Auszug
aus
Almatastraße,
Teil III
I
Auf der Domtreppe. Dann versucht,
unter die Räder zu kommen. Statt dessen sah ich einen älteren
Mann durch leichten Regen streichen. Er trug steuerbord in Cellophan geschlagen
ein aufgerolltes Formular, kam vor mir zu stehen, reckte den rechten Arm
und schüttelte ihn konvulsivisch. Damit er wohl meinte, den Dompredigern,
die in Gestalt ihrer gedruckst an die Domwand gehauenen Statuen die Szene
bevölkerten, zu fluchen. Deutlich erkannte ich in der verwünschenden
Hand den blaßgrünen Antrag auf Lohnsteuerjahresausgleich. Stärkerer
Regen dann. Ich trollte mich.
Doch eine Flasche Bongeronde, viertelvoll, die mit einem
Wackerstein beschwert im Neptunbrunnen lagerte, inspirierte mich. Ich
erwarb in der Horten-Schlemmerzone eine unbenutzte, ferner ein halbes
Baguette und einen netten Weichkäse, den mit Pfaffenemblem drauf.
Wieder Domtreppe. Jemand stieß die schweren Flügeltüren
auf und sprang mich von hinten an. Wer hätts gedacht : ein Japaner
: »Would you please be so kindly...« Ich vermied es, den Asiaten
ausreden zu lassen. Per Blick strafte ich sein Lächeln ab, hob aber
dann doch zu einem Rundumschlag die Arme halbrechts, »Stadtmusikanten«,
geradeaus »Böttcherstraße«, scharf links »Schnoor«
Überreich der Tag. Ich trollte mich endgültig.
Den Rest Tafelwein an einen Berber, der stilecht an
Altensteins Monument campierte, ein bescheidenes offenes Feuer anhand
von Reisigzweigen unterhielt und einen kleinen Weltempfänger betrieb.
»Fürs Depot« — »Die Firma dankt«
II
= pythagoreisch für Fixsternhimmel, via lactea Milchstraße
Hödel, Hodel frz con,
Schnecklein, weibliche Scham callibistrae
farfadets Tückebolde Momus, Gott des Spottes und des Tadels
& des Rhetoriklehrstuhls in Tübingen
CANIDIA und SAGANA Zauberinnen bei Horaz EpV
AD METAN NON LOQUI 422 (1122 ?) testiculos non habet
Semiramis´ Beischlaf mit einem Pferd (R7OO ? 2700 ?)
Vorletzte Nacht erhaben über
Bremen gethront und durchwacht — brave Stadt. Bißchen lächerlich,
wo sie bemüht ist, nach den Spätnachrichten nicht zu schlafen
aber Nachtleben auf die Beine zu stellen. Bunte Lichter, mal flakkern
sie dort auf ... oder dort ... Kneipen im Lindenhof ... kleine Geschwister
meiner Wohnbatterie ... andere Seite die Gartenfeste auf den Parzellen
... Wohlwollende Menschen hatten mir einst empfohlen, alles, was je ich
begänne, mit Spaß zu tun. Tatsächlich tu ich nichts aus
Spaß. Sondern mich die Nacht daran gewagt, alte Exzerpte ins Reine
zu schreiben. Meine Ausfallerscheinungen verlagern sich immer weiter nach
vorn, sie wachsen in immer Früheres — ich kann buchstäblich
nicht mal mehr mich selbst lesen.
Heute aus den Briefkästen fünfter Stock die
Zeitung zum Kaffee gewildert. Der erste, der hier die taz hält. Ich
war dem charmanten Photo auf dem Titel erlegen. Amerikanische Ranger hatten
ein gutgetroffenes Porträt geschossen : der gefesselt-grinsende Milizchef
der Rhesusäffchen am Kap Horn.
Milky-Way-Brotaufstrich — äß ich einfach
zu viel von. Auch nährts meinen Argwohn, wenn eine Werbebotschaft
sich mir plausibel macht. Von wegen des Gebuhles, der anschaulichen 30
% mehr im Bottich — jetzt mehr ! Schlimm, daß sich
diese Strategie ungestraft fährt. Denn die, die zu fragen gewagt
hatten ›warum nicht schon früher und nicht noch mehr Prozent
mehr‹, die sitzen jetzt mit gebrochenem Handgelenk in einem
stacheldrahtbewehrten Zentralstadion, kenn ich doch.
Diesen Hinweis verdank ich Clemens — fair geht
vor. ›Genie in der Werbung‹ gedeiht prächtig. War nicht
unbedingt zu erwarten. Zumal viele Steine sich selbsttätig in Clemens´
Weg rollen. Auch greifen die Intrigen zur Gründung der Fakultät,
die seine Diss annimmt, nicht recht. Seltsam beglückend, die Gesellschaft
eines überlegenen Geistes genießen zu dürfen — wenn
der Große dem Geringeren mit einem Leuchten in den Augen für
die Bemerkung dankt : »Sag mal, hast du schon die absteigende Tonfolge
im elfengesungenen Jingle Vesir Ultra, äußerst günstig
krisenzyklischer Analyse unterzogen ?«
Käpt´nNuß zu labbrig, Nutella zu sehr
mit rotbackigen Erinnerungen behaftet. Was eine Zeit, als in Mamas Küche
noch Unmündigkeit regierte ! Und das viele Eisen und eklig knackige
Knabenwangen davon, wie ich sie nicht mal nach einem halben Dutzend Schlittenpartien
aufwies in Wintern, die noch welche waren, und die nicht mal mein Vater
mir verschaffen konnte, und der tat doch was er konnte und prügelte
mich täglich die Schneekoppe rauf und runter. Deswegen surf ich nicht
besser — aber mit Nutella bist du einfach besser drauf.
Und zur guten Konfitüre langts meist nicht : diese
leckre britische, versetzt mit bittrer Orangenschale. Vielleicht das wahre
Unglück meines Lebens.
Also ich, Hansawelle an und mit Großer Geste,
vorm Katzentisch vom Sperrmüll : die angetrockneten Marmeladentöpfe
ins Aus gewischt. Die Kambriumkrumen aus Harrys Guter Brotfabrik,
die meine Handkante in einem Aufwasch gleich mitfegen wollte, verschwanden
entweder in den Canyons der Platte, bildeten ein Überhangmandat an
der Tischkante oder blieben an der Haut kleben. Was sie auch taten, die
hohle Hand, die unterm Tischrand wartete, ging leer aus. Anyhow, dann
doch : war sauber, war Platz. Dann Anzeige entworfen. Leichter Hand. Ich
bin nur unschlüssig, ob ich sie in einem bremer SzeneBlatt schalte
oder im Zentralorgan des DIHT. Wie in allen eroticas werd ich des todsicheren
Indikators Clemens Schiedsspruch abwarten und dann mit gutem Gefühl
in etwa zum genauen Gegenteil greifen. Text vielleicht:
Du, Komma, neulich, Du eine Sylphide,
ein Salamanderweibchen im Großen Aldi Utbremen, Heinrich-Köselitz-Straße,
wo´s noch den klasse Camembert aus wärmebehandelter H-Milch
gibt. Schmeckt wie gezuckerter Samenerguß, gemolken aus süßmodriger
Leiche. Du eine aberrante Wirbellose im Discounter. Viele Segmente ringelten
vor Kassen kurz nach sechs und vier dickbäuchige Flaschen Mineralwasser
irgendeines Vogesenquells rollten in einem flachen Karton, auf den aber
von außen holländische Wassertomaten gemalt waren. Du trugst
diesen Karton. Dein Haar war gezündelt im Burgunderrot der Fieberräusche
Rimbauds. Wir haben uns exakt nicht angelächelt.
Drei Kassen, drei Wurmfortsätze.
Im ersten hielt sich wacklig zwischen Süßwaren,
vergittertem Tabak und Laufband eine Sklerose in den besten Vierzigern.
Ihr war ein Glas rubinroter Kirschen vom Band gesprungen. Sie erheischte
Verzeihung vom Publikum und gab dazu umständliche Berichte aus der
Welt ihrer Krankheit. Und weil sie weder auf Aldis Einrichter schimpfte
noch offen die Ideologie der reibungslosen Abläufe verachtete, geschah
ihr schließlich, was sie wollte : man war nachsichtig, trotzdem
der kandierte Saft mit Farbstoff und Splittern die Abfertigung verschleppte.
»FREULEIN DÖHNKEN, KOMMSDU MA ? UN BRING FEUDEL MID SCHIPPE
MID, NÄ !«
Ob´s damit zu tun hatte, daß mich die mittlere
Kasse strikte ausspie ? »HIER NICH MER, SIE DA IM GELBEN, HIER NICH
MER, GEHN SIE BIDDE EINS WEIDER«
— Du kennst mich noch nicht so gut, aber glasklar
: zuerst tat ich so, als hörte ich nicht. Bin ich der, der einsieht,
daß die Zäsur wieder mal mit ihm gesetzt wird ? Bin ich der,
dessen Leben ist, stets als der Eine Erste im ungezählten Strom der
Menschkörperchen von einer errötenden Ampel gestoppt zu werden
? Und wenn ich´s wär : ich begehrte auf ! Hier aber flüchtete
ich noch in eine List. Ich pflückte ein Taschenbuch, eine kataklyme
Studie über die IngeborgBachmann-Festspiele, und versank mich : ein
ungefähr Neunter in der Reihe. Bis zuletzt gab ich vor, zu konzentriert
zu lesen, als daß ich die wiederholt ausgestoßenen Aufforderungen,
doch anderswo um Bezahlendürfen zu bitten, hätte wahrnehmen
können. Auf deutsch : auch ich bettelte um Mitleid. Bloß :
ich trag den Ekel auf der Stirn und mich zwang man anzuerkennen, daß
den Moment, da mein Pud Nudeln kassiert werden wollte, das Transportband
nicht mehr lief. Der Goldkettchenträger vor mir grabbelte schon am
Ausgang nach Kartons, die Flaschen Campari und Cinzano zwischen die Oberschenkel
gepreßt. Die Oberschenkel ihrerseits waren in eine Jogginghose gefaßt,
die schlapp unterm Bauch geschnürt damit drohte, mindestens eine
Schachtel Lord extra light aus der Flankentasche zu verlieren —
ein kitzliges Spiel, von dem meine Aufmerksamkeit abzulenken erst der
Kassiererin gelang, die mit finaler Entschlossenheit den Kassenschlüssel
umdrehte und aufstand. Ich schaute mich um : hinter mir war schon gar
keiner. Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen, hast Du´s
auch mal gelernt ? Ich aber schwankte, wie ich mich am schicklichsten
empören sollte, ein schüchternes »Das ist doch nicht Ihr
Ernst« oder ein —
— just da ... starrte ich viel lieber auf Dich
als Letzte in der Schlange rechts, wechselte flugs in Dein gefärbtes
Haar, Dir in Deinen freizügigen Nacken und zählte die handvoll
Hitzepickelchen. Deine Achselhaare glänzten schwitzig, fascesweise
lugten sie hervor, kleine saftige Ruten aus Speckfältchen. Ich schnupperte
nach Dir. Du mußt wissen, das ist mit die älteste Schicht,
die die liebe Evolution in uns übrigließ. Damit wir was zum
Nachdenken haben. Eins der wenigen Dinge, die ich dann doch gern tu. Für
einen Moment, als am Eingang eine Kolonne Handwerker durchs Drehkreuz
flirtete und Zug war, gelang´s. Das war nicht überwältigend
— so bitteschön hat die Frau meiner Träume nicht zu riechen.
Aber Dich mochte ich darum nur noch mehr. Hinter uns stauten sich flachsend
die Brandflecken in Blaumännern und Tätowierungen auf Unterarmen.
Ich studierte den Kragen Deines pechschwarzen Shirts. Es schwärmte
von Dir. Zwar bin ich nicht vom Fach, aber hätte doch geurteilt :
sauber. Auf Deine Stimme war ich sehr gespannt. Ich dachte mir, sie müßte
kommen, als es für Dich ans Zahlen ging. Doch Du bliebst stumm. Bravo.
Du wirst auch stumm und klaglos sterben — soviel ist mal sicher.
Du Schöne ! Die Elende, die wagte, Dir Geld abzunehmen, diese Vettel,
unterließ es nicht, mir dann das Wechselgeld möglichst langsam
auszuzahlen und dabei meine feuchte Handfläche zu berühren.
Das Vorrechnen von Pfennigbeträgen dauerte, bis Du draußen
warst — entschuldige ... ich bin Dir nicht nachgerannt. Entschuldigung
auch bei all unsren ungezeugten ungebornen Kindern. Meinst Du, ich darf
Dich da wiedersehen wollen ? Ich weiß nicht. Was ich weiß
ist, daß ich die Kassenmatrone wiedersehen werde.
Ich bin sehr traurig.
III
Clemens ist doof. Er hält mich
für einen bösen und perversen Menschen, der nur gucken will,
sich aber das Kleingeld auszahlen läßt. Ist zwar was dran —
aber mir deshalb ohne Zögern zuzuraten ? Morgen werde ich ihn noch
einmal fragen — wenn er ganz bei der Sache ist und nicht damit beschäftigt,
eine Fotoserie über beschädigte Plakatwände in Obervieland
auszuwerten.
Ich verließ Clemens mittags. Mittag ist die dürre
Zeit des Tages — es ist, als setze der Höhepunkt von Sonne
und Zeigern die Unleidlichkeit der Menschen ins Quadrat. Mittags ist die
Schminke zerflossen, ist mehr wahr. Andre Tageszeiten lassen sich gern
durch die Phantasmagorien der Gefühle besetzen und mühlos überdecken.
Mittags ist auch die Luft am dünnsten. Ich selbst bin mittags ängstlicher,
unentschiedener, einsamer. Mittags ist Engadin und gut philosophiern.
Aber das macht Philosophie ja so albern : das sie Ausnahmezeit, Auszeit
voraussetzt und sich methodisch nie damit begnügen kann, wenn schon
nicht in Handeln, dann wenigstens in Ethik aufzugehen.
Mittags stakste ich Clemens´ Treppenhaus hinunter,
mied das wacklige, elephantenkotgekittete Geländer und grüßte
mürrisch winkend die Plastiktüte. Plastiktüten grüße
ich immer. Diesmal war sie von Comet und der blaue Aufdruck an einigen
Stellen schon abgeplatzt. Die Tüte war über der Frau, die über
Clemens wohnt. Diese Frau, von der sonst nur bekannt ist, daß sie
Ratten aus dem Fenster schmeißt, Sozialarbeiter nicht über
ihre Schwelle läßt und pünktlich jeden Morgen sechs Uhr
einem unwiderstehlichen Brechreiz Folge leistet, diese Frau weiß
sich, wer im Haus ihr auch wo begegnet, stets rechtzeitig eine Plastiktüte
übers Gesicht gezogen zu haben.
Ist das klug ?
Die meisten Menschen schätzen den Mittag. Da gibts
Futter, da ist Pause. Ich ahne nur, wie sehr beides zum Fürchten
gedacht ist. Ich schätze den Mittag nicht. Er ist anstrengend und
viele Geschäfte haben dicht. Er ist optimistisch, er überredet,
man möge doch froh sein, die Hälfte schon geschafft zu haben,
und während er mit spitzem Licht so daherparliert, spritzt er lähmendes
Gift. Und will man trotzdem über ihn nachdenken, so brennt er und
verwirrt vollends die Gedanken. Ich hab dem nichts entgegenzusetzen.
Trotzdem trat ich aus diesem Speicher für Wahngebilde
heraus und mich wehte in des Mittags Helle aus einem Winkel der ewignässenden
Eingangsüberdachung ein schönes Bild für Erlösung
an : eine von Natur magere, langbeinige Spinne. Verhungert. Ich muß
mir selbst hier von etwas Neuem sprechen. Von Windbestattung. Dieser Leichnam
mit acht eingekrümmten Beinchen landete nichtsgetrieben auf meiner
Schulter, ich dachte nur flüchtig daran, ihn vorsichtig anzuhauchen,
nur daß ich sähe, was es sei — und hauchte ihn damit
schon fort — die Windstille trug ihn fernhin die Erde. »Der
gelbe Nachmittag des Glücks« — das ist eine Formulierung,
die der Philosoph des Großen Mittags fand. Der gelbe Nachmittag
des Glücks — ist unbedingt ein Land. Und die durch und durch
opake Spinne steuert es an.
Ich bin nicht so eingebildet, daß ich mir von
Spinnen keine Lektion erteilen ließe. Mutmaßlich betrachtete
sie die Leute näher, die unter ihrer Idee von Netz ein und ausgingen,
las sie Gedanken unter Schädelplatten und hielt es daraufhin für
angezeigt, archaisch autoaggressiv die Nahrung zu verweigern. Geschickt,
wie sie kraft Negation das Ideal der Lebendigkeit und Reinheit in der
Metamorphose zum Abgestorbenen hin transzendierte und die narzistische
Besetzung ihres Körpers aufgab. Fortan hält sich ferne —
immateriell nun und unsterblich. Und nie wird ihr Körper den Boden
berühren.
Vielleicht aber auch hatte sie nur eine schlechte Woche.
IV
Doch Milky-Way geklaut. Nur mal probieren.
Und noch hypnotisierender gewunden die braunweißen Spiralen, noch
bunter der beiliegende Gimmik aus dem Dorfidyll des Asterix. Glücklicherweise
zähl ich zu denen, die noch mal in die höchste Form der Verbindlichkeit,
die Unverbindlichkeit, entkommen sind.
V
Keine Post bekommen. Heut find ichs
schad. Ich laufe die »Allee der Stadtwerke« entlang, kasernierende
Mauern, bezaubernd wie nur irgend ein barocker Park mit Haschmichhecken
zu überschaubaren Labyrinthen gestutzt, Kleintransporter mit blutleer
freienden Aufschriften, zügighuschig graphisch gestaltet, stoßen
Dämpfe neben mir aus, viele Opel unterwegs auch, immer ungewaschene
Kühlerhauben, immer den letzten Regen noch mitgenommen und dokumentiert
mit Schmutzrändern noch und noch, ich sach ja nichts, diese elende
Straße, schnurgrad, ausweglos allem, das sich bewegen will. Weg
der Ausweglosigkeit, Allee der Aporien. Laster mit offenen Müll über
offene Grenzen. Irgendwo hier steht das »Haus des Volkes«.
Das ist der Ort, Sozialhilfe zu beantragen. Wenn man nur die Straßen
zu überqueren wüßte.
Kaiser Honorius übt lustwandelnd Großen Posen
in Ravenna und setzt ein übertriebenes Zeichen seiner Liebe zu Rom
: er tauft sein Lieblingshuhn auf den Namen Rom. Als
Honorius die Nachricht vom Fall Roms vernimmt, erliegt er einem verständlichen
Mißverstehen — denn er hatte Rom stets frei
in seinen Gärten laufen lassen. Honorius also bezieht das Unglück
konsequent aufs Ableben des favorite chicken und erleidet tief erschüttert
eine hysterische Attacke. Gelesen bei Gregorovius. Heut nacht zwischen
1 und 3, wo, nach Nietzsche, die Zeit aufhört und wir keine Uhr mehr
im Kopf haben.
Eine angemessene Haltung ! Hätt ich sie nur, wiederführe
mir das Mißgeschick, in den Strudel geschichtstektonischer Verschiebungen
zu geraten. Honorius ist größer als Caligula. Caligulas Verhältnis
zu seinem Gaul Incitatus beweist blankes Mittelmaß. Vor Rennen wachten
zwar über des Incitatus Ruhe Soldaten, wohl auch wohnte Incitatus
in marmornem Stall, fraß aus elfenbeinener Krippe, lag auf Purpurdecken
mit Edelsteinen am Hals und gebot mit seinem Wiehern über einen eigenen
Palast nebst Personal — aber wie ordinär das alles. Die eigentliche
Lieblosigkeit ist auch aus der mangelnden Vorsorge zu ersehen : durfte
den wirklich die Ernennung des Incitatus zum Konsul scheitern am bloßen
Tod Caligulas ?
Größer auch als dieser der andere Kindskopf, dessen
Name mir grad entfallen, der seinen Senatoren damit drohte, an ihrer Statt
leibhaftige Esel zu berufen. Dahinter dann doch nur wenig mehr steckt
als eine tiefe Polemik gegen den juristischen Sklavenbegriff (=Sache)
Was ist nur mit meinem Gedächtnis ?
Um diese Zeit sitzt in Bethlehem Hieronymus in seinem
63. Jahr. Er schreibt an ein Nönnchen in Not : »Ich hatte eben
die achtzehn Bücher der Erklärung des Jesaias beendigt und schickte
mich an, zum Hezechiel überzugehen ... siehe, da vernehme ich plötzlich
den Tod des Pammachius und der Marcella, die Einnahme der Stadt Rom und
den Hingang so vieler Brüder und Schwestern. Also verlor ich Besinnung
und Stimme ... Da nun aber das hellste Licht des Erdkreises verloschen,
da selbst das Haupt des römischen Reiches vom Rumpfe getrennt worden
und, um es besser zu sagen, mit der einen Stadt die ganze Welt untergegangen
war, da ward ich stumm und gedemütigt; ich hatte keinen Laut für
das Gute, es erneuerte sich mein Kummer, mein Herz war heiß in mir,
und in meinen Gedanken entbrannte es wie Feuerglut. Meine Stimme stockt,
und mein Schluchzen unterbricht die Worte, die ich schreibe : die Stadt
ist bezwungen, die den Erdkreis bezwang«
Ins Deutsch übertragen, das in der Almatastraße
verstanden wird, solls heißen : Stenderhoff trägt endgültig
Schwarz. Vor kurzem war der eine ihrer Pinscherzwillinge, ›Pik‹
benamt, wie ich über eine Danksagung für erwiesene Beileidsbekundungen,
die ans Schwarze Brett gepintet war, erfahren hab, an Magendurchbruch
zugrundegegangen. Die RaffaelloKokossplitter, an denen Pik sich überfressen
hatte, sollen sich ja wie Eisenspäne ins Blut getrieben haben. No
2 nun : in einem unbedachten Moment — ich gesteh : ich wars. Köter
Puk war vor der Lottoannahmestelle wieder mal ausgebüxt, wie Stenderhoff
den liebreizend verspielten Charakter ihres verbliebenen Lieblings zu
rühmen gepflegt hatte. Nur, daß er diesmal mich ansprang, mich,
der ich daherkam die Straße ohne Schuld, eine Melodie des Gleichmuts
auf den Lippen, seinen erigierten Mikropimmel an meiner Cordhose zu wichsen
zu seinem Vergnügen. Ein Tritt in die Köterkehle. Blut trat
aus und saute das Fell ein. Dessen Weiß aber eh von der schmutzigen
Sorte war. Ein letzter Schiß entzuckte dem Enddärmchen, und
gab den dumpfsahnigen Geruch verwesender Negerküsse von sich —
ein weiterer Hinweis auf die Wohnhaft der Seele. xxx Aber unbedacht war
der Tritt dennoch, weil nämlich : Stenderhoff trägt im ihrerseits
verfetteten Herzen den Plan, auszuziehen, restloses Vergessen zu wählen
und gegen eine Klause in der Negev-Wüste die Wohnung jemandem zu
überlassen, der sich noch als bedeutend gräßlicher herausstellen
könnte. Einer ihrer Großneffen, ein wahrer Überzeugungstäter,
scheint ernsthafter Aspirant zu sein. Dieses Wesen aus mir völlig
unbekannten Welten raucht Mentholzigaretten, kauft Rosen und Kaugummis.
Die Rosen bringt er der Stenderhoff mit und verbeugt sich und hat sie
mit Silbersternchen von Kindergeburtstagen noch streuseln lassen. Die
Kaugummis aber deponiert er, unmittelbar bevor er klingelt, in einer eigens
dafür mit Staniolpapier ausgelegten Streichholzschachtel. Habs selbst
gesehn. Und gleichzeitig befreit er die Sohlen seiner Schuhe von Kot.
Und das tut er — auch das hab ich beobachtet — auf dem Fußabtreter,
den die Stenderhoff vor Jahresfrist gestickt hatte : eine wundervolle
emblematische Arbeit : zwei Riesenraffaellos, die Porträts ihrer
Lieblinge darstellen sollen, zusammen mit dem Sinnspruch MEI RUH
WILL I HAM. Das Stärkste aber ist : dieser Mann, der mit
Wagnermelodien aus dem Raum zwischen seinen Lippen dem Lift entsteigt,
darf Geld von hinter den Postschaltern aushändigen. Ich hätts
wissen müssen — nichts wird besser : diese Kleinpäpste
und -päpstinnen, diese Freaks des Details, die die großen Verbrechen
imitieren.
VI
Ein zweites großes Wort Götes
ist zu meiner Kenntnis gelangt : nichts sei schwerer zu ertragen als eine
Folge schöner Tage. Nur : ich sehe diese Folge nicht.
VII
ES IST OSTERN. ES IST OSTERN. KRIST
IS AUFERSTANDEN. Rohre liegen hier. Unverlegte Riesenstrohhalme. Bagger
stehen verlassen. Zyklopen erziehen ihre Brut immer lässiger. Junge
Männer ostersonntags erhitzen sich zum Spaß auf den Fußballplätzen
der Gemeinde. Dumpfe Tritte gegen Leder eilen über den Platz, Gelächter
und Schreie voller Verlangen nach Anspiel. Eine Alustange klirrt und irgendwo
klatschts. Ein Hund scheißt und knurrt anschließend an. Er
hat sich die Lefzen noch nicht abgewischt. Wie ein überlanger Katheter
die Leine seines Männchens. Zersiedelung und wenig Orte für
Enten, an die sie fliehen könnten in Beschaulichkeit. Zeit zum Gähnen,
Zeit zum Fürchten, Nichts, an das man sich erinnern wird von diesem
Tag — und wohl verwandt mit dem letzten Bild, mit dem man von dieser
Erde stirbt. Taedium vitae.
Das Gras ist kühl, auf dem ich sitz, und endlich,
die Gattinnen der Pastoren tragen nach Karfreitag nun das erfrischende
Grau. Nichts im Übermaß. Hier, der hufausgetretene Acker, die
Profile schwerer Reifen und keine Spurensicherung : hier liegt keine Steinzeitvenus
mehr. Vor solcher Leere hört die Existenz des Gelehrten auf. Die
Sonne, wieder : durchaus leseunfreundlich. Sie knallt von hinten, das
Papier zu weiß und das Auge spielt nicht mit. Der Wind pfeift kalt
und es lungern Jugendliche um eine alte Eiche. Autos parken nun ein, andere
gegürtelte Stoffhosen und frische Hemden steigen aus, Telephone klingeln
durch Flure, ein herzerfrierendes Frohe Ostern mehr. Ach, daß
sie alle an den Drähten verreckten, an denen sie telephonieren. Eine
Kleingruppe Gläubiger tritt an : Spaziergang ! Der Gute Winter der
Kühe vorbei : Fliegen erheben wieder das Haupt. Da vorn gehts nach
Stuhr. An der Baumschule vorbei, und wer hier seine Ruhe sucht, nur seine
Ruhe, die nur ihm gehört, und wer seinen Herzschlag nicht mehr hören
möcht, der sich vor jeder Kreatur entschuldigt, ehe er sie, möglich,
zertritt, selbst der stört noch eine Ente auf und stöhnt über
seine Unvollkommenheit.
Wie ?! ein Leben soll nicht mehr sein als ein schlechter
christlicher Aphorismus ? Ein Leben ist wie eine Schachpartie : es werden
immer zwei Partien gespielt. Erst mit dem letzten Zug werden sie deckungsgleich.
Tüll und Tarlatan
VIII
Die kleinen Dinge, die nicht passen
die Zentimeter und Sekunden, die fehlen an der Wirklichkeit eines Gedankens,
die machen das Leben madig, die bedeuten mehr als die skurrilen Momente
des Glücks.
Ich auf DAS RAD. Die Kreuzung : wenig befahren. Aus
meiner Richtung drei Spuren, eine führt Gegenverkehr und auf der
rechten die vergessenen Geleise einer stillgelegten Straßenbahnlinie.
Die Herrenstange zwischen meinen Schenkeln nutze ich, eine Tasche voll
erdigen Gemüses abzustützen. Also bin ich mit gespreizten Beinen
unterwegs. Langsam rolle ich aus auf der rechten Spur. Zwei Wagen auf
der mittleren stehen vor der Ampel, einen dritten hör ich heranrollen
und bremse derart zärtlich, daß ich, der ich auf den Gehweg
links möchte, einen so knappen wie eleganten Bogen werde schlagen
können hinter dem dritten Fahrzeug — wenns denn hinter die
ersten zwei zu Stehen gekommen sein wird. Rechnen eigentlich mit nur einer
Unbekannten : v des Fahrzeugs in meinem Rücken. Daran liegts nicht
mal. Das Auto fährt vor, ich schlage meine Parabel ein, sanfter Winkel,
weil behindert durch die Tasche — und muß bremsen, schlingre,
stolpere, weil : der dritte Wagen hat Überlänge, amerikanisches
Kennzeichen und enttarnt die größtmögliche Eleganz als
Ungelenkheit. Das bedeutet was.
Ein draller Kerl stellt einem Kind ein Bein und entschuldigt
sich nicht. Ein Reißverschluß wird gehalten von einer piekenden
Sicherheitsnadel. Die Träger der Tasche sind zu lang : die Tasche
schlenkert in die Speichen. Das alles bedeutet was.
IX
Die Kykladen hattens ihm angetan.
Dikaiarchos — Ruhm ihm ! (ewigen, wenns geht) — Admiral des
fünften Griechen auf Ägyptens Thron, überzog die überwiegend
unbewohnten Kleinviehweiden mit Krieg. Jawohl, er schämte sich nicht,
Eroberungskrieg zu machen gegen zuletzt wohl in der Jungsteinzeit gut
besucht gewesenen Inselchen, gegen ein loses Gelege von Steinpfützen
in der Ägäis. Strategisch, klar, von Gewicht in den postdiadochalen
Händeln, in nachepigonaler Ära : die klipprige Mitte aus Schiefer
und Kalk, Mitte eines Triangels von GriechenFestland, Asia und Kreta.
Dikaiarchos führte den Feldzug modern. Das heißt : unter Nichtachtung
des von den Göttern geschützten Völkerrechtes. Klaus Störtebecker
ist seinerzeit sehr weit gewesen. Dikaiarchos aber war schon noch weiter
gewesen. Sehr unmodern allerdings, daß er sich zu seiner Feindschaft
gegen Götter und Menschen bekannte. Und er dokumentierte seine Götterverachtung
und Gesetzlosigkeit, indem er überall auf den eroberten Inseln Altäre
der
und der
errichtete. Sein Verdienst bleibt es, als erster einer sehr feinen Haltung
kultischen Ausdruck verliehen zu haben.
Heute ist mir nörgelig. Bei wem soll ich mich entschuldigen
?
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