Die Ruine.
1919
Georg Simmel
Der große
Kampf zwischen dem Willen des Geistes und der Notwendigkeit der Natur
ist zu einem wirklichen Frieden, die Abrechnung zwischen der nach oben
strebenden Seele und der nach unten strebenden Schwere zu einer genauen
Gleichung nur in einer einzigen Kunst gekommen : in der Baukunst. Die
E i g en g e s e t z l i c h k e i t d e s M a t e r i a l
s in der Poesie, Malerei, Musik muß dem künstlerischen Gedanken
stumm dienen, er hat in dem vollendeten Werk den Stoff in sich eingesogen,
ihn wie unsichtbar gemacht. Selbst in der Plastik ist das tastbare Stück
Marmor nicht das Kunstwerk; was zu diesem der Stein oder die Bronze an
Eignem dazugeben, wirkt nur als ein Ausdrucksmittel der seelisch-schöpferischen
Anschauung. Die Baukraft aber benutzt und verteilt zwar die Schwere und
die Tragkraft der Materie nach einem nur in der Seele möglichen Plane,
allein innerhalb dieses wirkt der Stoff mit seinem unmittelbaren Wesen,
er führt gleichsam jenen Plan mit seinen eigenen Kräften aus.
Es ist der sublimste Sieg des Geistes über die Natur — wie
wenn man einen Menschen so zu leiten versteht, daß unser Wollen
von ihm nicht unter Überwältigung seines eigenen Willens, sondern
durch diesen selbst realisiert wird, daß die Richtung seiner Eigengesetzlichkeit
unsern Plan trägt.
Diese einzigartige Balance zwischen der
mechanischen, lastenden, dem Druck passiv widerstrebenden Materie und
der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit zerbricht aber
in dem Augenblick, in dem das Gebäude verfällt. Denn dies bedeutet
nichts anderes, als daß die bloß natürlichen Kräfte
über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen : die Gleichung zwischen
Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten
der Natur. Diese Verschiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus,
die für unser Empfinden jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt;
denn jetzt erscheint der Verfall als die Rache der Natur für die
Vergewaltigung, die der Geist ihr durch die Formung nach seinem Bilde
angetan hat. Der ganze geschichtliche Prozeß der Menschheit ist
ein allmähliches Herrwerden des Geistes über die Natur, die
er außer sich — aber in gewissem Sinne auch in sich —
vorfindet. Hat er in den anderen Künsten die Formen und Ereignisse
dieser Natur seinem Gebote gebeugt, so formt die Architektur deren Massen
und unmittelbar eignen Kräfte, bis sie wie von sich aus die Sichtbarkeit
der Idee hergeben. Aber nur solange das Werk in seiner Vollendung besteht,
fügen sich die Notwendigkeiten der Materie in die Freiheit des Geistes,
drückt die L e b e n d i g k e i t des Geistes sich in den
bloß lastenden und tragenden Kräften jener restlos aus. In
dem Augenblick aber, wo der Verfall des Gebäudes die Geschlossenheit
der Form zerstört, treten die Parteien wieder auseinander und offenbaren
ihre weltdurchziehende ursprüngliche Feindschaft : als sei die künstlerische
Formung nur eine Gewalttat des Geistes gewesen, der sich der Stein widerwillig
unterworfen hat, als schüttle er dieses Joch nun allmählich
ab und kehre wieder in die selbständige Gesetzlichkeit seiner Kräfte
zurück.
Aber damit wird dennoch die Ruine zu einer
sinnvolleren, bedeutsameren Erscheinung, als es die Fragmente anderer
zerstörter Kunstwerke sind. Ein Gemälde, von dem Farbenteilchen
abgefallen sind, eine Statue mit verstümmelten Gliedern, ein antiker
Dichtertext, aus dem Worte und Zeilen verloren sind — alle diese
wirken nur nach dem, was noch an künstlerischer Formung an ihnen
vorhanden ist oder was sich von ihr, auf diese Reste hin, die Phantasie
konstruieren kann : ihr unmittelbarer Anblick ist keine ästhetische
Einheit, er bietet nichts als ein um bestimmte Teile vermindertes Kunstwerk.
Die Ruine des Bauwerks aber bedeutet, daß in das Verschwundene und
Zerstörte des Kunstwerks andere Kräfte und Formen, die der Natur,
nachgewachsen sind und so aus dem, was noch von Kunst in ihr lebt und
dem, was schon von Natur in ihr lebt, ein neues Ganzes, eine charakteristische
Einheit geworden ist. Gewiß ist vom Standpunkt des Zweckes aus,
den der Geist in dem Palast und der Kirche, der Burg und der Halle, dem
Aquädukt und der Denksäule verkörpert hat, ihre Verfallsgestalt
ein sinnloser Zufall; allein ein neuer Sinn nimmt diesen Zufall auf, ihn
und die geistige Gestaltung in eins umfassend, nicht mehr in menschlicher
Zweckmäßigkeit, sondern in der Tiefe gegründet, wo diese
und das Weben der unbewußten Naturkräfte ihrer gemeinsamen
Wurzel entwachsen. Darum fehlt manchen römischen Ruinen, so interessant
sie im übrigen seien, der spezifische Reiz der Ruine : insoweit man
nämlich an ihnen die Zerstörung d u r c h d e n M
e n s c h e n wahrnimmt; denn dies widerspricht dem Gegensatz zwischen
Menschenwerk und N a t u r wirkung, auf dem die Bedeutung der Ruine
als solcher beruht.
Solchen Widerspruch erzeugt nicht nur das
positive Tun des Menschen, sondern auch seine Passivität, wenn und
weil der passive Mensch als bloße Natur wirkt. Dies charakterisiert
manche Stadtruinen, die noch bewohnt sind, wie es in Italien abseits der
großen Straße oft vorkommt. Hier ist das Eigentümliche
des Eindrucks, daß die Menschen zwar nicht das Menschenwerk zerstören,
daß vielmehr allerdings die Natur dies vollbringt — aber die
Menschen l a s s e n e s v e r f a l l e n. Dieses Geschehenlassen
ist dennoch von der Idee des Menschen her gesehen sozusagen eine positive
Passivität, er macht sich damit zum Mitschuldigen der Natur und einer
Wirkungsrichtung ihrer, die der seines eigenen Wesens entgegengesetzt
gerichtet ist. Dieser Widerspruch nimmt der bewohnten Ruine das sinnlich-übersinnliche
Gleichgewicht, mit der die Gegentendenzen des Daseins in der verlassenen
wirken, und gibt ihr das Problematische, Aufregende, oft Unerträgliche,
mit dem diese dem Leben entsinkenden Stätten nun doch noch als Rahmen
eines Lebens auf uns wirken. —
Anders ausgedrückt, ist es der Reiz
der Ruine, daß hier ein Menschenwerk schließlich wie ein Naturprodukt
empfunden wird. Dieselben Kräfte, die durch Verwitterung, Ausspülung,
Zusammenstürzen, Ansetzen von Vegetation dem Berge seine Gestalt
verschaffen, haben sich hier an dem Gemäuer wirksam erwiesen. Schon
der Reiz der alpinen Formen, die doch meistens plump, zufällig, künstlerisch
ungenießbar sind, beruht auf dem gefühlten Gegenspiel zweier
kosmischer Richtungen : vulkanische Erhebung oder allmähliche Schichtung
haben den Berg nach oben gebaut, Regen und Schnee, Verwitterung und Abfall,
chemische Auflösung und die Wirkung allmählich sich eindrängender
Vegetation haben den oberen Rand zersägt und ausgehöhlt, haben
Teile des nach oben Gehobenen nach unten stürzen lassen und so dem
Umriß seine Form gegeben. In ihr fühlen wir so die Lebendigkeit
jener Richtungen verschiedener Energien und, über alles Formal-Ästhetische
hinaus, diese Gegensätze in uns selbst instinktiv nachempfindend,
die Bedeutsamkeit der Gestalt, zu deren ruhiger Einheit sie sich zusammengefunden
haben. In der Ruine nun sind sie auf noch weiter distante Parteien des
Daseins verteilt. Was den Bau nach oben geführt hat, ist der menschliche
Wille, was ihm sein jetziges Aussehen gibt, ist die mechanische, nach
unten ziehende, zernagende und zertrümmernde Naturgewalt. Aber sie
läßt das Werk dennoch nicht, solange man überhaupt noch
von einer Ruine und nicht von einem Steinhaufen spricht, in die Formlosigkeit
bloßer Materie sinken, es entsteht eine neue Form, die vom Standpunkt
der Natur aus durchaus sinnvoll, begreiflich, differenziert ist. Die Natur
hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst
sich der Natur als ihres Stoffes bedient hatte.
In der Schichtung von Natur und Geist pflegt
sich doch, ihrer kosmischen Ordnung folgend, die Natur gleichsam als der
Unterbau, der Stoff oder das Halbprodukt, der Geist als das definitiv
Formende, Krönende darzubieten. Die Ruine kehrt diese Ordnung um,
indem das vom Geist Hochgeführte zum Gegenstand derselben Kräfte
wird, die den Umriß des Berges und das Ufer des Flusses geformt
haben. Wenn auf diesem Wege eine ästhetische Bedeutung entsteht,
so verzweigt sie sich in derselben Weise in eine metaphysische, wie die
Patina auf Metall und Holz, Elfenbein und Marmor eine solche offenbart.
Auch mit ihr hat ein bloß natürlicher Prozeß die Oberfläche
des Menschenwerks ergriffen und es von einer, die ursprüngliche völlig
verdeckenden Haut überwachsen lassen. Die geheimnisvolle Harmonie
: daß das Gebilde durch das Chemisch-Mechanische schöner wird,
daß das Gewollte hier durch ein Ungewolltes und Unerzwingliches
zu einem anschaulich Neuen, oft Schöneren und wieder Einheitlichen
wird — das ist der phantastische und überanschauliche Reiz
der Patina. Diesen bewahrend aber gewinnt die Ruine nun noch den zweiten
der gleichen Ordnung : daß die Zerstörung der geistigen Form
durch die Wirkung der natürlichen Kräfte, jene Umkehr der typischen
Ordnung, als eine Rückkehr zu der »guten Mutter« —
wie Goethe die Natur nennt — empfunden wird. Daß alles Menschliche
»von Erde genommen ist und zu Erde werden soll« erhebt sich
hier über seinen tristen Nihilismus. Zwischen dem Nochnicht und dem
Nichtmehr liegt ein Positives des Geistes, dessen Weg jetzt zwar nicht
mehr seine Höhe zeigt, aber von dem Reichtum
seiner Höhe gesättigt, zu seiner Heimat herabsteigt —
gleichsam das Gegenstück des »fruchtbaren Momentes«,
für den jener Reichtum ein Vorblick ist, den die Ruine im Rückblick
hat. Daß die Vergewaltigung des menschlichen Willenswerkes durch
die Naturgewalt aber überhaupt ästhetisch wirken kann, hat zur
Voraussetzung, daß an dieses Werk, so sehr es vom Geiste geformt
ist, ein Rechtsanspruch der bloßen Natur doch niemals ganz erloschen
ist. Seinem Stoffe, seiner Gegebenheit nach ist es immer Natur geblieben,
und wenn diese nun ganz wieder Herr darüber wird, so vollstreckt
sie damit nur ein Recht, das bis dahin geruht hatte, auf das sie aber
sozusagen niemals verzichtet. Darum wirkt die Ruine so häufig tragisch
— aber nicht traurig — weil die Zerstörung hier nichts
sinnlos von außen Kommendes ist, sondern die Realisierung einer
in der tiefsten Existenzschicht des Zerstörten angelegten Richtung.
Deshalb fehlt der an die Tragik oder die heimliche Gerechtigkeit der Zerstörung
geknüpfte, ästhetisch befriedigende Eindruck so oft, wenn wir
einen Menschen als eine »Ruine« bezeichnen. Denn wenn auch
hier der Sinn ist, daß die seelischen Schichten, die man im engeren
Sinne als naturhaft bezeichnet : die dem Leibe verhafteten Triebe oder
Hemmungen, die Trägheiten, das Zufällige, das auf den Tod Hinweisende,
über die spezifisch menschlichen, vernunftmäßig wertvollen,
Herr werden, so vollzieht sich damit für unser Gefühl eben nicht
ein latentes Recht jener Richtungen. Ein solches ist vielmehr überhaupt
nicht vorhanden. Wir erachten — gleichviel ob richtig oder irrig
—, daß dem Menschenwesen solche dem Geiste entgegengerichteten
Herabziehungen gerade seinem tiefsten Sinne nach n i c h t einwohnen;
an alles Äußere haben sie ein Recht, das mit ihm geboren ist,
aber an den Menschen nicht. Darum ist der Mensch als Ruine, abgesehen
von Betrachtungen aus anderen Reihen und Komplikationen her — so
oft mehr traurig als tragisch und entbehrt jener metaphysischen Beruhigtheit,
die an dem Verfall des materiellen Werkes wie von einem tiefen Apriori
her haftet.
Jener Charakter der Heimkehr ist nur wie
eine Deutung des Friedens, dessen Stimmung um die Ruine liegt —
die neben der andern steht : daß jene beiden Weltpotenzen, das Aufwärtsstreben
und das Abwärtssinken, in ihr zu einem ruhenden Bild rein naturhaften
Daseins zusammenwirken. Diesen Frieden ausdrückend ordnet sich die
Ruine der umgebenden Landschaft einheitlich, und wie Baum und Stein mit
ihr verwachsen, ein, während der Palast, die Villa und selbst das
Bauernhaus, noch wo sie sich am besten der Stimmung ihrer Landschaft fügen,
immer einer andern Ordnung der Dinge entstammen und mit der der Natur
nur wie nachträglich zusammengehen. An dem sehr alten Gebäude
im freien Lande, ganz aber erst an der Ruine, bemerkt man oft eine eigentümliche
koloristische Gleichheit mit den Tönen des Bodens um sie herum. Die
Ursache muß irgendwie der analog sein, die auch den Reiz alter Stoffe
ausmacht, so heterogen ihre Farben im frischen Zustande waren : die langen
gemeinsamen Schicksale, Trockenheit und Feuchtigkeit, Hitze und Kälte,
äußere Reibung und innere Zermürbung, Jahrhunderte hindurch
sie alle treffend, haben eine Einheitlichkeit der Tönung, eine Reduktion
auf den gleichen koloristischen Generalnenner mit sich gebracht, die kein
neuer Stoff imitieren kann. Ungefähr so müssen die Einflüsse
von Regen und Sonnenschein, Vegetationsansatz, Hitze und Kälte das
ihnen überlassene Gebäude dem Farbenton des denselben Schicksalen
überlassenen Landes angeähnlicht haben : sie haben sein ehemaliges
gegensätzliches Sichherausheben in die friedliche Einheit des Dazugehörens
gesenkt.
Und noch von einer anderen Seite her trägt
die Ruine den Eindruck des Friedens. Auf der einen Seite jenes typischen
Konfliktes stand seine rein äußerliche Form oder Symbolik :
der durch Aufbau und Einstürzen bestimmte Umriß des Berges.
Nach dem andern Pole des Daseins aber hin gerichtet, lebt er ganz innerhalb
der menschlichen Seele, diesem Kampfplatz zwischen der Natur, die sie
selbst ist, und dem Geiste, der sie selbst ist. An unsrer Seele bauen
fortwährend die Kräfte, die man nur mit dem räumlichen
Gleichnis des Aufwärtsstrebens benennen kann, fortwährend durchbrochen,
abgelenkt, niedergeworfen von den andern, die als unser Dumpfes und Gemeines
und im schlechten Sinne »Nur-natürliches« in uns wirken.
Wie sich diese beiden nach Maß und Art wechselnd mischen, das ergibt
in jedem Augenblick die Form unsrer Seele. Allein niemals gelangt sie,
weder mit dem entschiedensten Sieg der einen Partei noch mit einem Kompromiß
beider, zu einem endgültigen Zustand. Denn nicht nur die unruhige
Rhythmik der Seele duldet keinen solchen; sondern vor allem : hinter jedem
Einzelereignis, jedem Einzelimpulse aus der einen oder der andern Richtung
steht etwas Weiterlebendes, stehen Forderungen, die die jetzige Entscheidung
nicht zur Ruhe bringt, dadurch bekommt der Antagonismus beider Prinzipien
etwas Unabschließbares, Formloses, jeden Rahmen Sprengendes. In
dieser Unbeendbarkeit des sittlichen Prozesses, in diesem tiefen Mangel
abgerundeter, zu plastischer Ruhe gelangter Gestaltung, den die unendlichen
Ansprüche beider Parteien der Seele auferlegen, besteht vielleicht
der letzte formale Grund für die Feindschaft der ästhetischen
Naturen gegen die ethischen. Wo wir ästhetisch anschauen, verlangen
wir, daß die Gegensatzkräfte des Daseins zu irgend einem Gleichgewicht,
der Kampf zwischen Oben und Unten zum Stehen gekommen sei; aber gegen
diese, allein eine A n s c h a u u n g gewährende Form wehrt sich
der sittlich-seelische Prozeß mit seinem unaufhörlichen Auf
und Nieder, seinen steten Grenzverschiebungen, mit der Unerschöpflichkeit
der in ihm gegenspielenden Kräfte. Den tiefen Frieden aber, der wie
ein heiliger Bannkreis die Ruine umgibt, trägt d i e s e Konstellation
: daß der dunkle Antagonismus, der die Form alles Daseins bedingt,
— einmal innerhalb der bloßen Naturkräfte wirksam, ein
anderes Mal innerhalb des seelischen Lebens für sich allein, ein
drittes Mal, wie an unserm Gegenstand, zwischen Natur und Materie sich
abspielend — daß dieser Antagonismus hier gleichfalls nicht
zum Gleichgewicht versöhnt ist, sondern die eine Seite überwiegen,
die andere in Vernichtung sinken läßt und dabei dennoch ein
formsicheres, ruhig verharrendes Bild bietet. Der ästhetische Wert
der Ruine vereint die Unausgeglichenheit, das ewige Werden der gegen sich
selbst ringenden Seele mit der formalen Befriedigtheit, der festen Umgrenztheit
des Kunstwerks. Deshalb fällt, wo von der Ruine nicht mehr genug
übrig ist, um die aufwärts führende Tendenz fühlbar
zu machen, ihr metaphysisch-ästhetischer Reiz fort. Die Säulenstümpfe
des Forum Romanum sind einfach häßlich und weiter nichts, während
eine etwa bis zur Hälfte abgebröckelte Säule ein Maximum
von Reiz entwickeln mag.
Man wird freilich jene Friedlichkeit gern
einem andern Motiv zuschreiben : dem Vergangenheitscharakter der Ruine.
Sie ist die Stätte des Lebens, aus der das Leben geschieden ist —
aber dies ist nichts bloß Negatives und Dazugedachtes, wie bei den
unzähligen, ehemals im Leben schwimmenden Dingen, die zufällig
an sein Ufer geworfen sind, aber ihrem Wesen nach ebenso wieder von seiner
Strömung ergriffen werden können. Sondern daß das Leben
mit seinem Reichtum und seinen Wechseln hier einmal gewohnt hat, das ist
unmittelbar anschauliche Gegenwart. Die Ruine schafft die gegenwärtige
Form eines vergangenen Lebens, nicht nach seinen Inhalten oder Resten,
sondern nach seiner Vergangenheit als solcher. Dies ist auch der Reiz
der Altertümer, von denen nur eine bornierte Logik behaupten kann,
daß eine absolut genaue Imitation ihnen an ästhetischem Wert
gleichkäme. Gleichviel, ob wir im einzelnen Falle betrogen sind —
mit diesem Stück, das wir in der Hand halten, beherrschen wir geistig
die ganze Zeitspanne seit seiner Entstehung, die Vergangenheit mit ihren
Schicksalen und Wandlungen ist in den Punkt ästhetisch anschaulicher
Gegenwart gesammelt. Hier wie gegenüber der Ruine, dieser äußersten
Steigerung und Erfüllung der Gegenwartsform der Vergangenheit, spielen
so tiefe und zusammenfassende Energien unserer Seele, daß die scharfe
Scheidung zwischen Anschauung und Gedanke völlig unzureichend wird.
Hier wirkt eine seelische Ganzheit, und befaßt, wie ihr Objekt die
Gegensätze von Vergangenheit und Gegenwart in eine Einheitsform verschmilzt,
die ganze Spannweite des körperlichen und des geistigen Sehens in
die Einheit ästhetischen Genießens, das ja immer in einer tieferen
als der ästhetischen Einheit wurzelt.
So lösen Zweck und Zufall, Natur und
Geist, Vergangenheit und Gegenwart an diesem Punkte die Spannung ihrer
Gegensätze, oder vielmehr, diese Spannung bewahrend, führen
sie dennoch zu einer Einheit des äußeren Bildes, der inneren
Wirkung. Es ist, als müßte ein Stück des Daseins erst
verfallen, um gegen alle, von allen Windrichtungen der Wirklichkeit herkommenden
Strömungen und Mächte so widerstandslos zu werden. Vielleicht
ist dies der Reiz des Verfalles, der Dekadenz überhaupt, der über
ihr bloßes Negatives, ihre bloße Herabgesetztheit hinausreicht.
Die reiche und vielseitige Kultur, die unbegrenzte B e e i n d r u c k
b a r k e i t und das überallhin offene Verstehen, das dekadenten
Epochen eigen ist, bedeutet eben doch jenes Sich-zusammenfinden aller
Gegenstrebungen. Eine ausgleichende Gerechtigkeit knüpft das hemmungslose
Zusammen alles auseinander und gegeneinander Wachsenden an den Verfall
jener Menschen und jenes Menschenwerkes, die jetzt nur noch nachgeben,
aber sich nicht mehr aus ihrer eigenen Kraft heraus ihre eigenen Formen
schaffen und erhalten können.
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