Worte über
Weimar
Johann Göte :
Solide Fratze
vs.
Hypochondrische Masse
Der Selbstmord
ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber
schon so viel gesprochen und gehandelt sein als da will, doch einen jeden
Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt
werden muß. Montesquieu erteilt seinen Helden und großen Männern
das Recht, sich nach Befinden den Tod zu geben, indem er sagt, es müsse
doch einem jeden freistehen, den fünften Akt seiner Tragödie
da zu schließen, wo es ihm beliebe. Hier aber ist von solchen Personen
nicht die Rede, die ein bedeutendes Leben tätig geführt, für
irgend ein großes Reich oder für die Sache der Freiheit ihre
Tage verwendet, und denen man wohl nicht verargen wird, wenn sie die Idee,
die sie beseelt, sobald dieselbe von der Erde verschwindet, auch noch
jenseits zu verfolgen denken. Wir haben es hier mit solchen zu tun, denen
eigentlich aus Mangel von Taten, in dem friedlichsten Zustande von der
Welt, durch übertriebene Forderungen an sich selbst das Leben verleidet.
Da ich selbst in dem Fall war, und am besten weiß, was für
Pein ich darin erlitten, was für Anstrengung es mir gekostet, ihr
zu entgehn; so will ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich über
die verschiedenen Todesarten, die man wählen könnte, wohlbedächtig
angestellt.
Es ist etwas so Unnatürliches, daß
der Mensch sich von sich selbst losreiße, sich nicht allein beschädige,
sondern vernichte, daß er meistenteils zu mechanischen Mitteln greift,
um seinen Vorsatz ins Werk zu richten. Wenn Ajax in sein Schwert fällt,
so ist es die Last seines Körpers, die ihm den letzten Dienst erweiset.
Wenn der Krieger seinen Schildträger verpflichtet, ihn nicht in die
Hände der Feinde geraten zu lassen, so ist es auch eine äußere
Kraft, deren er sich versichert, nur eine moralische statt einer physischen.
Frauen suchen im Wasser die Kühlung ihres Verzweifelns und das höchst
mechanische Mittel des Schießgewehrs sichert eine schnelle Tat mit
der geringsten Anstrengung. Des Erhängens erwähnt man nicht
gern, weil es ein unedler Tod ist. In England kann es am ersten begegnen,
weil man dort von Jugend auf so manchen hängen sieht, ohne daß
die Strafe gerade entehrend ist. Durch Gift, durch Öffnung der Adern
gedenkt man nur langsam vom Leben zu scheiden, und der raffinierteste,
schnellste, schmerzenloseste Tod durch eine Natter war einer Königin
würdig, die ihr Leben in Glanz und Lust zugebracht hatte. Alles dieses
aber sind äußere Behelfe, sind Feinde, mit denen der Mensch
gegen sich selbst einen Bund schließt.
Wenn ich nun alle diese Mittel überlegte,
und mich sonst in der Geschichte weiter umsah, so fand ich unter allen
denen, die sich selbst entleibt, keinen, der diese Tat mit solcher Großheit
und Freiheit des Geistes verrichtet, als Kaiser Otho. Dieser, zwar als
Feldherr im Nachteil, aber doch keineswegs aufs Äußerste gebracht,
entschließt sich, zum Besten des Reichs, das ihm gewissermaßen
schon angehörte, und zur Schonung so vieler Tausende, die Welt zu
verlassen. Er begeht mit seinen Freunden ein heiteres Nachtmahl, und man
findet am anderen Morgen, daß er sich einen scharfen Dolch mit eigner
Hand in das Herz gestoßen. Diese einzige Tat schien mir nachahmungswürdig,
und ich überzeugte mich, daß, wer nicht hierin handeln könne
wie Otho, sich nicht erlauben dürfe, freiwillig aus der Welt zu gehn.
Durch diese Überzeugung rettete ich mich nicht sowohl von dem Vorsatz
als von der Grille des Selbstmords, welche sich in jenen herrlichen Friedenszeiten
bei einer müßigen Jugend eingeschlichen hatte. Unter einer
ansehnlichen Waffensammlung besaß ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen
Dolch. Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bette, und ehe ich das
Licht auslöschte, versuchte ich, ob es mir wohl gelingen möchte,
die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dieses
aber niemals gelingen wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf
alle hypochondrische Fratzen hinweg, und beschloß zu leben. Um dies
aber mit Heiterkeit tun zu können, mußte ich eine dichterische
Aufgabe zur Ausführung bringen, wo alles, was ich über diesen
wichtigen Punkt empfunden, gedacht und gewähnt, zur Sprache kommen
sollte. Ich versammele hierzu die Elemente, die sich schon ein paar Jahre
in mir herumtrieben, ich vergegenwärtigte mir die Fälle, die
mich am meisten gedrängt und geängstigt; aber es wollte sich
nichts gestalten : es fehlte mir eine Begebenheit, eine Fabel, in welcher
sie sich verkörpern könnten.
Auf einmal
erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode, und, unmittelbar nach dem
allgemeinen Gerüchte, sogleich die genauste und umständlichste
Beschreibung des Vorgangs, und in diesem Augenblick war der Plan zu »Werthern«
gefunden, das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine
solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte
des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich
in ein festes Eis verwandelt wird. Diesen seltsamen Gewinn festzuhalten,
ein Werk von so bedeutendem und mannigfaltigem Inhalt mir zu vergegenwärtigen,
und in allen seinen Teilen auszuführen, war mir um so angelegener,
als ich schon wieder in eine peinliche Lage geraten war, die noch weniger
Hoffnung ließ als die vorigen, und nichts als Unmut, wo nicht Verdruß,
weissagte.
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