Constantin François
Volney
1791
DIE RUINEN
ODER
BETRACHTUNGEN
ÜBER DIE UMWÄLZUNGEN DER
REICHE
Anruf
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Seid mir
gegrüßt, einsame Ruinen, heilige Gräber, schweigende Mauern.
Euch rufe ich an, zu euch richte ich mein Gebet. Ja, während der
große Haufe mit geheimem Schrecken vor eurem Anblick zurückbebt,
weckt ihr meinem Herzen tausend anziehende Empfindungen und Gedanken.
Wie viele nützliche Lehren, rührende oder erschütternde
Betrachtungen bietet ihr dem Geiste dar, der in euch zu lesen weiß.
Als die ganze unterjochte Erde vor den Tyrannen schwieg, riefet ihr schon
die Wahrheiten aus, die sie verabscheuen, und legtet, indem ihr Fürstenstaub
mit Sklavenstaub vermengtet, Zeugnis ab für den heiligen Lehrsatz
der Gleichheit. In eurem Schatten sah ich, ein einsamer Verehrer der Freiheit,
ihren Genius mir erscheinen, nicht wie ihn der unsinnige Pöbel sich
vorstellt mit Brandfackel und Dolch, sondern in der erhabenen Gestalt
der Gerechtigkeit mit der heiligen Wage in den Händen, auf der die
Thaten der Sterblichen an den Pforten der Ewigkeit gewogen werden.
O Gräber ! welche Kraft wohnt in euch
! Ihr schreckt die Tyrannen, ihr vergiftet durch geheime Angst ihre schuldbefleckten
Genüsse. Sie fliehen euren unbestechlichen Anblick, und fern von
euch tragen die Feigen den Stolz ihrer Paläste. Ihr straft den mächtigen
Unterdrücker, ihr raubt dem habsüchtigen Erpresser das Gold
und rächt den Schwachen, den er geplündert hat. Ihr gebt einen
Ausgleich für die Entbehrungen des Armen, indem ihr den prunkenden
Reichen mit quälender Sorge erfüllt, ihr tröstet den Unglücklichen,
indem ihr ihm eine letzte Freistatt bietet, ihr verleiht endlich der Seele
das richtige Ebenmaß von Kraft und Empfindsamkeit, das die Weisheit,
die Wissenschaft des Lebens, ausmacht.
Der Nachdenkende zieht in Erwägung,
daß er alles in euren Schoß zurückgeben muß, und
verschmäht es, sich mit leerer Größe, mit unnützen
Reichtümern zu beladen; er hält sein Herz in den Schranken der
Billigkeit und vollbringt seinen Lauf, indem er die Augenblicke seines
Daseins benutzt und die Güter gebraucht, die ihm bewilligt sind.
Auf solche Art legt ihr der ungestümen Begierde einen wohlthätigen
Zwang an ! Ihr stillt den fieberhaften Durst nach einem Genusse, der die
Sinne berauscht; ihr laßt die Seele von dem ermüdenden Kampfe
der Leidenschaften ausruhen; ihr erhebt sie über die niedrigen Vorteile,
die den großen Haufen quälen, und der Geist, der von euren
Höhen den Schauplatz der Völker und Zeiten übersieht, entwickelt
sich nur zu großen Gefühlen und empfängt nur gründliche
Begriffe von Tugend und Ruhm. O ! wenn der Traum des Lebens ausgeträumt
sein wird, wozu hätten denn seine Erschütterungen genützt,
wenn sie keine Spur des Nutzens zurücklassen !
O Ruinen ! ich kehre zu euch zurück,
um eure Lehren aufzufassen ! ich begebe mich aufs neue in den Frieden
eurer Einsamkeit, und dort, von dem niederschlagenden Schauspiel der Leidenschaften
entfernt, werde ich die Menschen in ihren Denkmälern lieben; ich
werde mich mit ihrem Glücke beschäftigen, und der Gedanke, es
beschleunigt zu haben, wird das meinige ausmachen.
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