Dokumente aus den Dunkelkammern religiöser Wahnideen ——

Die Affen rasen durch den Wald
Askona-Report Teil 2

Aus dem Kuriositäten=Kabinett Emil Szittyas
(nebst einem Anhange unseres berliner Korrespondenten)


VII.

     Unter die Interessanten der Kolonie gehörte eine Wiener Opernsängerin, Frau Langvara. In ihrer Gesellschaft fand ich den ehemaligen Erzherzog Leopold Wölfling mit seiner damaligen Gemahlin Vilma Adamowitsch ... Als er Adamowitschs Mann war, lockte sie ihn nach Askona, wo er ganz in die Kreise der Spiritisten und Vegetarier geriet, bis ihm die Geschichte schließlich doch zu dumm wurde, und er sich von ihr trennte. Das Gift, das er bekam, wirkte aber; in späteren Jahren (besonders während des Krieges) begegnete ich ihm häufig im Café des Westens (Berlin), wo er mit dem buckligen roten Richard in sehr engem Freundschaftsverhältnis stand. Wie man mir mitteilte, war es Richard, der ihn zum Memoirenschreiben und zum Kabaret verleitete.

VIII.

     Carlo Grässer, der mir sehr gewogen war, stellte mich eines Tages Frau Steindamm, einer Berliner Millionärin, vor. Nach der Begrüßung war ihre erste Frage : — »Glauben Sie an die Unsterblichkeit der Seele ?« Ich war leider damals Materialist und mußte verneinen. Frau Steindamm schaute mich eine Weile entsetzt an, war auf Grässer sehr wütend, daß er ihr einen sündigen Menschen vorstellte, besann sich aber sehr schnell und meinte, sie würde schon mich und meinen Materialismus kirre kriegen. Frau Steindamm hat mich zwar nicht zum Spiritismus bekehrt, aber trotzdem verdanke ich der Dame sehr köstliche Stunden. Ich kam durch sie zum ersten Mal in den sehr amüsanten Dschungel des Spiritismus. Sie war eine alte Dame von 50 Jahren mit viel sexueller Zurückgedrängtheit, wie mir schien. Sie hatte mit 19 Jahren einen um 25 Jahre älteren kränklichen Herrn geheiratet. Mit 30 Jahren, wo in den Frauen die reife Sexualität erwacht, teilte ihr auf einer spiritistischen Sitzung ein Medium mit, sie sei die Reinkarnation von Mozart. Einmal, als sie sehr guter Laune war, erzählte sie mir, manchmal spielten die bösen Geister ihr auch Schabernack. Einmal erschien auf einer spiritistischen Sitzung ein teuflischer Geist und sagte, sie sei die Reinkarnation eines teuflischen mittelalterlichen Arztes, der sich selbst benutzt hätte, und daraus entstand ihr Kind. (Also eine kuriose Dreifaltigkeit.) Ihr Mann war auf dieser Sitzung so eifersüchtig geworden, daß er sich von ihr scheiden lassen wollte, aber zum Glück wechselte man das Medium. Sie betete ein Vaterunser. Sie sagte schluchzend zu dem teuflischen Geist : »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, weiche !« — und darauf hörte man leise Sphärenmusik, Mozart erschien und sagte : — »Meine Tochter, das sind nur Versuchungen, die an jeden reinen Menschen herantreten. Du bist meine Reinkarnation.« — Das beruhigte dann auch Herrn Steindamm.
     Bei Frau Steindamm verkehrte immer eine ganz drollige Gesellschaft. Menschen, die fast alle eine gelbe, lederne Haut hatten, als ob sie Gelbsucht hätten. Ein Herr Schütze behauptete, daß er in jedem ixbeliebigen Augenblick auf einer anderen Ebene spazieren könne, wo er sich für die Menschheit von dem Adepten Befehle hole. Dieser Herr, der mit Exstasenworten vorgab, schon Gespräche mit Zarathustra, Laotse, Sokrates, Christus gehabt zu haben, wurde später, als ihn die Theosophie langweilte, Häuseragent, Redakteur eines Provinzblattes, in dem er oft die Verrückten von Askona geißelte und ihre Skandalgeschichten den sensationslustigen Lesern zum Nachmittagskaffee vorsetzte. Diesen appetitlichen Herrn sah ich während des Krieges als einen fürchterlichen Alkoholisten wieder, als er sich eben in einer Gosse mit einem Straßenweib zankte.
     Das merkwürdigste Wesen in der Gesellschaft von Frau Steindamm war die 92jährige Frau Dr. Paulus. Es ist eine durch das Alter ganz stumpfsinnig gewordene Dame, die sich aber für die Reinkarnation von Giordano Bruno hielt und außerdem die intimste Freundin der berühmten Theosophin Annie Besant war. Man nennt sie in Askona die Geißel der Sittlichkeit. Sie taucht bei jeder unsittlichen Tat auf (unsittlich sind für sie auch Alkoholtrinken, Rauchen und Fleischessen) und schmettert eine asketische Rede. Nebenbei ist sie aber auch deutschnational. Frau Dr. Paulus hat aber in Askona sehr viele Konkurrenten. Oft begegnete ich einem Herrn in langem weißem Hemd. An der Hand führte er zwei vollständig nackte Kinder. Lange Zeit konnte ich nicht erfahren, wer dieser mysteriöse Herr sei, bis ich ihn in der Gesellschaft von Frau Steindamm wiederfand ...
     Einer der reichsten Theosophen in Askona war ein österreichischer Leutnant Novak. (Dieser Beruf war kein Zufall, weil die kaiserlich-königliche österreichische Armee von jeher von Spiritisten und Theosophen wimmelte. Es war dies eine logische Folge der Aufzucht der österreichisch-ungarischen Aristokratie, die immer am Rande der Décadence spazierte. Z. B. soll Karls IV. Mutter eine ganz unheimliche Betschwester sein, um sich von ihrem Ehegatten, Erzherzog Otto, der ein leidenschaftlicher Alkoholist war, zu reinigen.) Novak war jahrelang ein verschwenderischer Mäcen Dr. Rudolf Steiners. Nicht nur, daß er alle Steinerschen Werke in Luxusausgaben in Pergament eingebunden besaß, sondern überall, wo Steiner Vorlesungen hielt, war auch Novak. Er gründete in verschiedenen Städten Österreichs theosophische Zirkel. In seinem Privatleben war der Herr Theosoph nicht so verschwenderisch, sondern ein unheimlicher Geizhals. Er ließ junge Künstler bei sich für 80 Centimes Taglohn Erdarbeit verrichten. Er erklärte diese Schmutzigkeit damit, daß er behauptete, der wirklich geistige Mensch müsse seine physischen Bedürfnisse auf das Minimalste herabsetzen. Er selbst war Rohköstler und lebte nur von Obst und Milch. Das Brotessen hielt er für eine hebräisch sündige Tat. Er errichtete in Askona einen theosophischen Bildungszirkel, wo Jahre hindurch über irgend ein Steinersches Werk debattiert wurde, um die darin befindliche Mystik zu ergründen. Als mit 40 Jahren die physischen Bedürfnisse in Novak erwachten, heiratete er die Tochter von Frau Steindamm (die Tochter ließ sich eigens zu diesem Zweck von ihrem früheren Ehegatten scheiden), und sie errichteten in Askona eine Pension. (Also alles endet doch mit Geschäft.) ...
     In Askona lebte ganz zurückgezogen ein russischer Baron Rechenberg. Er war ebenfalls Theosoph, nur mit dem Unterschied, daß er nicht Steiner, sondern Franz Hartmann für den Mohammed der Theosophie hielt. Der gute Baron hatte einen ziemlichen Hang zur Askese und behauptete, die Geister hätten ihm das Gehen verboten, und jeder wirklich religiöse Mensch müsse seinen Körper verfaulen lassen. Der Körper sei die Quelle der Sünde. Rechenberg schwärmte auch für den heiligen Lactantus, und unter dessen Einfluß sagte er mir sehr oft : — »Wissen Sie, daß Frauen töten eine heilige Tat ist ? Weil man dadurch die Quelle des Physischen tötet !« Da in Askona die Frauen die Hauptrolle spielten, so nahm man den asketischen Baron nicht nur nicht sehr ernst, sondern hielt ihn für verrückt und versuchte, ihn mit allerlei Schabernack aus dem heiligen Askona fortzuekeln. Man konnte eine so ungemütliche Konkurrenz nicht gebrauchen. Besonders Frau Dr. Paulus konnte ihn nicht verdauen.
     Die Askoneser Heiligen hatten eine unheimliche Plage mit den Rechenbergs. Den Bruder des Barons nannte man den leibhaftigen Satan, der (nach Ansicht der Askonesen) nur deshalb auf die heilige Ebene von Askona gekommen sei, um die aufrichtigen Kinder Gottes in Versuchung zu führen. Ich kann nichts dafür, aber ich fand, daß dieser Baron Rechenberg sehr sympathisch ist. Er war ein leidenschaftlicher Säufer, der wegen Delirium tremens schon einige Male im Irrenhaus gesessen hatte. Er hat sein Vermögen mit den verseuchtesten Weibern verbraucht. Er war durch und durch syphilitisch, aber er war trotzdem ein seelenguter Kerl. Die Heiligkeitssehnsüchtler mieden ihn, und nur sein Bruder vergötterte ihn, weil er ihn für das Symbol seiner Ideale des Faulens hielt. Irrte sich da der Anhänger von Lactantius nicht ? Wir glauben doch ! Das beste Beispiel für uns ist, wie der Rechenberg mit der deutschen Literatur in Verbindung kam. Ein Verwandter des jungen Rechenberg hinterließ eine Erbschaft, die dieser aber nur unter der Bedingung antreten konnte, daß er verheiratet sei und ein Kind habe. Dieses Geld reizte unseren Alkoholisten jahrelang. Es gab in der ganzen Umgebung Askonas keine einzige Osteria, wo er auf diese Erbschaft noch keine Schulden hatte. Darauf kreditierte man ihm in seiner Pension. Alle haben wir große Renten versprochen bekommen. Wir beratschlagten jahrelang, wie wir Rechenberg eine Familie beschaffen könnten, bis es sich endlich Erich Mühsam zur Pflicht machte, ihm eine Frau mit einem Kinde zu verschaffen. Das Opfer war die Schriftstellerin Gräfin Reventlow (eine in Deutschland sehr bekannte
Schriftstellerin). Sie brauchte Geld und heiratete darum den Baron Rechenberg; aber, wie es schon in derartigen Kinostücken Sitte ist, es gab im Testament eine Klausel, nach der sie die Erbschaft doch nicht bekamen, sondern ihr Sohn. Gräfin Reventlow schrieb darauf aus Grauen über die unangenehme Affaire einen Roman Geldkomplex. Ihr Sohn, der noch heute in Askona wohnt, soll nach ihrem Tode das Geld geerbt haben; aber da sich das Geld in Rußland befindet, wird er nicht viel davon haben.

IX.

... Es hat sicher eine psychologische Ursache (die ich hier nicht untersuchen möchte), weshalb Extremisten, Anarchisten, Theosophen, Vegetarier, Spiritisten, meistens einen Parallelweg gehen ... Der Vater der Askoneser Anarchisten war lange Zeit hindurch Dr. Raphael Friedeberg. Er war einst Arzt in Berlin und sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, bis er plötzlich die Bekanntschaft mit dem französischen Syndikalismus machte. Er war ziemlich konsequent, trat aus der Partei aus, legte sein Mandat nieder und schrieb die erste syndikalistische Broschüre Direkte Aktion in deutscher Sprache. Gründete die deutsche syndikalistische Bewegung (deren Führer heute Fritz Kater und Rocker sind). Friedeberg hatte Unannehmlichkeiten mit der deutschen Behörde und verließ seine Heimat. Ließ sich in Askona nieder, wo er eine Theosophin heiratete und Anarchist wurde. Eine Zeitlang hat er jeden Anarchisten, der in das Dorf kam, materiell unterstützt. Es lebte zeitweise eine ganze anarchistische Kolonie bei ihm. Meistens Menschen, die wegen ihrer Ideen verfolgt wurden (wie der Pyromane Blaschek), aber auch solche, die sich Anarchisten nannten, zu faul waren, um zu arbeiten und gerne auf Kosten eines gutsituierten Genossen lebten ...
     Zu den tüchtigsten Kerlen unter den Anarchisten in Askona gehörte die Scheideckerfamilie. Das war eine mysteriöse Gesellschaft. Robert Scheidecker war Züricher und von Beruf Zimmermaler. Er hatte etwas in Zürich ausgefressen und versteckte sich mit seiner Geliebten Christine in Askona ... Sie war ein ausgeprägter Wer-weiß-etwas-Typus. Keiner wußte, woher sie kam. Sie hatte kurz geschnittene schwarze Haare. Teuflisch leidenschaftliche Augen und eine unheimliche Angst vor Syphilis. Sie machte sich dadurch unter den Anarchisten beliebt und bekannt, daß, wenn irgend ein Kamerad eine Wohnung hatte und hungerte, sie ihn aufnahm, eine Zeitlang seine Geliebte wurde, ihn ernährte. Niemand wußte, von wo sie das Geld dazu herschaffte ... Als Robert Scheidecker aus Zürich flüchtete, verschaffte ihm Christine das Geld zur Flucht. Sie mieteten in den Bergen zwischen Askona und Ronco zwei Ruinenhäuser. Man fand bald eine ganze Kolonie bei ihnen. Lauter gut angeschriebene schwere Buben und Anarchisten. Wovon diese ganze Kolonie lebte, wußte niemand. Die Askonesen sagten sich, der arme Friedeberg muß sicher mit seinem Geld herhalten. Einmal kam an die Öffentlichkeit, daß die Geliebte des Bruders von Scheidecker in einem Spezereiladen bei Frau de Nicola in Askona Wäsche und sonstiges stahl. Da flüchtete sie nach Italien. Kurz nach dieser Affaire ließ die Polizei (die anscheinend mehr wußte, als
wir) mehrere Askoneser Anarchisten verhaften. Christine und Robert Scheidecker waren sehr geschickt und verdufteten schon früher. Später begegnen wir dem Herrn Zimmermaler als berüchtigtem Sacharinschmuggler (das ist schon immer eine Lieblingsbeschäftigung der Schweizer Anarchisten gewesen). Der arme Kerl hatte Pech (er war ein blasser blonder Jüngling, der wie ein dekadenter Dichter aussah) ... Scheidecker wurde in Reichenberg verhaftet. Als es sich herausstellte, daß er auch Anarchist sei, ließ man ihn ein halbes Jahr in Untersuchungshaft sitzen ... Scheidecker sah nicht nur degeneriert aus, sondern er war es auch. Er hatte von seiner frühesten Jugend an ein sexuell ausschweifendes Leben geführt. Der Anarchismus war bei ihm auch nur ein sexueller Reiz, und so ist es gar nicht zu verwundern, daß ein halbes Jahr Untersuchungshaft ihn gänzlich brach. Um sich aus dem Gefängnis zu retten, verriet er alle seine Kameraden, von denen er irgend ein Vergehen wußte. Ja, er log sogar noch einiges dazu. Es kamen dadurch einige Dutzend in der Schweiz lebenden Anarchisten ins Gefängnis. Darunter auch solche, die Freunde Scheideckers waren und ihm vollkommen vertraut hatten. Auch solche, die zu den anständigsten Menschen gehörten, denen ich jemals begegnet bin. Als man ihn später der Schweiz auslieferte, wurde er wahnsinnig und saß einige Jahre im Züricher Irrenhaus, wo er an religiösen Visionen litt. Christine sah ich zum letzten Mal in Paris, wo sie sich schwer darüber beklagte, daß sie endlich ein dauerndes Verhältnis hätte. Sie war die Geliebte von Bogiarski geworden, dem berühmten polnischen Syndikalisten, der von ihrem Verdienst in der Schweiz eine anarchistische Zeitung herausgab, sie dann mit vier Kindern sitzen ließ und eine reiche Frau heiratete. Selbstverständlich auch dem Syndikalismus den Rücken kehrte ...
     Der jetzt ziemlich bekannte deutsche Schriftsteller Emil Ludwig kam als Präraphaelit mit einer sehr schönen Frau, die sehr geschmackvoll gekleidet war, nach Askona. Der damals noch Herr Dichter kaufte sich am Strande des Lago Maggiore eine sehr schöne Villa, wo eine Zeitlang ganz romantische Feste arrangiert wurden. Man mietete Gitarrenspieler, die mit bunten Lampions über den See fuhren und alte italienische Lieder (die Ludwig ihnen einstudierte) sangen. Man saß sogar vor Grotten, und Ludwig erzählte Märchen oder Rudolf-Steinerisch-theosophische Legenden ... Die Dinge sind aber nicht ewig. Man hielt Ludwig für einen zu vornehmen Theosophen und hatte Angst, mit ihm zu verkehren. Als dann der Herr Dichter seine nettsentimentalen Feste auch mit Wein zu würzen begann, sagte man : — »Das kommt von der Vornehmheit. — Er beginnt, dem Teufel zu verfallen.« — (Merkwürdig, ich kenne nur wenig Theosophen, die im Geheimen nicht Alkohol trinken.) Und es ging dann immer mehr abwärts mit dem Präraphaeliten. Während des Krieges wurde er präraphaelitischer Journalist. (Es gibt kein Land, über das er nicht irgend einen Bericht geschrieben hätte. Es gibt keinen Menschen, mit dem er nicht irgend ein Interview gehabt hätte. Ich glaube, sogar mit Ludendorff.) Als die deutsche Revolution ausbrach, wurde er selbstverständlich auch präraphaelitischer Revolutionär und konnte es sich nicht schenken, auch ein präraphaelitisches Revolutionsbuch zu schreiben. (Um seine präraphaelitische Revolutionstüchtigkeit zu beweisen, ließ er sich vom Cottaschen Verlag in Stuttgart als präraphaelitischen Agenten nach Rom senden und verkaufte Kaiser Wilhelm-Randbemerkungen an die Zeitung Il Tempo. Was wollen Sie, aber die präraphaelitische Rückvertiefung muß immer kommen, und so schrieb der Präraphaelit zu guter Letzt ein präraphaelitisches Goethebuch ... Über das schlechte Bismarckdrama zu sprechen, ist hier überflüssig.

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