»Sterben,
Schlafen — Schlafen, Träumen vielleicht«
Zum Spiegelstadium bei Lacan
von Johannes Bittel
V. Das Spiegelstadium
— Der Mythos
»Da wollte man idealistische Gestalten,
aber alles, was ich davon gesehen,
sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die
schmählichste Verachtung der menschlichen Natur«43
In Zusammenhang mit der
Spiegelstadiumtheorie bezieht sich Lacan explizit auf den Mythos des Narkissos.
Durch die spezifisch menschliche Prämaturation, bei gleichzeitiger
früher Reifung der visuellen Funktion, bildet sich im Narzißmus
ein »absolut essentieller imaginärer Knoten«44
Was der »Mythos wesentlich zum Ausdruck bringt«, ist »die
Beziehung des Bildes zu der Suizid-Neigung«45
des Narkissos : der eben erwähnte Zirkel von Faszination und Aggressivität.
Suizid-Neigung, Strebung des Menschen zum Tod (Todestrieb, primärer
Masochismus) soll heißen, »daß der Tod des Menschen,
noch ehe er sich, in übrigens immer höchst zweideutiger Weise,
in seinem Denken reflektiert, von ihm erlitten wird in der Phase ursprünglicher
Not, die er erlebt, zwischen dem Geburtstrauma und dem Ende der ersten
sechs Monate der physiologischen Vorzeitigkeit«46
Das Bild, das immer Trugbild ist, befreit scheinbar aus dieser Not : eine
völlige Unterwerfung unter diese psychologische Antizipation, eine
Leugnung der aufgebrochenen Kluft aber führt zum Tod des Lebendigen.
Das wird deutlich an der Stelle, an der Lacan vom »Vollsinn des
Mythos« spricht. Dieser bestehe
— im Tod, der vitalen Insuffizienz,
der Prämaturation
— der Spiegelreflexion, der Imago
des Doppelgängers
— der Illusion des Bildes, einer einsamen
Welt ohne den anderen47
Lacan greift den Mythos an der Stelle des
Iste ego sum, des Dieser da bin ich auf, als Narkissos
sich im widergespiegelten Bild seiner selbst erkennt. Fasziniert von seinem
anderen Gegenüber, ist es der Wunsch des Narkissos, die Kluft zu
überspringen, »oh wenn ich mich doch trennen könnte von
unserem Körper«48
Für Narkissos gehört das Trugbild zu seinem Körper, der,
weil er unstillbares Begehren ist, nur noch leidend und schmerzbringend
empfunden werden kann. Die Idealisierung des eigenen Anderen geht soweit,
daß Narkissos nicht nur bereit ist selbst zu sterben, sondern seinem
Objekt auch noch Ewigkeit wünscht : »Mir ist der Tod nicht
schwer, durch den Tod wird mein Schmerz gestillt; dieser, der geliebt
wird, ich wollte, er wäre langlebiger«49
Aber natürlich stirbt im Tod des Narkissos der Andere auch. Narkissos
ist wie das menschliche Subjekt gefangen von seinem unablösbaren
Bild. Lacan spricht von »captation« — Gefangennahme.
Die Spannung des Dramas besteht darin, daß ein Sein aus sich heraustritt
und Erkenntnis über sich aus der Distanz gewinnt. Diese Erkenntnis
ist aber falsch, denn das Sein des Narkissos ist nicht im Spiegel, sondern
davor, die Erkenntnis Dieser bin ich verkennt, daß dieser
nicht ist. Angesichts der Aussichtslosigkeit der Spiegelverhaftung und
dem tödlichen Ende des Narkissos stellt sich die Frage nach dem Ausweg
aus dieser ausweglosen Situation.
VI. Das Drama 3
Das Ich (Moi) des Menschen
konstituiert sich nach Lacan wesentlich dadurch, daß der Mensch
die Gestalt des eigenen Leibes im Spiegel erblickt. Diese Gestalt wird
gesehen als Körpereinheit, exzentrisch, an einem anderen Ort. Die
Phase der frühen Not wird auf diesem Weg imaginär, illusionär,
durch den fundamentalen Entfremdungsakt der Wahnbildung Ich ist ein
anderer scheinbar überwunden. Die äußerliche Gestalt
ist jedoch ständig zerfallbedroht : sie ist antizipiert und stimmt
in keiner Weise mit dem inneren Erleben des Kindes vor dem Spiegel überein.
Die lebendige Leiblichkeit bleibt zerstückelt und gefährdet.
Im Moment der Spiegelentfremdung konstituiert sich aus der Angst, die
Gestalt, das Ich könne wieder auseinanderfallen, das Phantasma
des zerstückelten Körpers. Es sind eine »ganze Reihe
von Phantasmen, die die Zerstückelung des Körpers imaginieren,
und in regressiver Richtung von der Ausrenkung und Zerteilung über
die Entmannung und das Bauchaufschlitzen bis zum Gefressen- und Begrabenwerden
führen. Die Untersuchung dieser Phantasmen zeigt, daß sich
ihre Reihe einer Form des zugleich zerstörenden und erforschenden
Eindringens einschreibt, das aufs Geheimnis des Mutterschoßes zielt«51
Es ist eine Welt »sogenannter partialer Bilder, die alleine auf
einen ersten Archaismus bezogen zu werden verdienen«52
Als archaische Bilder beziehen sie sich auf die Herkunft des Individuums
und imaginieren den mütterlichen Ursprung. So liegt auch im Spiegelstadium
latent die Beziehung zur Mutter vor. Die Phantasmen der Zerstückelung
ermöglicht allein die frühe Mutterbeziehung und das Erleben
der Ablaktation. Das Objekt der Phantasmen aber ist das notgeborene Ich
: »In ihnen gilt es das narzißtische Objekt zu erkennen«53,
die imaginäre Ganzheit, der das Subjekt »eine Abwehrfunktion
gegen die Angst vor vitaler Zerissenheit gibt«54
Das Ich, insofern der Leib als Bild es repräsentiert, ist also der
Gegenstand des Zerissenwerdens. »Die Untersuchung dieser Phantasmen,
die man in den Träumen und in bestimmten Impulsen findet, erlaubt
die Behauptung, daß sie sich auf keinen wirklichen Körper beziehen,
sondern auf ein heteroklites Mannequin, eine barocke Puppe, eine Gliedertrophäe«55
Auf imaginärer Ebene erfüllt das
Phantasma so weiterhin die Funktion des Verkennens, die bereits der exzentrischen
Wahnbildung Ich zukam. Denn nach Lacan stellt das Phantasma »immer
nur einen Schirm dar, dessen Funktion es ist, ein absolut erstes ... jedem
Zugriff zu entziehen«56
Phantasmen erreichen so nie den wirklichen, mütterlichen
Ursprung. Auf diesem Schirm erscheint der zerstückelte Körper
»regelmäßig in den Träumen, wenn die fortschreitende
Analyse auf eine bestimmte Ebene aggressiver Desintegration des Individuums
stößt. Er erscheint dann in der Form losgelöster Glieder
und exoskopisch dargestellter, geflügelter und bewaffneter Organe,
die jene inneren Verfolgungen aufnehmen, die der Visionär Hieronymus
Bosch in seiner Malerei für immer festgehalten hat ... Aber diese
Form erweist sich als greifbar im Organischen selbst, an den Bruchlinien
nämlich, welche die phantasmatische Anatomie umreißen und die
offenbar werden in Spaltungs- und Krampfsymptomen, in hysterischen Symptomen«57
Die Ichbildung, vollzogen als Differenzsetzung zu einer Notsituation,
imaginiert sich entsprechend »in Träumen als ein befestigtes
Lager, als ein Stadion, das — quer durch die innere Arena bis zur
äußeren Umgrenzung, einem Gürtel aus Schutt und Sumpfland
— geteilt ist in zwei einander gegenüber liegende Kampffelder,
wo das Subjekt verstrickt ist in die Suche nach dem erhabenen und fernen
inneren Schloß ... Wir finden diese Strukturen einer Befestigungsanlagen«
in Mechanismen, »die der Zwangsneurose zugeschrieben werden«58
Die Welt der Traumbilder ist eine einsame
Welt, der Narkissosmythos zeigte das Ausweglose der Spiegelverhaftung
und daß das imaginäre Trugbild Ich eine Sackgasse darstellt.
Auswege findet das Subjekt auf anderer Ebene als der imaginären.
Der Zugang dazu läuft über die Sprache und Symbolisches. Die
Anfänge des Sprechens richten sich auf Abwesendes, dessen das Kind
zum Überleben bedarf. Sprache und Sprechen sind bei Lacan unterschieden;
die Sprache stellt das allen gemeinsame Gerüst, die Grammatik, die
Wörter zur Verfügung — sie ist für den Menschen immer
schon da. Sprechen ist mehr die subjektive Bedeutungsverleihung, zielt
mehr auf den Akt des Sprechens. Das Abwesende stellt in der frühen
Phase ein irgendwie geartetes mütterliches Objekt, eine Pflegeperson
dar. Die Phase der Not zwingt zum Sprechen, zu einer Äußerung
der Bedürftigkeit, zum Symbol. »Es bleibt, daß es ein
menschliches Wesen ist, daß es geboren ist in einem Zustand der
Ohnmacht und daß, sehr verfrüht, die Wörter, die Sprache
ihm als Appell gedient haben, und zwar als einer der jämmerlichsten,
da es von seinen Schreien abhing, ob er genährt würde«59
Die ersten Schritte zur Sprache gehen so über einen existentiellen
Mangel, bezeichnen und richten sich an das abwesende Objekt des Bedürfnis-Ernährungsbezuges.
»Wenn man definieren soll, in welchem Augenblick der Mensch menschlich
wird, so kann man sagen, daß es in dem Augenblick ist, wo er, noch
so wenig, in die symbolische Beziehung eintritt«60
Von der Mutter ist das Kind durch die Geburt auf ewig getrennt und ein
Mangel in die menschliche Existenz eingeführt. Indem der Mensch zum
Individuum wird, abgetrennt vom anderen, ist er mit dem Mangel der Unvollständigkeit
behaftet. Der erfordert, um ihn zu stillen, Äußerung; die Bedürftigkeit
ermöglicht so erst überhaupt Beziehung zum anderen; der Säugling
fordert durch sein Schreien eine Antwort der Mutter. Und egal wie, egal
was sie tut : die Mutter antwortet immer, sie gibt dem Säugling stets
zu verstehen, was sie denkt, daß er sei. Im Gegensatz zum Spiegelbild,
das höchstens zerfließt, aber nichts sagt.
VII. Die Dimensionen
des Tragischen
Die
Frage nach dem Tragischen ist die nach dem, was unter oder hinter dem
Schein der Erscheinung liegt, der das Ich oder das Individuum sein kann.
Die Körperauflösung, die Fragmentierung und Zerstückelung
in partiale Bilder, liegt immer noch auf dem Schirm des Imaginären.
Es wär eine Negativgestalt zu suchen, ein Etwas, das nicht mehr anzuschauen
wäre, eine Gestalt des Todes, die sich dem Blick entzieht. Nach Lacan
gibt es eine Art von Erleben des Todes in der Phase ursprünglicher
Not, die sich in den Phantasmen der Zerstückelung reflektiert und
die imaginiert wird. Kurz vor dem Erwachen der Erkenntnis denkt das Leben
»nur daran, soviel wie möglich zu ruhen, indem es den Tod erwartet.
Das zehrt die Zeit des Säuglings zu Beginn seiner Existenz auf, in
stündlichen Abschnitten, die ihn von Zeit zu Zeit nur ein Äuglein
öffnen lassen«61
Der Mensch wird, um leben zu können, aus dem Zustand herausgerissen,
in dem er an Schlafen und Sterben denkt. Und »vielleicht
träumen«62
Und was am Ende der Existenz »in jenem Todesschlaf für Träume
kommen mögen, wenn wir dies sterbliche Geschlinge losgeworden sind,
das muß uns zögern machen«63
Das Hamlet´sche Zögern, das zum Weiterleben zwingt. Untergründig
ist das Leben unterhöhlt. »Wenn wir vorstoßen zur Wurzel
dieses Lebens und hinter das Drama des Übergangs zur Existenz, dann
finden wir nichts anderes als das dem Tod vermählte Leben«64
Lacan greift anhand Ödipus´ Tod
in Sophokles´ Tragödie Ödipus auf Kolonos die
tragische Weisheit des Silenos, nicht geboren zu sein ist das Beste,
auf. Theseus, König von Athen, begleitet Ödipus zu dem Ort,
an dem sich sein Schicksal vollenden soll : der Tempel der Eumeniden (der
ehemaligen Erynien, die befriedet in Athen ihr Heiligtum besitzen) auf
Kolonos. Ein Beobachter der Szene berichtet : »...nicht lange darauf
... sahen wir genau, daß von dem Manne [Ödipus] schon nichts
mehr vorhanden war, nur noch der König, der, die Augen bergend, sich
die Hand vors Antlitz streckte, als erschiene ihm ein Bild des Schreckens,
unerträglich anzuschaun«65
Was Theseus gesehen hat, wird nicht berichtet. »Man hat nicht den
Eindruck, daß das etwas ist, das zu sehen nicht eben spaßig
ist, eine Art Verflüchtigung der Gegenwart dessen, der seine letzten
Worte gesprochen hat«66
Um ein Bild des Unansehbaren zu entwerfen, greift Lacan ein literarisches
Bild von Poe aus Die Tatsachen im Falle Valdemar auf. Hintergrund
aller Imaginationen des menschlichen Geschicks ist das Bild des Todes,
»ist ... bloß noch eine ekelerregende Flüssigkeit, etwas,
das in keiner Sprache einen Namen hat, die nackte, reine und einfache,
brutale Erscheinung jener Gestalt, der man nicht ins Antlitz blicken kann
... die jenseits aller Benennung ist und für die das Wort Aas völlig
unzureichend ist, das totale Einsinken jener Art von Blähung, die
das Leben ist — die Blase bricht und löst sich auf in eitrige,
leblose Flüssigkeit«67
Hintergrund der Imaginationen des Menschengeschicks ist das Unansehbare,
die Todesgestalt. Die Todeserfahrung in der ursprünglichen Not zeigte
sich jedoch verbunden mit Mutterbrustimaginationen. Gleichzeitig mit dem
Drama, das zur Existenz führt und zur Ichkonstituierung, wird eine
fundamentale Abtrennung zur Mutter gesetzt. Der neugeborene Andere (das
Ich) ersetzt die Ganzheit, die vorher in der Mutter repräsentiert
war, von ihr erhofft wurde, deren unmögliche Forderung sie aber nicht
erfüllen konnte. In den frühesten Phantasmen über die intrauterinäre
Existenz wird sie zum paradiesischen Ort, als Objekt der Trennung zum
Ort des Grauens.
Wird nicht der Tod — das Ende der
Existenz — und die Mutter — deren Beginn — äquivalent
? Und wenn die primäre Erkenntnis des Menschen darin bestehen sollte,
daß er sterblich ist, ist es dann nicht die Mutter, die in der ersten
Trennung den Tod brachte ? Und wenn aus dieser Phase der Not sich das
Ich bildete, um den Menschen zu täuschen und ihn (v)erkennen zu lassen,
als Abwehrfunktion, stellt sich dann nicht jede Erkenntnis als Abwehrhandlung
gegen die Mutter, den mütterlichen Ursprung dar ?
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