Bernd Lüttgerding
In der Bleibe

Die Wache des Wachseins zur Nachtzeit, wo das
Geschehen sich entschwistert dem Tun, das
Mitsein sich verwandt macht dem Dazwischen
untunlicher Dinge...so lang zur langen Warte
man hier, zwischen Klipp und Meeresrand.
Lipp und Bechersrand, am Strand, und geschluckt
mußte es doch werden, denn alles muß immer
geschluckt werden.

Raoul Hausmann

Anja,
lange zwar haben wir nichts von einander —

Über die Dächer, erahnt im Schimmer letzten Blaus, heben sich morastige Wolken. Auf den Glockturm ragen sie schon herab und lassen seine Ziegelspitze, den ins alleinigste Allüberall weisenden Pfeil, schmächtig wirken. Unter dem Kegel tanzen zwei Zeiger zu Stunde, Jahr und Tag über spangrüne Ziffern hin.

Anja,
zwar ist viel Zeit vergangen seit —

Da nähern sich die Zeiger einander, da trennt sie nur noch ein Schritt, ein nadelfeiner Funke Schweigens vorm großen Ruf zum belanglosen, weil im Zwangslauf ständig wiederholten Abschied, da decken sie sich, werden eins, da zeigt schwingend die Glocke ihren Schlund, und der erste Schlag vollendet die Finsternis. Licht schwand schon früher als vortags. Ein Zweiter. Vögel erstarrten nach und nach als Leere — Drei. — die Himmelhülle zu durchscheinen begann. Vier. Nur eine verlorne Nachtigall färbt die Luft. Fünf. Wolken, morastig, ziehn ungehalten weiter. Sechs. Grillen kratzen dreist und emsig in den Hecken. Sieben. Ranken im Fenster des Schlafsaals, sein schwüles Innen, — Acht. — Kalkwände, Bettstellen und sitzender Menschschatten — Neun. —hielten lang noch letztes Violett. Zehn. Vielleicht ist zu viel Zeit vergangen seit — ? Elf. Was Abend war, fällt in die Nacht. Beim letzten Schlag hebt Anian die Augen auf. Schwach, wie kahle Inseln, spuken in zwei Reihen Bettstellen, umbrandet vom abgründig dunkelen Gang. Einen Schläfer birgt keine von ihnen; nur Anian sitzt auf der Kante seines Lagers am Rand bei der Tür und tastet nach Licht. Durch das Fenster fällt kühler Geruch. Als dann der Raum in Gelb erglüht, wirft eine Motte flinke Schatten. Er legt seinen Schreibblock zurück auf die Knie, nimmt klebendes Haar von der Stirn und aus dem Mundwinkel seinen Stift.

Anja,
lange zwar habe ich mich nicht —

Kleine Fliegen bekreisen die Lampe. Dauernder Schwirrton der Grillen. Die Nachtigall ist still geworden. Ein Hall von Stimmen auf der Straße. Und der Schlafsaal ist weit und schweigt in zäher Luft.

Anja,
kennst Du noch den Sommer unsrer Spaziergänge, es ist Jahre her ? Das weiße Gestein am Fuß der Kanalbrücke. Dein, mir feindlich gesonnener Hund hat gebadet. Nur kurz lag in der meinen Deine kalte Hand und gern abgewandt war Dein seeblauer Blick. Erinnerst Du Dich, wie schnell und schwer unser Abschied kam in diesiger Nacht ? Zueinander fanden nur unsere Tränen. Auf der Kanalbrücke machte ich halt. Die Bewölkung stand dicht über den Feldern. Spaßhalber kletterte ich ins Jenseits der Geländer um koppheister ins Dunkel zu stürzen. — Wir waren ja Kinder.

Grillenklang herrscht; er umgarnt die Ohren und kaum anderes Geräusch dringt zu ihnen als täubender Grillenklang. Die Stimmen draußen sind entfernter. Anian sieht um sich, gelockt von glitzernden Flaschen, die an den Fußenden einiger Betten stehn. Viele sind leer; in manchen aber deuten sich übrige Schlucke an. Nur wenig Wermut; mehr Korn, Kartoffel, Köm und Kranewitter, die unentbehrlichen Sicherheiten, die Kraft, klar und leicht jedwedes Erinnern zu überfliegen. Er steht nicht auf, zu prüfen, was er finde, sondern wendet sich wieder seinem Papier zu.

Fern aber und fort ist das. Man soll nicht nach Halt tasten in Vergangenem, denn dort tastet man vergebens. Und man soll nicht erwarten. — Ich erwarte nicht. Ich halte mich auf nun das zweite Jahr in einer städtischen Bleibe für Heimlose. Nahrung und Schlafplatz sind unentgeltlich. Dafür jedoch muß den Gästen ein einziger Schlafsaal genügen. Es ist schwer, allein zu sein, denn wenigstens ein anderer ist häufig da, hält seine Stätte besetzt und trinkt oder schläft. Rostige Blechschienen unter der Decke lassen vermuten, daß einmal Gardinen den Einzelnen abschirmten. Achselzucken aber beantwortete meine Frage nach Gardinen. Es ist schwer, allein zu sein. Die Insassen sind mir sämtlich fremd. Nicht weiß ich zu lachen über ihre Scherze, noch teile ich ihre Sorgen. Alle fügen sich den Gegebenheiten, wie man soll.
Ich füge mich nicht. Ich glaube zu ersticken, wenn sich in den frühsten Morgenstunden der Saal mit schweratmender Ruhe gefüllt hat. Dann bin ich unrastig, zappelig; mein Kragen würgt mich und die Federn brennen um mich her; ich rase, bedrängt von so viel sattem Frieden.
Am Ende jeden Monats macht der Angestellte des Gastfreundes seinen Rundgang, sieht nach dem Rechten und prüft Ordnung und Sitte. Der Gastfreund selbst zeigt sich nie. — Wozu auch ? Und der Angestellte macht seine Runden nur widerwillig, läßt sie gar ausfallen mitunter. Er fühlt sich abgestoßen. Auch ich fühle mich abgestoßen und ihm näher als den Heimischen. Für ihn aber bin ich einer von jenen und unsichtbar.
Nun jedenfalls schreibe ich Dir, um —

—, weil ich albern genug bin zu glauben, Du, die Du Dich meiner längst nicht mehr erinnerst, hättest einen Halt zu bieten, schreibt er nicht. Rückwärts sinkt er in die Matratze. Sein Blick verfolgt Kerbtierchen im Flug, die tickend, mit umschalten Leibern an die Zimmerdecke stoßen. Eine Mücke verrät sich. Der Stift, aufs Laken geworfen, verliert noch das Blut nicht gefügter Worte und mit knitterdünnem Laut gleitet Beschriebenes von den Knien zu Boden. Der Turm holt Luft und singt den Ton der ersten Stunde. Noch immer bebrüten die Tagesseufzer den Raum, denn erdige Frische, vom Fenster her, verbleibt bodennah. Langsam schiebt Anian seinen Kopf über den Pritschenrand um ihn stirnvoran dort hinein zu tauchen. Er blickt auf zum, scheinbar nun über ihm befindlichen Boden, schielt zur schwindelfernen Decke hinab; der Kleiderständer hindert einige Jacken daran, ballongleich empor zu steigen. Auch seinen Kopf, Blut und Hirn drängt es in vermeintliche Höhe. Keine Fessel mehr zwingt zum Grund. Nichts fällt mehr. Er steigt, entschlüpft der Enge, aufwärts gesogen und was steinern ihn band, bleibt ... weit ... zurück ... — Da bricht ein rauhreifweißer Schein auf die Dielen nieder, überwuchert das weiche Bettlampenlicht und schmeißt ihm einen hart geschliffenen Schattenriß ins Gesicht. — Der entwächst seiner Form, flackert zwischen Grellem und Schwarz, — der stürzt ihm entgegen und schreckgetrieben sitzt Anian aufrecht, ehe der gewöhnliche Schwindel wieder in seinen Schädel eingezogen ist. Über die Schulter hinweg starrt er leer, gehetzt, jäh erweckt, aber noch unverständig, vom rätselhaften, die überschaubaren Grenzen seiner Weltverlasserspielerei sprengenden Geschehen überrannt zur Tür. Dort steht umloht vom Korridor die greise Adorata mit der Klinke in der Hand. Sie sagt, ach mein Junge, wie immer : mein Junge, und du bist noch hier ganz allein ? Sie meint das, er weiß es, nur gut. Ist es die Störung in seinem Traumspaß, oder eine verstohlene Enttäuschung darüber, daß sich die Ursache seines Schreckens als etwas Bekanntes entpuppt, die ihn dennoch lediglich auffauchen und sich dann einfach, als sei alles wie zuvor, abwenden läßt ? Doch Adorata tritt heran. Auf wasserdicken Beinen schlurft sie, unsicher wie ein Aufziehpüppchen, um das Bett und nimmt neben ihm Platz. Und so steif, wie ein sommerlich Speisender das Verschwinden einer Wespe von seinem Mundwinkel abwartet, so steif wartet Anian, ohne zu wissen, wohin mit seinen zornigen Händen. Leise hat Adorata zu erzählen begonnen, doch er nimmt ihre Worte nur als wimmernde Altweibersommerfäden wahr, die ihm entgegen schweben und an ihm kleben. Mit ihrer Hand, die der Herbst schon beinahe verlassen hat, klopft sie zart den Takt auf seinem Schenkel und spricht dazu von Last und Freud gegangener Tage, von Obhut, Qual und was blieb. Gelegentlich zupft an dem, aus vorjährigem Laub gemachten Mund ein abwesendes Lächeln; stier blickt sie in unbestimmte Ferne und stier blicken auch die Löcher in ihrer rosanen Strickjacke vor sich hin. Über der trägt sie jetzt im Sommer einen Mantel aus gestrengem Sterbedampf, der jede ihrer Gebärden umspielt. Etliche Jahre haben an ihrer Haut gezerrt und ihren Geist verwohnt und gänzlich zerknüllt werden sie sie fallen lassen. Adorata wendet sich Anian zu, als wolle sie sich seiner Teilnahme versichern. Doch er springt plötzlich auf, stürmt an ihr vorbei mit zusammengezogenen Brauen, — er hielte sich die Augen zu, wäre dies nicht eine zu aufwendige Geste — stößt an einen Bettpfosten, flucht und schließt die Tür hinter sich laut. Während all dessen hat Adorata reglos verweilt, die kalke Wand angesehen und ihre Hand hängt, nachdem der Schenkel geflohen war, noch einen Moment lang über der Restwärme, die weniger werden will und ihrem Herrn hinterher. Erst als Tür und Zargen sich wieder in einander klammern, sinkt die Hand. Anian hastet durch den muffigen Flur, über den Estrich der kleinen, trotz einiger Wandlampen dämmerigen Vorhalle nach draußen. Vor dem Eingang hält er an, schaut in den mittlerweile völlig verhangenen Himmel und atmet auf. Ein Garten umgibt die Bleibe, begrenzt von einem einfachen, niedrigen Maschendrahtzaun. An einer Stelle ist er heruntergetreten, um den heimkehrenden Anwohnern mühseliges Pfortenöffnen zu ersparen. Ein Trampelpfad von dort bis zur Haustür bezeichnet die häufigen, immer gleichen Gänge. Im Vorgarten ist nur Gras geduldet, über dem sich das Gebäude in seiner ganzen, verwittert-verworfenen Gestalt erhebt. An den Seiten und im Hintergarten aber wuchert ungehemmt alles, was der Zufall sät, vornehmlich Holundergestrüpp. Dorthin geht Anian. Unterwegs erfrischt er sich bei der Regentonne und findet dann an der Seitenwand, unter einem Holunderstrauch, halb von einer Straßenlaterne beschienen, die Bank. Er setzt sich und betrachtet, was die Laterne der kräftigen Nacht entreißen kann. Weit entfernt, hinter einer Straßenbiegung, zersplittert eine Flasche auf Asphalt. Gröhlen folgt nach. Die Glocke im Turm schlägt zwei Mal. Es raschelt und schnauft in einem Busch, — aber das ist nur ein Igel; er kommt hervor, huscht am Licht vorbei und geht unter. Aus den Wolken stürzt ein einzelner Tropfen unbemerkt herab auf seine Schulter. Nichts regt sich. Er habe einen Brief bekommen, träumte ihm in der vergangenen Nacht. Zwar konnte er die Zeichen auf dem Papier erkennen, sie aber nicht entziffern. Er wußte, um den Brief lesen zu können, müßte er die Augen öffnen; dann jedoch wäre er wach und der Brief verschwunden. Er denkt nicht mehr an diesen Traum. Nichts regt sich. Schwer steht die Luft im Garten. Da, miteins, werden die Stimmen lauter. Unter der Laterne erscheint ein heiterer Pulk und stolpert ohne Zögern weiter den Zaun entlang. Niemand bemerkt ihn.
Stünde er auf und schliche durch den Bewuchs, könnte er hinter dem Hauseck hervor beobachten, wie fünf oder sechs Gestalten die tiefe Verbeugung des Zaunes übersteigen; vorneweg ein großer Gebückter, der sein Kichern begeistert aus schweißglitzerndem Gesicht herausstößt. Ein Folgender trägt die Flasche. Ein Mädchen dreht sich zurück, findet bei ihrem Partner einen Kuß und bettelt dann lustig um einen Schluck. So ungestüm wird ihr die Flasche an den Mund gesetzt, daß funkelnd an ihrem Kinn herab und kalt und klar rinnt der totgeborne Traum von Leichte.
Er steht auf und schlendert durch den Bewuchs. Als er aber die Ecke erreicht, sind die Leute schon im Innern der Bleibe verschwunden. Wieder dringen Stimmen gedämpft zu ihm. Diesmal von dort. Über die Dächer fährt eine Bö und auf rauschen die Birken am Straßenrain. Das Holunderwäldchen, vom Haus geschützt, bleibt ruhig. Zurückgekehrt, findet er seine Bank besetzt. Das Mädchen, das sich dort mit ihrem über die Lehne gebeugten Partner unterhalten hat, strahlt dem Ankömmling entgegen und lädt ihn gleich ein, indem sie zierlich, mit flacher Hand neben sich auf die Latten klopft. Als Arsene stellt sie sich ihm vor und rückt heran. Armin, der lichtfern im Hintergrund wartet, nickt ihm kurz zu; sie kennen einander aus dem Schlafsaal. Sie sieht Anian unverwandt an, stellt eine Frage, die er nicht versteht. Überwältigt von so schnell ihn einnehmender Gesellschaft findet er, der nur mühsam Wege bahnt im eigenen Wildland, sich nicht zurecht, Auf sein Bein legt sie ihre kleine, empfindlich weiße Hand. Drei bronzene Schreie sendet die Uhr. Ihre Augen sind weit; Anian wagt nicht, hinein zu blicken. Erneut fegt ein Wind durch die Straßen. Dann beginnt es zu regnen. Der erste, starke Guß, der binnen kurzem die drei Gestalten bis auf die Haut durchnäßt, so daß sie garnicht erst versuchen, sich in Trockenheit zu bringen, wandelt sich bald in einen Sprühregen, lau und staubfein. Ein Donnern kann sowohl himmlischen Ursprungs, als auch der unruhig schlafenden Stadt entfahren sein. Zu kleinen, schwarzen Schlangen hat das Wasser Arsenes Haar verbunden. Tropfen vollziehen die Linie ihrer Wange; einer hängt an ihrem Ohrläppchen. Die Stirn, die helle Stirn hat sie kindhaft mit dem Handballen von Haaren befreit. Tropfen gleiten an ihrem Kinn herab. Dann lächelt sie. Ihre Zähne blinken feucht. Anian schwankt, will sie ansehen, macht aber nur eine unschlüssige Bewegung mit dem Kopf. Sagte er etwas, erzählte er, anstatt bloß zu beobachten, wie seine dumme Hand auf dem nassen Knie herumwischt, von den letzten Stunden, von dem Brief, den er schreiben wollte und wie ihm dieser Abend, ähnlich allen davor, zusetzt; beschriebe er ferner, ins Reden gekommen, was im Vergangenen die Bleibe ihm beschert hat : die ofenheißen Winterabende im Dunst erzwungener Geselligkeit, den silbernen Nachmittag im Vorfrühling, der das Wanderblut reizte, doch zu kühl war für eine Flucht. Und endlich dieser Sommer, belastet, wie schon der vorherige mit dem Versprechen, etwas werde sich ändern. Dabei ändert sich nichts — Armin würde von hinten an ihn herantreten, was für eine Veränderung er sich denn wünsche. »Ein Dach«, würde er sagen, »schützt dich vor Witterung, eine Küche versichert Sättigung und Erholung verspricht dir allnächtlich das eigne Bett. Keine Not so stark, daß sie dich niederreißen könnte. Hier ist Verlaß letztendlich, selbst wenn viel zerbricht, auf den Gastfreund. Der hält uns alle und trägt Sorge für uns. Und ist dein Allein dir zuwider, so schließ dich uns an, wenn wir ausgehn zur Nacht — oder besorg dir einen Hund«
Nichts dergleichen geschieht. Keins dieser Worte wird gesprochen. Anian schweigt. Er sitzt unbewegt und gekrümmt. Arsene streichelt seine Schläfe, vergißt auch nicht, ihm etwas mütterlichen Kummer um die Schultern zu legen.
»Sei vernünftig. Komm rein mit uns« sagt sie heiser, und dann zu Armin : »Ich glaube, er schläft«
»Mir wird kalt. Laß uns gehn«
»Aber sollten wir ihn nicht ... ?«
»Ach was. Der wird schon von selbst kommen. — Na los«

*

Es regnet nicht mehr, Über den Dächern fliegen Stücke von Wolken im Morgenwind. Ein früher Sonnenstrahl setzt sie in Brand. Und Birkenlaub wimpelt im Morgenwind. Die Taube, wie immer, ruft zur Ruh, zur Ruh. Spinnengewebe sind tauperlenbehängt. Morgenwind kräuselt die Pfützen auf der Straße. Unterm Holunder, an der Bleibe, steht eine Bank. Sie glänzt vom Regen der Nacht. Nichts bleibt, wie es war. Über nasses Haar streicht Morgenwind.

***