G i a c o m o     L e o p a r d i

Die Natur verbietet den Selbstmord. Welche Natur ? Die unsre ? die heutige ? Wir sind von ganz andrer Natur, als wir waren. Vergleichen wir uns mit den Naturvölkern und sehen wir zu, ob sich jene Menschen zur selben Rasse zählen können wie wir. Vergleichen wir uns nur schon mit den Kindern, und wir kommen zum gleichen Ergebnis. Die Gewöhnung ist eine zweite Natur; vornehmlich eine so tief verwurzelte, eine so lange und in so zartem Alter begonnene, wie die Gewöhnung (eigentlich eine unendliche Menge verschiedenster Gewöhnungen), die uns zu etwas ganz anderem als zu natürlichen oder der ersten Natur des Menschen und der allgemeinen Natur der irdischen Lebewesen entsprechenden Menschen macht. Genug, wir könnten uns auch mit der größten Anstrengung in den Naturzustand nicht zurückversetzen, weder körperlich, was auf keine Art zu ertragen wäre, noch auch (gesetzt, es wäre körperlich, äußerlich möglich) moralisch und innerlich; was denn ja auch auf dasselbe hinausläuft, da wir nun einmal nicht mehr des Glückes genießen können, das von Natur aus dem Menschen zusteht, weil unser Inneres, unser Wesentliches, aus keinem Grund und durch keine Kunst wieder werden kann, wie es war. Was also hat nun hier in der Frage des Selbstmordes, und irgend sonst in unserm Zusammenhang, das Gesetz oder die Absicht einer Natur zu sagen, die nicht nur nicht die unsere ist, sondern auch, wenn wir noch wollten und es auf alle Weise betrieben, nicht die unsere sein könnte ? Die Frage ist also, was wohl die Absicht, der Wunsch der zweiten Natur sei, die wirklich die unsere und die heutige ist. Sie aber, weit entfernt, sich dem Selbstmord zu widersetzen, kann nur zu ihm raten und inständig nach ihm verlangen; denn auch sie haßt vor allem das Unglück und spürt, daß sie ihm allein durch den Tod entgehen kann, und erträgt es nicht, daß sein Säumen ihre Leiden verlängert. Unsere wahre Natur, die uns in nichts mit den Menschen aus Adams Zeiten verbindet, erlaubt also, nein, sie gebietet den Selbstmord. Wäre unsre Natur die ursprünglichmenschliche Natur, wir wären nicht unglücklich — nicht ausweg- und heillos unglücklich; und wir wünschten uns nicht, wir verabscheuten dann den Tod. (29. April 1822).
     Unsere heutige Natur ist mehr oder minder die Vernunft. Sie aber haßt das Unglück. Und es gibt kein vernünftiges menschliches Denken, das nicht zum Selbstmord riete, nämlich dazu, lieber nicht zu sein, als unglücklich zu sein. Und wir folgen ja doch in allem anderen der Vernunft und vermeinten unsere Menschenpflicht zu versäumen, wenn wir es anders hielten.

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