Henri
Murger — übersetzt von Margot Brink — In Paris
gibt es mittlerweile mehr Dichter als Straßenlaternen. Und sorgte
die Polizei nicht für Ordnung — so stiege die Zahl ihrer noch
von Tag zu Tag an. Nur wenigen Häusern der Hauptstadt bleibt die
Anwesenheit eines solchen literarischen Propheten vorenthalten. In Dachkammern
hausend, hindern sie durch die Konvulsionen und Koliken ihres nächtlichen
Wortrausches die Nachbarn am Schlaf. In das Nest eines solchen Regenrinnenvogels,
der jahraus jahrein zwei oder dreitausend Verse ausbrütet, werden
wir den Leser nun führen. |
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Melchior hatte außerdem
eine fixe Idee. Zum Andenken an seine erste Liebe wollte er ein überwältigendes
dichterisches Denkmal errichten, dem er den Namen seiner Geliebten voranzustellen
gedachte, um ihn gleich denen von Laura und Béatrice der Nachwelt
zu überliefern. Seit zwei Jahren arbeitete er an diesem Gedicht und
schrieb nicht eine Strophe, in der er nicht zwei Weiden pflanzte und eine
Aureole aufscheinen ließ. Jedesmal, wenn er seinem Liebesgedicht
gut hundert neue Verse hinzugefügt |
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hatte, bat er seine Freunde zu Abendgesellschaften,
wo man ungefiltertes Wasser trank, und las ihnen seine neuen Elegien
vor, denen man mit wilder Begeisterung applaudierte. |
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Bewunderer der Vergleich
zu seinen Gunsten aus, war er zufrieden und nahm widerspruchslos die Überlegenheit
an, die man ihm zuerkannte. Diese Versammlungen gaben ein höchst
eigenartiges Bild ab : ein zusammengewürfelter Haufen von Elendsgestalten,
faul wie neapolitanische Bettler, der vollkommen humorlos mit den ernsthaftesten
Fragen der Kunst jonglierte und sich prätentiös in den Mantel
seiner heiligen Misere hüllte. Diese Abende endeten in aller
Regel damit, daß aus Alfred de Vignys Chatterton mit lauter
Stimme vorgetragen wurde. — Gerade mit diesem Buch war es Melchior
vollends gelungen, seinen Geist zu berauschen; und wie viele junge Menschen
hatten gleich ihm aus diesen leidenschaftlichen Seiten das Gift der Eigenliebe
getrunken ! Chatterton ist sicher ein schönes Drama — aber sein Erfolg wird oft, wie ein Schuldgefühl schwer auf dem Bewußtsein des Autors gelastet haben, der jedoch den gefährlichen Einfluß hätte vorhersehen müssen, den dieses Werk auf schwache Geister und ruhmerpichte Gecken ausüben würde. Chatterton ist eine dieser Schöpfungen, die über die verführerische Anziehungskraft des Abgrunds verfügen, und dieses Stück, das in dramatischer Form letztlich nichts anderes ist als die Apotheose von Stolz und Mittelmaß, die im Selbstmord endet, hat vielleicht schon viele ins Grab gebracht. Mit Gewißheit aber haben die Aufführungen von Chatterton diese jämmerliche Schule weinerlicher und fatalistischer Poeten hervorgebracht, gegen die die Kritik nicht heftig genug gewütet hat. Wie gesagt, Melchior und seine Freunde gehörten zu dieser Bande, und sie hatten zu ihrem Gebrauch |
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folgende eigentümliche Maxime erfunden : Das
Elend ist der Nährboden des Talents. Obgleich sich mehrere
Gelegenheiten geboten hatten, durch die Melchior aus seiner mißlichen
Lage sich hätte befreien können, bestand er eigensinnig darauf,
in ihr zu verharren; dieses Elend, so sagte er, sei ein Schatten, der
seine zwei Sterne glänzender erstrahlen ließe : die Poesie
und die Erinnerung an seine erste Liebe. O ja, das Elend, das Elend !
Schönster Anlaß zu Klage und Loblied — beides findet
sich ganz wunderbar und natürlich darin ! —
Melchior fand sogar sein Elend noch nicht vollkommen genug. Martyrium,
dieser Krone fehlte noch ein Stachel — wie er es zuweilen pries,
wenn er das Schicksal anflehte, das sich ihm gegenüber so mild zeigte,
während es doch so unbarmherzig mit seinen Brüdern verfahren
war. Schließlich sehnte sich Melchior gar nach dem Spital und wünschte
nichts sehnlicher als eine anständige Krankheit, die es ihm seinerseits
erlauben würde, auf einem kümmerlichen Lager des Hôtel-Dieu
eine Hymne auf den Schmerz zu singen. Aber das Schicksal verweigerte ihm
diese Genugtuung, und trotz aller möglichen Entbehrungen, unter denen
er litt und die er sich zuweilen sogar selbst auferlegte, verlieh seine
robuste Gesundheit seinen Allüren als elegischer Poet ein rosiges
Dementi. Aber Melchior war hartnäckig, und als er begriff, daß
das Schicksal ihm den Ruhm, im Bett von Gilbert zu leiden, versagte,
verfiel er auf einen ebenso lächerlichen wie gewagten Plan, um sich
die Pforte zum Asyl der Schmerzen zu öffnen. Zwei Wochen
lang unterwarf er sich einer Diät, die selbst Atlas schwindsüchtig
gemacht hätte. Und mit Hilfe eines Medizinbuches studierte er —
um sie möglichst genau zu simulieren — die Symptome einer Krankheit,
die sich in ihren Anfängen nur durch eine allgemeine Entkräftung,
begleitet von einem leichten, aber steten Husten, manifestiert. Als er
glaubte, seine Rolle als Schwindsüchtiger genügend zu beherrschen,
um vor dem Urteil der Wissenschaft zu bestehen, beschloß Melchior,
sich der Untersuchung im Hôtel-Dieu zu stellen. Am Vorabend des
Tages, den er für seine Vorhaben gewählt hatte, rannte er bei
gräßlichem Wetter etwa zehn Meilen durch die Umgebung von Paris,
so daß, als er schließlich das Spital erreichte, er ganz und
gar einem Lungenkranken glich, hatte doch die Erschöpfung ihn so
gut gezeichnet und war ihm von der Kälte ein so schöner Schnupfen
verpaßt worden ... Als es schließlich an ihm war, in das Untersuchungszimmer
einzutreten, hätte er liebend gern hundert seiner schönsten
Verse gegeben, um ein bißchen Blut zu spucken. Aber sein Aussehen
war so fürchterlich und die Angst, daß seine List aufgedeckt
werden könnte, hatte ihm ein so schönes Fieber beschert, daß
der Arzt ihm auf der Stelle die Einweisung unterzeichnete. — Was sind Sie von Beruf ? erkundigte er sich. — Ich bin Dichter, mein Herr, antwortete Melchior, indem er eine schicksalhafte Pose einnahm, das heißt, einer dieser Unglücklichen, die die Brutalität dieses Jahrhunderts mitleidlos in jegliches Elend entläßt und die ... — Schon gut, schon gut ! Legen Sie sich hin, mein Freund, diesmal werden Sie nicht daran sterben. Ein Kandidat der Akademie, der, soeben gewählt, das erste Mal seinen Sitz einnimmt, könnte nicht glücklicher sein als Melchior es war, indem er den Krankensaal betrat. |
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Endlich, sagte er zu sich und sank in ein blendendweißes Bett,
bin ich nun also auf diesem entsetzlichen Lager menschlicher Leiden,
und augenblicklich begann er eine Ode An das Hospital. Sein Ziel
war folgendes : wäre die Ode erst einmal beendet — und er war
überzeugt, sie würde sublim sein — datierte Melchior sie
vom Ort der Schmerzen aus und schickte sie der Revue des
Deux-Mondes, die sich beeilen würde, sie zu drucken —
das verstand sich ! Die abgedruckte Ode riefe allgemeine Bewunderung hervor.
Die Presse, die Öffentlichkeit, jedermann würde sich sorgen
um diesen Martyrer-Poeten, diesen zweiten Gilbert, diesen Bruder Moreaus,
der im Sterben lag auf diesem unwürdigen Elendsbett usw. usw. Und
dann — das verstand sich ebenfalls — würde man Melchior
aufsuchen an seinem Bett des Leidens. Die feinen Damen kämen
in ihren Kutschen, um auf die Wunden seiner Seele den Balsam ihrer Tröstungen
zu träufeln. Selbst die Deputiertenkammer würde in Bewegung
geraten, der Minister angerufen werden und Melchior eine Pension zugestehen,
um das Lärmen der liberalen |
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Zeitungen zum Schweigen zu bringen, die aufschreien
würden : Noch ein großer Dichter, der elendig zugrunde
geht ! Die Verleger kämen in Scharen und stritten um die Ehre,
Melchiors Verse drucken zu dürfen. Sein Name würde berühmt
und im ganzen Universum gepriesen werden, und den Wert des begehrten
Lorbeerkranzes in die Höhe treiben. Dies waren ernsthaft Melchiors
Erwägungen. Acht Tage lang arbeitete er also an seiner Ode, die,
als sie beendet war, nicht weniger als dreihundert Verse zählte.
Ein Sammelsurium aus vulgärem und anmaßendem Zeug, eine dithryambische
Elegie, die in eine abgedroschene Form gepaßt und in mittelmäßigem
Stil verfaßt war. Der Dichter schickte sie an eine große
Zeitschrift — und schlummerte sanft ein, seiner Sache gewiß.
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eröffnete, die ihn
zu den Sternen führten, und vor allem hing er mehr denn je seiner
fixen Idee nach, die, wie man weiß, darin bestand, für jene
ein poetisches Denkmal zu errichten, die die ersten Früchte seines
Herzens besessen hatte. Es fehlten ihm nurmehr fünfhundert Francs,
um diesen schönen Traum wirklich werden und seine Elegien drucken
zu lassen. Eines schönen Morgens fehlte ihm nichts mehr : ein Onkel
aus der Bourgogne starb plötzlich — und eine Summe von zwölfhundert
Francs stürzte aus dem Testament des Onkels mit großem Getöse
mitten in das Elend des Neffen hinab, der, ehe man sich´s versah,
zum Verleger rannte, um sich mit ihm über den Druck seines Buches
zu verständigen. An dem Tag, als er die Fahne der ersten Seite seines Buches bekommen sollte, lud Melchior seine Freunde zu einer großen literarischen Soirée und bat sie, ihre Herzensdamen mitzubringen. |
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Er brauche, wie er sagte,
vor allem eine weibliche Zuhörerschaft. Die Freunde ließen
sich nicht bitten und am vereinbarten Tag, zur vereinbarten Stunde erschienen
sie, ein jeder gefolgt von der Seinen. Melchior trug einen schwarzen Frack
und eine weiße Krawatte mit melancholischem Knoten; gerade wollte
er, nach einer kleinen Ansprache an die Damen, den Vortrag seines schon
so oft gelesenen Gedichtes beginnen, als plötzlich ein weiteres Paar
verspätet in die Runde der Versammelten trat. Es war ein Freund Melchiors,
begleitet von seiner Liebschaft des Vorabends. Als Melchior diese Frau sah, stieß er einen lauten Schrei aus : — er hatte soeben sein Idol wiedererkannt, seine erste Geliebte, von der er glaubte, sie sei vor zwei Jahren in England gestorben, wohin sie ein barbarischer und eifersüchtiger Ehemann verschleppt hatte. Die Dame war sehr wohl in England gewesen; aber sie hatte keineswegs gezögert, ihren Ehevertrag über Bord zu werfen, und nach zwei Jahren in den Nebeln von London war sie nun seit drei Monaten zurück, um unter der Pariser Sonne ein galantes Künstlerdasein zu führen. Im Augenblick war sie nicht sehr glücklich, und gab ihrem früheren Geliebten, mit dem sie allein zurückgeblieben war, deutlich zu verstehen, daß sie ein Kleid und Schnürstiefel allen Gedichten der Welt vorzöge. |
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Am folgenden Tag machte
sich Melchior auf, um sein Manuskript zurückzuziehen ... *** |