt es auch nicht zu tun an diesem Nachmittag. Zum Baden wird es langsam zu kalt, und außerdem haben der seit Tagen anhaltende Wind und die Flut größere Mengen stinkender Algen und vor allem Quallen an unseren Strand gespült. Es kann einem das Schwimmen schon verleiden, wenn es ringsherum glibbert.
     Lieber also mit Matzig zum Arresø. Den See selber kann man immer nur von weitem sehen. Eine gigantische Pfütze, die zwischen flachen Hügeln ihren ewigen Mittagsschlaf hält, geschützt durch einen breiten Schilfgürtel, der das Ufer umsäumt. Einmal nur sind wir bis ans Wasser vorgedrungen, und auch das nur, weil wir einen Yachthafen gefunden hatten. Von nahem zeigte sich der See als eine große, trübe, braune Plörre.
     Matzig kennt sich aus hier in der Gegend. »Auf den ersten Blick« — er unterbricht sich einen Moment und schaut uns durchdringend an — »sieht diese Landschaft vielleicht unberührt und natürlich aus. Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß alles von Menschenhand geprägt ist. Ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch«
     Hört hört, floskelt es mir. Petra grinst bestätigend. Steht ihr gut, das Schulterfreie.
     Wir haben das Auto auf dem Parkplatz für Wanderer stehengelassen und sind jetzt ganz in Besichtigungslaune. Matzig mit seinen knielangen Hosen und den Bergschuhen geht voran. Um uns herum die satten dänischen Lande und die Fliegen — die einzigen, die uns ihre Beachtung schenken.
     Nach einer Weile halten wir an. Sonnerup Skov, so erfahren wir, heißt die Gegend hier.
     »Und sehen Sie dort ?« Nichts sehen wir. »Wölbäcker« Ich strenge meine Augen an, denn Wölbäcker hätte ich nun mal doch gerne gesehen. Die aber hielten sich versteckt. Konnte etwa nur Matzig die Dinger sehen ? Deshalb vielleicht auch seine rätselhafte Ankündigung : auf den ersten Blick. Oder will er uns nur testen ? Aber dreist faßt der Halunke Petra an die aparte Schulter und zeigt noch einmal auf das, was nicht da ist.     
     »Diese Bodenwellen dort, die stammen von den Räderpflügen der Wikinger. Frühes Mittelalter. Ganz schwere Dinger waren das, und weil man die so schwer wenden konnte, haben sie immer eine möglichst lange Strecke gepflügt« Na schön, Matzig. Kannst uns vieles erzählen. Tut er auch.
     Die nächste Sehenswürdigkeit, die er für uns ausgesucht hat, ist ein mickriges Wäldchen. Er bleibt stehen — offenbar seine Art, dort, wo nichts ist, ein Hier ist etwas anzukündigen.
     »Das Holz« — und er zeigt in den Himmel — »wurde früher viel zum Bauen verwendet. Erst für Häuser, dann für Kriegsschiffe. Das war im 17. Jahrhundert — einer schlechten Zeit für die dänischen Wälder. Sie wurden damals fast alle abgeholzt, und was dann übrigblieb, wurde mit Steinwällen und Hecken umfriedet und die Bauern und ihr Vieh aus dem Wald vertrieben« Was hatten die auch im Wald zu suchen ? Aber besser nicht fragen.
     »Hier in Sonnerup Skov wurde so ein Schutzwall 1792 von General Classen errichtet — nicht nur zum Schutze des Waldes, sondern auch aus ästhetischen Gründen. Na ja. Sehen wir nachher« Er packt einen Ast.
     »Was hier interessant ist, das sind die Haselsträucher. Sträucher und Büsche — mehr blieb auch den Bauern damals nicht, als sie aus den Wäldern vertrieben wurden. Aber dann haben sie aus den Weidensträuchern Körbe und Zäune gemacht« Zäune — zum Wald einzäunen ?
     »Und Fässer« Klar.
     »Die Pulvermühle in Frederiskvaerk hatte beispielsweise einen großen Bedarf an Fässern, und wahrscheinlich wurde das Material für die Fässer hierher geholt« Historische Zusammenhänge begreifen.
     »Und dann gab es hier früher noch Lärchen. Für Schiffsmasten. Und Buchen; daraus hat man dann Mühlenzahnräder gemacht. Ja, und, äh : Faulbäume. Die waren für Holzkohle gut, also dann wieder für die Pulvermühle, wo man dann Pistolenpulver hergestellt hat. Peng, peng !« Mit irrem Blick richtet er seinen Finger auf mich.
     Wir gehen weiter durchs Gestrupp.
     »Aber früher kannten die Menschen auch schon den Erholungswert des Waldes. Da drüben« — das matzische Zeigen — »war eine Lysthusbakke, ein Lusthaushügel, wo sich die jungen Leute trafen, um sich zu vergnügen. Noch im letzten Jahr hat hier der Frederiskvaerker Schützenverein seine Pfingstfeiern abgehalten«     
     »So so. Lysthusbakke« Ich ernte ein dankbares Männergrinsen.
     Vorbei an »besonders gut erhaltenen Spuren des alten Kirchweges« geht es dann in Richtung der vielgepriesenen Hügelgräber. Als Matzig unerwartet stehenbleibt und zeigt, begreife ich. Dort, wo wir nach Hügeln spähen — »waren einmal die Hügelgräber. Jetzt sind sie leider alle zerstört« Tja.
     Der ungläubige Thomas : Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Matzig ist unser Prophet. Nicht die Landschaft, er ist das aufgeschlagene Geschichtsbuch.
     »Dreitausendfünfhundert Jahre !«
     »Ein Bronzedolch !«
     »Mit einer hölzernen Scheide !«
     Zum Schluß gibt es dann doch noch etwas zu sehen : Kühe. Schon eine Karte von 1794 verzeichnet die Kälberweide, Kallehave. Wenn die wüßten, auf was für einem kulturhistorischen Flecken sie hier grasen. Aber Kühe sind einfache Tiere. Die wissen nichts. Im Gegensatz zu Matzig. Aber viel nützt ihm das auch nicht. Nachher gehts nämlich zurück zum Haus. Mit Petra. Und da kommt er nicht mit, der Matzig.

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