Hugo Hertwig
1919

Morgenröte.
(Einleitung zu einem Drama.)

Nur auf dem lebendigsten Wege können wir vorwärts kommen. Dieser Weg wird immer wieder in jedem Augenblick charakterisiert durch irgend einen Menschen. Durch irgend einen Menschen der begriffen hat, daß ihn jeder Gedanke quält, weil er tot ist, Jahrhunderte, Jahrtausende hinter ihm liegt. Daß dieser Gedanke aber einmal geboren wurde durch ein lebendiges Ereignis. Deshalb widersprechen die Lebendigen allen Gedanken allen Gefühlen, sie wollen nicht mehr erben. Sie haben begriffen, daß es für sie keine Wissenschaft, keine Philosophie, keine Kunst mehr gibt, daß das nur eine Ueberlieferung des Lebens ist, aber nicht das Leben selbst. Sie haben begriffen, daß die lebendigsten Stunden ihres eigenen Lebens eine neue Wissenschaft, neue Philosophie und neue Kunst von selber schaffen werden, wenn diese Dinge überhaupt noch möglich sind. Deshalb zerstört ihr Leben alles. Was bis zur Stunde überliefert ist, sie sind in den Tod verliebt, der immer unmittelbar dem Lebendigsten vorausgeht. Sie haben begriffen, daß solange noch ein Gegenstand, ein Gedanke der Vergangenheit existiert, ihr eigenes Leben mangelhaft ist. Deshalb sind die Lebendigsten entschlossen, alles zu zerstören, was sich bis zur Stunde ereignet hat. Sie verzichten auf ein Leben, das sich von den Exkrementen der Jahrhunderte nährt. Die Lebendigsten stecken in den Proletariern aller Qualitäten, d. h. unter denen, die bis zur Stunde noch nie etwas besessen haben, für die das Leben eine Schande war. Die in diesem Zustande aber begriffen, daß nur die Armut den Geist nährt, der Besitz aber ihn lähmt und verzehrt. Die Lebendigsten haben es durchgemacht, daß der Mensch verarmt, wenn er mit dem Geist allein um Liebe ringt. Sie haben begriffen, daß man bis zur Stunde mit dem Geist des Prometheus ein schmähliches Geschäft getrieben, daß man das Feuer, das Gold der Sonne, das man zur Erleuchtung der Menschen einst raubte, in ein Sold verwandelte um sie zu betrügen. Die Lebendigsten haben begriffen, daß der Mensch in der ganzen Welt beraubt und geplündert wird durch jede Einrichtung eines Staates, durch jeden Gedanken, durch jedes Geschäft, um ihn aufzuhalten bei dem großen Experiment, das wohl jeder mit der geringen Zahl seiner Jahre vollbringen möchte, sich zu erlösen, d.h. sich selbst zu emanieren. Denn es gibt nirgends eine Einbildung, die nicht lebendig zu überschreiten wäre. Jeder Gedanke, jede Vorstellung, jede Fantasie ist nur ein Zeichen dafür, wie schwach die lebendige Kraft des Menschen geworden ist, wie wenig er riskiert. Das Leben aber, das in deine Hand gelegt ist, mußt du riskieren, es gibt keine Vorstellung des Todes, die dich dabei aufhalten könnte, denn du bist auferstanden von den Toten in der Stunde, in der du fällst. Die Lebendigsten haben begriffen, daß der Besitz aller Qualität in der ganzen Welt das Bollwerk der von diesem Geiste durchdrungen ist, alles verliert, und die Proletarier aller Länder wollen sich vereinigen, um einen neuen Geist zu versuchen. Aeußerlich und innerlich verlangen sie nach neuer, nach besserer Nahrung. Sie wissen, daß auch der äußerlichste Umstand ihres Lebens, z.B. die Zahl ihrer Arbeitsstunden nur innerlich geregelt werden kann. Sie wissen, daß der Mensch innerlich nur dadurch frei wird, daß er äußerlich nicht mehr herstellt als das beste was zum Leben notwendig ist und das immer das Primitivste sein wird. Ueberall in der Welt ist deshalb der Besitz das Zeichen der Vergewaltigung des Geistes. Wir wollen, daß die Welt verarmt. Erst dann wird unsere Vergangenheit sterben und wir selber innerlich reif werden. Nur auf dem lebendigsten Wege wird der Mensch geboren, für den es keine Erinnerung, kein Gedächtnis, keinen Traum mehr gibt. Noch hat keiner den Lebendigen begriffen. Es handelt sich nicht darum, Verbrechen zu bestrafen, sondern immer bessere zu erfinden. Denn das Verbrechen ist wie jede Krankheit ein Fortschritt, es will einen neuen Zustand gegen den wir uns wehren. Noch ist keinem äußerlich was genommen worden, was ihm innerlich gehörte. Noch ist keiner getötet worden, der nicht reif war, die Krüppel des Krieges werden uns erzählen können, warum sie ihre Glieder verloren. Jeder Verlust hat einen inneren Grund und es ist sehr bequem uns einen äußeren dafür vortäuschen zu wollen. Mitleid ist die größte Sentimentalität die sich denken läßt. Der Krieg und die Revolution sind das äußerliche Zeichen dafür, daß die christliche Zeit innerlich wirklich zum ersten Mal überschritten ist. Unsere Diebe, Mörder, Heilige, Verbrecher und Gespenster züchten wir uns selbst. Ihr habt noch nicht begriffen, daß das Leben in jedem Augenblick ein himmelschreiendes Verbrechen ist, wenn es wirklich weiter rollt. Jeder muß sich die Büchse umwerfen, Jagd auf sich machen, sich niederschießen bevor es zu spät wird, denn immer wieder tritt der Geist dort auf, wo alles wüst und leer ist. Deshalb werde ich immer wieder den lebendigsten Weg betonen, es gibt keinen anderen Weg, solange ich und du existieren. Wenn er kommt ist alles monumental. Ich habe in der letzten Arbeit die Scheiterhaufen errichtet, die in allen Ländern in den Himmel stürmten, übertürmt von den Toten, die dem Krieg vorausgingen, die in den Gräben geschlachtet wurden, die in der Revolution auf den Barrikaden starben. Jetzt will ich die Gedanken herumwerfen, und von der berauschenden blühenden, duftenden Wucht der Leichenreden, die das Beste destillieren, was die Erde kennt: Gift. Jeder Stein, jeder Baum, jedes Tier, jedes Gestirn verkörpert diesen Gedanken. Ich will von ein paar Tagen im Mai sprechen, als die Erde unter der Last der Sonne wankte und die toten Gebäude krachten. Als die Sonne in die Steine, die Bäume, die Tiere, die Blumen stürzte, die so zahm und träge geworden. Als die großen Farben durch den Raum krachten, hast du einmal das Licht krachen gehört, die blaue Farbe, die die Augen verdirbt, wo wären deine Augen geblieben. Diese paar Tage sind versenkt und verbrannt, der große blaue Sprung ging mitten durchs Gesicht und steil auf den Lippen standen die Zähne. Wir sind der Erde alle zu schwer und zu träge geworden, wir fliegen nicht, also verbluten wir. Wir sind in Gefahr zu verstocken, das neue Jahrhundert der Proleten aber wird nach Farbe, Blütenduft, nach Wind und Luft und intensiver bestimmt, das A B C ist vergriffen. Jedes Wort barock und Ruine. Du sitzt abends im Zimmer, vor dir ist ein Balkon in die Nacht getrieben, darauf stehen Menschen: verkohlt und verbrannt. Grauen packt dich: Asche und Erde. Schlag zu, jeder Hieb wird blau, noch im Tode wird der Mensch, dieser Hund, gesalbt. Vor dir aber wälzen deine Augen die Erde, dein Kopf übertürmt die Gebirge, laß sie ein paar Tage in wogenden Guirlanden stehen, feier die Feste der Toten. Jeder Baum ist giftig und grün, sag, daß die Erde verreckt und erleichtert. Ein Sommer kommt, so heiß, so intensiv, daß jeder Turm verstummt und zerspringt, nur noch die Schilder und Speere der Insekten, der Libellen funkeln. Blaue Reben auf Kalk und Granit. Metall der Wein, berauschendes Schwert der gährenden Felsen, Trunkenheit die Schneide und Tod. Stahlblau lag eines abends im Felde in der Champagne Tagnon vor mir, ein Nest, das noch zu donnern und zu blitzen verstand. Wer aber nimmt diese Waffen in die Hand. Die Erde muß gegürtelt und getragen werden. Was der Mensch anlegt, ist kein Geheimnis, keine Macht mehr. Kein Stein, kein Band, das erschüttert. Nur noch in der Ferne sind die Gewänder der Frauen Zauber, Blüte, Farbe, Duft, Luft. Einst aber waren sie Rätsel, die keiner verstand. Sie trugen was sie gedacht: lebendigen Schmuck, sie wurden größer, sie gingen aus sich heraus, in sich hinein, ihr Leib war eine Treppe, ihr Kopf ein Sieb. Blaue unendliche Steine und Gewänder, Musik, die keiner riskiert, als man das noch sah, was man heute sieht. Jedes Hinterteil ein Biß, der Paradiese trieb. Heute in jedem D-Zug die kotzenden Gespenster, Landschaft, die im Magen schlingert und mißrät. Die Gespenster vor allen Schüsseln donnern und tellern über die Elbe, über den Rhein. Sie spüren nicht den Verwesungsprozeß, sie greifen von einer Frucht zur anderen und merken nicht, daß sie mit allem was sie hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen, diesen Prozeß unendlich beschleunigen, sie können sich nicht davon trennen. Sie sind in den Tod verliebt und verrückt, spotten über die Mörder, die sich an anderen und immer wieder an sich selbst vergreifen, über diese Menschenschlächter, die begriffen, daß es in jeder Sekunde ein Opfer gibt: Ich oder Du. Sie spotten über diese Helden und Riesen, die jeden, der ihnen begegnet, aus den eigenen Rippen schneiden. Immer größere Figuren. Sie staunen über den Schatten, der unendlich groß im Raume wirkt. Sie schauen in den Himmel und sagen blau, aber sie begreifen die Riesen nicht. An kleinen, fliegenden Tischen verwesen sie unendlich rasch. Wo bleibt das Gift? Es treibt und wandert die Erde, und die Menschen stecken sich an. So weit ist heute der Prozeß schon vorgeschritten, daß der Gedanke immer fühlbarer wird: Aufräumen unter den Menschen, ihre Nahrung vergiften, ihre Gedanken verwirren. Aber jeder Gedanke ist überholt, der Prozeß im vollen Gange, unser Leben in jedem Augenblick ein Nachtrag. Aber wer das begreift, der schneidet sich mit jeder Handlung leichter ins Herz, denn wer möchte im Grunde seines Herzens wohl erben. Man sollte die kleinen Kinder tot treten, wo man sie trifft, nur wilde Tiere sind barmherzig, alle großen Verbrecher hülflos, denn der, welcher heute wirklich helfen will, kann es nicht mehr, wir haben schon viel zu lange gezögert, das ist charakteristisch für den ganzen Organismus. Es wird immer deutlicher, daß einzelne Menschen so intensiv gelebt haben, daß alle Vorstellungen des Todes überschritten sind. Für solche Menschen gibt es keine Sentimentalitäten mehr, sie werden jeden Tag geboren, sterben jede Nacht. Ein Mangel ist das Bewußtsein, das nur verzögert, jedes Wort tritt gegen unseren Willen in den Mund. Aber die Fantasie, die läßt uns nie im Stich. Der große Organismus der Luft, des Wassers, der Steine, der Bäume, der Tiere, der Pflanzen, der Gestirne, kurz, alles dessen, was unsere Vergangenheit ausmacht und unendlich weit hinter uns liegt, das ist phantastisch, und wenn du innerlich davorstehst, dann ist die Wirkung da, die ganz tiefen und stillsten Erschütterungen. Erst wenn ich sage, alle diese Dinge gehen von mir aus, werde ich der Phantasie gerecht. Die Punkte, in denen der große Organismus sich schlägt, sind geheimnisvoll und mir tief verbunden, ununterbrochen, ob ich esse, trinke, schlafe usw. Es sind Dinge, die irgend eine Vorstellung, welche heute in jedem Moment von meinem Kopf rekapituliert wird, einst emanierte, und deshalb kann ich ohne weiteres nach meinen Organen die Welt gliedern, denn diese Organe sind die Reste der Vergangenheit. Diese Organe sind also genau wie eine Milchstraße, die ich über mir erkennen kann, lebendige Wege, die ich ausschied, Formen, in denen ich einst existierte, die heute noch bis ins kleinste in den neun Monaten der Geburt eines Kindes wiederholt werden. Und noch heute ziehen auf jedem Weg der Organe Millionen Menschen. Es ist also klar, daß jene Vorstellung, die den Menschen einst emanierte, noch immer wiederholt wird, wir sollten uns nicht durch die Variationen täuschen lassen. Und wenn ich an die äußerste Grenze gehe, wen anderes sollte ich finden, der mich emanierte als mich selbst; die Erde ist analog. In dem Sinne ist jedes Wort ein Spiegel, ein Reflex, der Zustand in dem wir existieren, ein Komplex konzentrischer Spiegel, Vexierbilder. Jeder Organismus bis ins kleinste gedacht, der uns umgibt, sucht sich selber aufzufressen, d. h., seine eigene Idee zu überschreiten. Innerlich werden wir dieses Problem lösen. Es ist schon so weit gelöst, daß wir ununterbrochen auf allen organischen Wegen die Erde selbst in den Mund nehmen: Essen. Würde es uns gelingen, von innen heraus eine neue Nahrung zu finden, so wäre der nächste Zustand da. Der Krieg und die Revolution haben im Grunde wieder einmal diesen Versuch gemacht, so undeutlich er auch noch ist und so sehr wir dabei verhungert sind. Wir machen aber diesen Versuch in jedem Moment, in dem wir Hunger bekommen. Der Hunger wird innerlich hervorgerufen, wir enttäuschen in jedem Augenblicke unserer Seele, denn was drängt sich uns nicht alles unbewußt in die Hand, in den Mund, in den Magen, ununterbrochen werden Krankheiten provoziert. Wir leben in jedem Augenblick von Resten, von denen was wir einst selber fabrizierten, wir haben noch nicht die Erde selbst gepackt, ihre Wärme, ihren Dampf, ihr Wasser usw. noch nicht gebeugt. Noch existieren nicht die großen Systeme von Ebbe und Flut, der Energie der Sonne usw. Der Mensch stirbt, weil ihm die Nahrung ausgeht, weil er nicht von sich selbst leben kann, seine Gefühle, die er verrät, bringen ihn um. Die Phantasie treibt uns auf die Pferde, auf die Schiffe, in den Tod, sie ist allen Tyrannen überlegen. Wir müssen anfangen, uns selber Angst und Bange zu machen, jede Krankheit entsteht von innen heraus, auch der Tod. Die Krankheit ist der erste Versuch eines neuen Zustandes, der Tod der gründlichste. Je tiefer, je sicherer das Leben, desto rascher die Verwandlung. Sind unsere Leidenschaften auf der Höhe, dann werden wir das, was wir im Grunde sein können. Laßt euch durch keine Komödie aufhalten. Unsere kindliche Seele läßt sich nicht beirren, nicht verlächeln, wir sind immer arm, deshalb arbeiten wir. In der Tiefe des Lebens sind die innerlichsten und äußerlichsten Dinge identisch. Den tiefsten und aufrechsten Gedanken entspricht die tiefste Armut, sie wird immer verborgen bleiben und ihre Sehnsucht nach Liebe wird immer tiefer sein, als das du helfen könntest. Rings um uns herum wird immer der Versuch gemacht, uns gegenüber zum Abfall zu bewegen, jeder Erfolg ist Verrat, nie ist der Beifall ehrlich, nie kann dir ein Mensch zustimmen, der nicht in dir selber existiert. Der Aufrichtige greift immer an. Alle Begeisterung ist Unfug. Wir brauchen Karten, Würfel, Becher, die Spieler aller Qualitäten. Eine Leidenschaft, die die Menschen ansteckt und ihnen das Leben raubt. Unser Zweck und unser Ziel wird immer blödsinnig sein, aber unsere Tollkühnheit, die regt auf und verwirrt. Die Welt soll über die Tische rollen.

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