Auf einfachen Wunsch :

Fink - Die Zweite

 

     XV

Festtage des verregneten Mittnovembers
und des asthenischen Farbbands
MEINE PRIMZAHLEXISTENZ ...
ABER BIN ICH DURCH 1 TEILBAR UND DURCH MICH SELBST ?
DER TOD IST DIVISION DURCH 0                                                
           
Depressiver US-Burger jagte unter billigender Inkaufnahme des Todes
sich eine Kugel durch den Kopf
Die 22 mm aber pflügten nur das Zentrum seiner Depression
Der Ami überlebte, genas und blühte auf
Ist es das, was an Glück erreicht werden kann ?

Die Jugend Hofft.
Das ist ihr Beruf.
Und sie tut es vollkommen umsonst.

 


     

     Sie kam dann nicht gekommen.
     »So kannst du mir einen Gefallen tun«, sprach der Fährmann, »und mir sagen, warum ich immer hin und her fahren muß und niemals abgelöst werde« »Das sollst du erfahren«, antwortete das Glückskind, »warte nur, bis ich wiederkomme«

    Allein. Vokabel ohne Halt, Wort ohne Besserung.
    Immer wieder neu, immer wieder glänzend : das Muster der Ausweglosigkeit repetiert sich nur zu gern. Allwinterlich stoß ich mit Faßbrause darauf an, daß die meisten Australier Wally Masur heißen und schon zu den Erstrunden die schlechten Absichten im Gepäck tragen, an denen gute Deutsche dann spätestens in den Finals scheitern.
    Eines nur bricht auffällig und bedeutend die Tristesse und wird mit schädelinternem Sektkorkenknall von mir begrüßt : Winter für Winter das retardierende Moment, geflogen aus der Welt geflügelten Vogelfutters : die Fliege da, an meiner Lieblingskalkwand. Clemensens leichtlebige Stiefelsohle hat sich an der ungeschminkten Mauer verewigt, gleich daneben, aus einer Zeit, in der Thunfisch nur in Wasser einzulegen noch misfit war, eine ausgeglittene Dose Fisch. Aber diese Wand lügt auch. Ihre Pockennarben sind Krater der Lüge. Ich bin der Erstbezug hier. Auch ohne Vertrag : ich hab Ehrfurcht vor den Dingen. Nie traktierte ichs Wändlein, nie bekams von mir Reißzwecken reingedrückt, zittrig weinrotschwarze Che´s zu halten oder Jubiläums-Paßbilder von Kafka, daß man nicht weiß : ists der edle Prager ? eine segelohrige Eichel ? ein Kombattant ruandischer Regierungen ? Oder Rowohlts jotaartige Sartres in Flattermänteln an Stränden, wo selbst der Gegenwind nach links driftet. Was Dorfjugend eben so pintet. Großstädter tun derlei nicht. Meine Wand war immer als Löschkalk, immer als Buchstabengegenwelt gedacht.
    Hei, da sitzt e Fleig an der Wand, Fleig an der Wand, Fleig an der Wand
    Gehört die da hin ? Gehört die jetzt da hin ? Sieht niemand ein, daß die nicht da hingehört, sowieso nicht und jetzt erst recht nicht, daß einfach nicht die Zeit der Fliege ist ? Kann ja rührend sein und sogar recht charmant, der Wirklichkeit langanhaltenden Widerstand zu leisten, Ehre zu suchen auf dem Feld verzweifelten Verkennens der Sachlage — aber einmal soll damit doch Schluß sein. War vor zweitausend Jahren etwa die Zeit der Feige ? Nein, war nicht. Und hatte es was geholfen ? Der einen Ficus wenigstens, die das Pech hatte, gesät und gewachsen zu sein am staubigen Weg nach Bethanien, den dann des Menschen übellauniger Heiland betrat ? Der Heiland : ein Gesell, der, soweit bekannt, nie gelacht hatte.
     Eine Ficus kann nicht wegrennen. Dumm gelaufen — das weiß man.
     Domitian — Patrizier von hohem Adel. Kaum inthronisiert, begründete er die schöne Sitte, sich in ein geheimes Kabinett zurückzuziehen. Dort fing er nichts als Fliegen. Die spießte er an genau dem Griffel auf, mit dem er anderntags Todesurteile gegenzeichnete. Diese großfürstliche Gepflogenheit ließ einmal Vibius Crispus auf die Frage, ob jemand beim Kaiser sei, launig antworten : nicht einmal eine Fliege, ne musca quidem, haha.
     Stendhal hat, glaube ich, bemerkt, der Gipfel männlicher Leidenschaft könne darin bestehen, der Geliebten eine Fliege zu zerdetschen, und von Anton Reiser heißt es, wenn er Fliegen mit der Klappe totschlug, so tat er dieses mit einer Art von Feierlichkeit, indem er einer jeden mit einem Stücke Messing, das er in der Hand hatte, vorher die Totenglocke läutete.
     Soviel zur Pietät, soviel zum perfekt verfetteten Knaben von neulich. Neun Jahre etwa mochte der verschnittene Jung-Keiler auf die Waage gebracht haben. Ich stand bei Plus an der Tiefgefrorenentruhe und graste zwischen Fischstäben und geschnetzelten Mohrrüben nach Fritten, die ein Leben fristeten jenseits von Verfalldatum und Preisbindung — da ging mein Blick dem Topfschnittkind ins Netz. Der Göre kranke Rosahaut zum Platzen straff, die Aufwerfungen — das Gesicht — starr. Im Fleischmassiv linsten Ferkelaugen den Tango der Konzentration. Da ! der Frischling entlud sich hiebsetzend und erschlug vor Eltern und Personal unter Anrufung des Gottes Tschüß einen ebenbürtig schmerigen Brummer, der unzeitgemäß seinen Honig gesogen hatte. Da ! tauchte die fette Hand auf aus dem Massensarg ungetaufter Gefrierbrandhähne und war Glück in des Bubs Zügen, und wie zur Exekution bestellt die dünne Schallsoße aus verborgenen Boxen : ein namenloses Quintett, geeicht auf Fahrstuhl, Telephonwarteschleife und Kaufhaus, dudelte grabhaft eine Instrumentalversion des New York Mining Desaster 1941 — have you seen my wife, Mr. Jones ? No, Sir, seit Tagen nicht mehr.
     taufrisch / tauffrisch
     Das Dasein der Fliege übrigens : die eine gelungene Aussage über Vorhandensein oder Gesinnung eines Gottes. Gewissermaßen ist sie das Reinste, definitiv Unanmutigste und Lästigste. Ich erzählte Clemens tags darauf von dieser petité pensee. »Bist du sicher ?« Clemens schüttelte seinen Ärmel und sein Mund sagte die talmudische Mär vom Mann, der, für die Summe seiner Vergehen von allen Mitjuden inklusive Gott unwiderruflich verflucht, sich unerwartet gepriesen hörte von Chief Hillel : Freue dich, du allein kannst Gott aus freien Stücken lieben.
     Aus freien Stücken lieben.
     Ich bin kein Dialektiker. Ich bin Statiker. Einstürzender in Einstürzendem.
     An der Kasse dann, die Rentenalte vor mir drehte sich um und krähte konfitüren : »Möchten Sie vor ? Sie haben ja nur das«, dabei sie mit runzligem Finger in Richtung meiner starken Arme tippte, in denen ich plastikverschweißten Leberkäse, Löwensenf und Billigtoast trug, weil : auf diesen Artikeln war mein Auge mit Wohlgefallen ruhen geblieben.
     Aber war denn da gar kein Parfümierverbot für Geburten vor 1900, und drängelte sich niemand, einem solchen resolut Geltung zu verschaffen ? Ist gar noch zu viel Mitleid selbst im Unbarmherzigsten, wenn er nur eine verstopfte Nase hat ?
     So welk.
     So pigmentiert.
     Und noch so freundlich.
     Nichts gelernt ? Nur Eau de toilette ?
     Eine Stimme mehr im Chor der Ichschwachen, eine Stimme mehr, die allerorten Gerede anzettelt, eine Stimme mehr von der Tauschbörse für Worte, eine Stimme mehr, die für die Freigabe falscher Plurale plädiert. Doch mein Kurs notierte sinister. Ich lächelte verschämt ihr Vorzugsexemplar der heute gültigen Bildzeitung an, SUPERWASI IM ALMENRAUSCH. Sie hatte die Gazette übers Frischgemüse gebreitet, das stimmlos hilferingend durch die Metallgitter des Einkaufwagens leckte. Noch im Lächeln verneinte ich galant — eine Technik, die Clemens ausgearbeitet und zur Vollendung getrieben hat : ich hätte Zeit, auch auf mich warte niemand.
     »Ist das denn nicht traurig ?«
     »Och nö«
     So schoben wir uns in munterem Wechsel gegnerischer Ansichten, Tuwörter, Einsichten und Nomina das Band entlang — ganz ungelegen kams mir nicht. Dem Filialleiter, weiß um die Nase wie sein Asepsis gaukelnder Kittel, war ich mindestens einmal schon aufgefallen und knapp nur einer Kontrolle entronnen, schein ich doch der eine Kunde zu sein, der fürs Päckchen Kaugummi keinen Einkaufswagen auslöst. Ich halte es damit, daß ein Magen nicht mehr fassen kann als die zwei ihm zugeordneten Hände. Und schaden kanns sowieso nicht, wenn der Verdauungstrakt beizeiten erfährt, wer Herr im Hause ist und wie es anfühlt, gemaßregelt zu werden.
     Es ist eminent Widerwärtiges um eine Philosophie des Vorrathaltens.
     Ein Blick zurück ohne Zorn : meine Favoriten liegen da, ausgesetzt den Mastercards derer, die mit den Superzahlen dieser Welt auf Du und Du stehen, derer, die prima mit Portemonnaies leben, weil sie ›Portemonnaie‹ nicht zu schreiben wissen. Da liegen sie ... soll ich ? Ander Mal. Peridotfarbene Pistazien, mit der reichhaltigsten hirnreichsten Oberfläche aller Nußartigen, Miniaturen der Lüneburger Heide — und Chrysolithe, Aprikosen, sehr präcise Früchte, sehr lecker, Kern fehlerfrei zu extrahieren, mundgerechter Bißumfang, nicht pfirsichsabbrig, sabschig, angenehm samtenes Gefühl in der Hand
                                  pfeffergrau
     Die Grand Old Dame des Supermarkts allerdings und ihre Zikkurat von Hoffnung auf fortgesetzte Unterhaltung versah ich hurtig mit einem Sprengsatz : kaum den Bon, die Fahne der Ordnung in der Hand, machte ich auf dem Absatz kehrt und ging grußlos. Almatastraße dann entpackte ich : zwei Pötte Crème fraîche, einen Riegel türkischen Nougat und anläßlich der per Handzettel für morgen angekündigten Stromsperre (wg. erwiesener Renitenz der Majorität der Bewohner »Treue Seelen, liebe Mietnehmer, bedanken Sie sich bei Ihren Nachbarn ...«) ein Halbdutzend Batterien für mein neues Kofferradio. Und eine Dose Whiskas, Herz und Nieren — was Clemens so mag. Kajalstifte waren alle. Aber wen kümmerts ?

     XVI

     Lehrreicher Tag, sehr lehrreich. Ein Käfer bremste blaßgrün und frech einen undynamischen Fußgänger aus, kurbelte beifahrerseits die Scheibe und fragte barsch nach einer blumigen Straße. Das aufgebrachte Wild hatte wohl einst seinen Diderot gelesen. Jedenfalls lakonisch die Auskunft : »Ich komm von nirgendwo hier«. En passant freute ich mich an diesem späten Sprößling französischer Aufklärung, tat eine lose Zahl belustigter Zwischenschritte und schlurfte weiter dann meiner Wege. Paarhundert Meter später : der VW-Fahrer im Gespräch mit einem Zeitgenossen mit Hut. Diesmal hing ein kompletter Kopf aus dem rechten Fenster. Zeitgenößlein wies ihm in sicherem Ton anhand einer Unzahl Details den Weg in die Irre. Zuerst staunte ich, mit welcher Ortskenntnis denn ich überfrachtet bin, wußte ich doch nicht allein daß, sondern auch noch wie dieser Mann unbedingt vorsätzlich in die Wüste geschickt wurde. Dann aber gewann mein schlichtes Gemüt Oberhand und ich konnte mich vorbehaltlos ein zweites Mal freuen. Doch man freut sich nicht ungestraft an den schelmischen Höchstleistungen der Dummköpfe, Hutträger und Sturböcke. Wenigstens ich nicht. Zwei Kreuzungen weiter paßte also der VW mich ab, und einem bartschattigen Sozialpädagoggesicht mit Gandhibrille entnahm ich die Frage, wo denn der Goldglöckchenweg sei. Sag ›Weiß der Henker‹, sag ›Weiß der Henker‹, und ist dir das nicht gegeben, flehe deinen Gott an um ein Minimum Vergessen. Aber so ist das. Ich blieb in unsinniger Kenntnis dieser ambitionierten Straßenknicke, geriet in stotternde Höflichkeit und machte das Problem zu meinem. Umständlich erklärte ich korrekte Wege, ein unfrisierter Idiot einem stoppelgeschorenen. Da war sie wieder gewesen, die Solidarität unter Inkompatiblen, Todfeinden eigentlich : die Lüge.
     ›Schelmisch‹, ein grauenerregendes Wort. Nur noch überboten vom Tatbestand selbst. Und schlimmer als eine Brille Marke ›Mahatma‹ ist nur noch das Modell ›Walter Benjamin‹.
     Weiteres Problem : das leere Feuerzeug. Ich schnalz es, von der blöden Hoffnung beseelt, Gas und Zündstein mögens einmal noch miteinander tun. Schnalze zehnmal. Zwanzigmal. Dreißigmal. Das einunddreißigste Mal enthüpft moribund ein Flämmlein. Der Daumen aber nimmt sich gemäß dem eisernen Gesetz der Gewohnheit vom Gas : ´s Flämmlein geht ein. Sinnbild.

     Was ich manchmal wirklich mache, reduziert sich zu gar nichts.

     Asexuell sein, enthoben jenseits die Keuschheit.

     Allein. Diese paar Slalomstangen sind sowas von egal.

     XVII

     Als es wieder zu dem Fährmann kam, sollte es ihm die versprochene Antwort geben. »Fahr mich erst hinüber«, sprach das Glückskind, »so will ich dir sagen, wie du erlöst wirst«, und als es auf dem jenseitigen Ufer angelangt war, gab es ihm des Teufels Rat.

     Ich hatte geschlafen. Traumlos und tief. Das war gut. Und nicht mal die Decke war naßgeschwitzt, nicht mal der Harzer Grauhof neben der Seegrasmatratze umgestoßen — nicht mal nachts davon getrunken. Die Funzel war gleich ausgeblieben, und so war ich ungeschäftig trudelnd in den Käscher des Schlummers geglitten gekommen. Meanwhile : heimlich, heimtückisch, engstirnig : hatte es geschneit. Was an unwirtlicher Witterung beschaulich und Friede in Herzen senkend sein soll, hat auch noch keiner erklärt. Daß Menschen schwach und unvollkommen sind, ist Konsens unter allem, was lacht und unterworfen ist dem Fluch Lukas 6, 25. Aber so schwach, so unvollkommen, daß die Begriffe ›stark‹ und ›vollkommen‹ nicht mal geschrammt werden ? daß niemand sich beschränkt auf die prädikatenlogisch einwandfreie Aussage : drinnen ist es feucht und kalt und schmutzig, draußen hingegen naß und kalt und grau ? Statt dessen ist von Hirschen, Kufen, Knechten und Ruten die Rede. Waren das Zeiten, Nietzsches Kurzmitteilung an Gast : »Zeit großen S c h n e e ´ s, wahrscheinlich lange. Treulich und mit tausend Wünschen Ihr Freund N 9.1.87«
     Bin leicht enrhümiert.
     Clemens hatte Gespräch mit der hochwüchsigen Apothekerin von schräg gegenüber seinem Flat. Sie hatte ihn ertappt, wie er unterm Äskulap-Signet mit knallrotem A graste und die Kippen auflas, die das Volk Leidender vorm Betreten des Arzneimittelgeschäftes ausgetreten hatte. Mächtig geschimpft soll sie haben und ihn dann doch als Opfer wert befunden. Und Clemens fand den Standort zur Aufstockung seiner Tabakvorräte noch so schlau gewählt : »Kein Mensch geht rauchend in eine Apotheke — rauchen vorher aber tun viele. Isso, mein Sohn« Eine erste Frucht dieser belehrenden Begegnung gestern. Ich fand eine auf Karopapier gekritzelte Botschaft im Briefkasten : Einladung zum Essen. Das hatte es noch nie gegeben. Clemens bereitete Johanniskrautsalat. »Eine Insiderinformation«, so Clemens. »Soll Depressionen mildern, die Kilopreise für pharmazeutische Antidepressiva ziehen schließlich an und meine Diss muß doch noch fertigwerden«

Wie soll man schlafen, mit einem unkontrolliert kollernden Insekt im Raum ?
                             Tanz der Abreise, N. mesquin
Anemone der Zeit Fangschuß
GLÜCK IST RAR. SCHLAFEND GEGEN BORDEN GESCHAUKELTE ENTEN
     Möwenpick, Drops
     Narkoman, suspensorium                          ANTI-PLAQUE
     Wer seinem Gewissen entflieht, entkommt auch der Polizei
     SAT 1-Bingo : Was bedeutet Errerar humanum est ? Richtig, damit braucht der Olaf nur noch
     Stärkster aller Flüche : HOL DICH DER PROGRAMMSCHLUSS

     Abends noch mit dem Hund in mir spazieren gewesen. Sang uns beiden und einem erbärmlichen Mond, der gekleidet hing in liderliche Wolkenfetzen, ein mageres Couplet Mozartmelodien. Danach : Menschen gesehen. Was da sich umhertrieb : viele Männer grau und üblich und bunt und egal : hinkende Schambeine allesamt, viel Schnurrbart und Gelatine und Kotelletten, nichtsbewachsende. Die Wetten, daß von Zehnen derer fünf keine zivilgetarnten Sonderbeamten sind mit Spezialbefugnis, mir Übles zu tun, stehen ungünstig wie in keiner anderen Stadt.
     Frauen : ja. Schöne auch und unglückverheißend. Viel breite Gesichter. Viel beckiges Geknocht auch. Obsidian das, was sie um ihre Hälse, an ihren Gelenken und Ohren und Warzen tragen. Aber auch unter ihnen keine, die annähernd in der Lage wäre, eine achte Todsünde zu ersinnen. Quidquid agis, prudenter agis. Oder lasse es sein.
     Ich erinnre : sommers : taglang war ich nicht an der stehenden Luft gewesen, auf der Straße dann umwärmte und wehte mich an Wind von verdreckten Stränden und oft genug huschte mir eine niveatrunkene Caprice dann via Blickfeld ins Blut. Massig Fett oder Fleisch war nie nötig, salopp wippende gebräuchliche Brüste genügten, mich mit der Sorte Lebensfreude zu geißeln, mit der ich nicht klarkam, unter deren Knute mir aber trotzdem wohl war. Ich plane keine längere Bekümmerung darüber, daß niemand wissen will, wie sehr ekeln kann vor der Abhängigkeit von biochemischen Überlebtheiten.
     Es heißt ja auch, daß vor laufender Kamera Anthropologen dem amerikanischen Publikum ungeniert und unwidersprochen Fragen stellen wie sonst nur Buschmännern.
    Gegen jede Wahrscheinlichkeit und die meisten meiner Altersgenossen ist mir die geistige Welt der Primitiven nicht Gipfel des Menschenmöglichen.
     Dann einmal wollt ich fliehen, nur fort, bestieg Rolltreppen, sah die Wegweiser bestaunenden offenen Münder der rolligen Damenwelt, war plötzlich Erdgeschoß vorbei und fand mich im numinosen Bezirk ›Cristalleria‹. Es war in meines Lebens Mitte ... Draußen dann süßlichstählerner Vanilleduft und beißkalt : Chauffeure ohne Freier standen vor Taxen, an die aufgeschlagenen Flügel, die Türen gelehnt und redeten einander zeitlose suburbane Fetzen zu : Jå, dann hatta die ganzn Fliesn verlecht, ich sach noch, nimm vom Feinstn, fein gemacht, du, alles selber, alles sauber verputzt und alles, und die Gewinde, super du, und die Dichtung, klasse getan ... Das also ! sohin und darum gehts ! vor zweitausend Jahren wie jetzt. Närrlein, ich

     XVIII

     Vorm ›Vereinshaus der Freunde der Fremden‹ ein Stück Papier gefunden und Clemens zur weiteren Begutachtung überlassen. »Es handelt sich hierbei um ein Schreiben deutscher, zum Islam konvertierter Frauen, die ihre mystische Erfahrung zu Montmartre kund und zu wissen geben. Nächstens mehr«
     Rabbi Elieser aber brachte vor, was die Welt an Einwänden hergab. Den anderen Rabbis doch galts soviel als nichts. Da sprach Elieser zu seinen Kollegen : Bin ich im Recht, wirds dieser Johannisbrotbaum beweisen. Und der Johannisbrotbaum rückte hundert Ellen fort vom Stammplatz. Nur sagten die Rabbis : Ein Johannisbrotbaum gibt keinen Beweis. Da sprach Elieser : Gut, so denn : hab ich recht, beweist es dieser Fluß. Und das Wasser änderte seinen Lauf. Da sagten die anderen : Von einem Fluß bringt man keinen Beweis. Da sprach Rabbi Elieser : Alsdann, rede ich richtig, werden es die Wände dieses Lehrhauses erweisen. Da neigten sich die Wände des Lehrhauses, um einzustürzen. Aber Rabbi Jehoschua stand auf und bedrohte die Wände : Wenn Gelehrte um den Sieg der geltenden Richtlinie ringen — ihr, was ist denn das für eine Art ! Was mischt ihr euch ein ? Da hielten die Wände inne : wegen der Ehre Rabbi Jehoschuas. Sie richteten sich aber auch nicht wieder auf : wegen der Ehre Eliesers. Nebenbei : bis heute stehen sie geneigt. Rabbi Elieser aber griff zum Letzten : Seis drum : wenn meine Meinung die Wahrheit ist : der Himmel wirds bestätigen. Da kam aus dem Off eine Stimme : Was habt ihr mit Rabbi Elieser ? Die geltende Richtlinie ist auf jeden Fall, wie er sagt. Doch entgegnete Rabbi Jehoschua : Ruhe da. Nicht im Himmel ist sie. Was bedeutet : Nicht im Himmel ist sie ? Und Rabbi Jirmeja sprang bei : Daß die Weisung schon am Berg Sinai gegeben wurde. Höre, wir kümmern uns nicht um irgendeine Stimme, denn schon Sinai hast du — Exodus 23,2 — in die Weisung geschrieben : Sich zur Mehrheit neigen.
     Kurz darauf traf Rabbi Natin Elia und fragte ihn : Was tat der Heilige, gelobt sei Er, in jener Stunde ? Und Elia antwortete : Er lächelte und sprach : Meine Söhne haben mich besiegt, meine Söhne haben mich besiegt.
     Amazing, charming. Hab mal nachgeblättert : Exodus 23 ist konsequent verkürzt gegen ihren Inspirator geführt worden, denn man soll nicht ›sich zur Mehrheit neigen‹, ist diese im Unrecht. Die Meister stritten überhaupt nur so knallhart, weils um ein Backofen-Portable aus Lehmziegeln ging. Elieser vertrat, der Ofen könne, da seine Einzelteile durch Sand getrennt blieben, nicht maklig werden, welches Attribut einem zerbrochenen Gerät beigelegt wird. Die Majorität aber hielt dafür, daß der Ofen sehr wohl dem Makel anheimfallen könne, mache doch der äußere Lehmanstrich ein Gerät aus ihm.

     XIX

     Eigentliches Mißverständnis aber : der Balzruf des Käuzchens ins Totenreich : kuwitt, kuwitt, komm mit. Alles Gemeinte meint immer völlig anderes. Der Tonfall, in dem sie Banalitäten gurrte, war sogar derart verquer, daß er um zwei Ecken dann doch wieder mich meinte. Mir flößte sie dann Kaffee ein, erzählte von sich und ich ging dann, ohne Vortäuschen einer Verpflichtung. Mir war danach und gut war mir. Vor ihrer Wohnung dann : wundensalbende Spätherbststürme, in den angedeuteten Gewittern fielen Go-Plättchen auf meinen Kopf, der Mistral wölfte, imaginäre Feldzüge geschahen, die braunnaßgesträhnte Feder hinterm Ohr glich der Farbe ihres Haares.
                                                 Volieren
     Säufer-Lilly gehört, Sögestraße. Lilly sang a capella die ›Ballade davon, wie´s kommen kann‹. Ihr Atem ging fix. Sie schlug sich während des Vortrags in die Fäustlinge, als ob sie ihre Zahnlücken verteidigte. Oft wechselte sie das Standbein. Fror sie ? Auf den marmorimitierenden Steinboden hatte Lilly das geknallt, was ihren stadtweiten Ruf begründete : ihr unter allen Lebensumständen appretiertes Barett. Das Barett hieß ›Lucky‹. Eine handvoll Nickel verloren sich darin. Ich spendierte Lilly CamelOhne, Lilly nickte und steckte sie an. Ganz früher muß da mal ein Schneidezahn gewesen sein.
     Stenderhoff setzte mir zu. Sie fing mich ab vorm Aufzug :
     »Sagen Sie, mögen Sie wenigstens Pferde ?«
     »Ich hasse Pferd wie Hund, aber ein Pferd kann ich immerhin achten ... als Pferd«
     »Sie gemeingefährlicher Mensch«
    Addi Furler, Herzbub der Stenderhoff, wars dann abermals gelungen, deutsches Galopp im Ersten zu lancieren, denn aus Stenderhoffs Tür treppenhauste sein Stimmbandwiehern Daim ist ein Pferd der pace macht, als Clemens umwölkter Stirn kam : »Eine Stelle muß ich dir lesen : Die Monstranz über dem Hochaltar birgt das Brot, das während der heiligen Messe in den Leib des Herrn verwandelt wurde. Seit dem Jahre 1885 ist sie ununterbrochen zur ewigen Anbetung ausgesetzt. Immer knien hier Gläubige anbetend vor dem eucharistischen Heiland, in den Nächten versehen Männer diesen heiligen Dienst. Erkennnst dich wieder, Minnemann ?« Ich stieß Clemens unter schmähenden Rügen die Treppe hinunter. Ein Traberhengst, der Frivol heißt. Und Daim, dacht ich immer, sei ein Snak oder dergleichen.


     XX

     Ob ich den Rest meines Lebens von folgenden Dingen tun soll : nichts, etwas, alles ? Das im Herzen zu klären, schritt ich aus im Stadtwald und überlegte fernerhin, worauf es denn ankommt; auf nichts etwa ? auf etwas ? alles ? Ich sah auf meiner Wanderlust einen entsprungenen Pirol, der eher über kurz als über lang zugrunde gehen wird und dennoch vergnügt in den Zweigen entlaubter Eichen umherzuckte, sah schwarze Aktentaschen entlanggetragen werden und über Pfützen gehoben, die Ranzen voll Data und Pausenbrot erlöst — wie ihre Täter und Träger. Alle Gesichter schienen mir friedlich, träumend, traurig, alle hatten die Last der Kreatur abgetan.
     Ist mein Rabengetier mal absent, Clemens im Schullandheim und das Bedürfnis nach Ansprache übermächtig geschwollen, mach ichs recht gern : Gesichter ansehn. Interessant sind nur wenige. Nicht die wirklich erlösten. Derer sind in der Tat viele, das sind die, über die ich anderntags verwundert bin : wie manche Menschen sich forsch bewegen ! als ob sie irgendher die Sicherheit bezögen, die nächsten Sekunden gewiß zu überleben.
     Aber eine Sorte ... je mehr sie lacht, je trauriger wird sie, denn ihr ist nur verbürgt, daß ihr Lachen verperlt sein wird. Das Wissen um das eigene Ende macht ihre Regung echt und gemäß und läßt illusionslos heiter verbleiben. Zu guter Letzt werden wir aufgehoben sein in erkalteten Nebelflecken.
     Nie ist ein Ableger der Existenz ehrlicher als in einem Kind, das aus dem Nachtschlaf orientierungslos auffährt, sich ängstlich und ohne Verstehen umblickt. Preis der gottlosen Routine des Daseins ! Nur sie schleift die Schärfe des Schmerzes, hier nicht hinzugehören, ab. Schaute mir wer in die Augen, morgens, in unaussprechlicher Zeit, wenn ich sie erstmals zu öffnen wage, er säh vor dem dunklen Augenhintergrund die Schrift aufleuchten : Betriebssystem kann nicht geladen werden, gravierender Festplattenfehler, wenn Sie müssen : versuchen Sie es irgendwann wieder, besser : vergessen Sie´s ganz.
     Dann sinnstiftende Perzeption : immer lachen an jeder Haltestelle, die der ÖPNV nicht mehr bedient, mindestens drei leuchtend gekleidete Gleisarbeiter in Plastikbecher. Ich weiß, warum sie das tun. Sie sind Gründler, gespült an eine Oberfläche. Ich weiß auch, was mit den Rolltreppen los ist, die seit der ersten urkundlichen Erwähnung der Stadt noch nie gelaufen waren. Die schönsten sind Bischofsnadel gebaut. Da fröstle ich auf einer Bank in den Wallanlagen, schau auf schwankende Entenhäuschen und höre noch den J.R. von heute morgen : »Ich bin wirklich. Und ich werde es dir beweisen«. Ich bin unwirklich. Und ich werds keinem beweisen. Nun kommen sie, Janitscharen des Himmels, und Verse von Richard Schaukal, Böse große Vögel

Und kamen große Vögel durch die Nacht
Mit krummen und verachtend starken Schnäbeln
Sie haben alles Leben schnöd betrachtet
Mit klugen bösen kalten grauen Augen
Und sind in Nebelferne dann geflogen
Mit weithinschattenden und stummen Flügeln

***