Wenn einem Europäer ein Unglück
zustößt, so meint er sich dadurch Rat zu schaffen,
daß er die Schriften eines Philosophen aufschlägt, der Seneca
heißt.
Allein die asiatischen Völker sind darin viel klüger und bessere
Naturverständige;
sie halten sich an Tränke, die den Menschen lustig machen und
das Bewußtsein seines Verdrusses für einige Zeit von ihm
wegzaubern
Montesquieu, 16. der Persianischen
Briefe
S e n e c a a
n L u c i l i u s
70. Brief
Nach langer
Zeit habe ich dein geliebtes Pompeji wiedergesehen. Meine Jugendzeit trat
mir wieder vor Augen, und alles, was ich als Jüngling getan. Ich
hatte das Gefühl, ich könnte das auch jetzt noch, ja, ich hätte
es eben erst vollbracht. Wir sind dem Leben vorausgeeilt, Lucilius. Wie
auf einer Seefahrt, nach den Worten Vergils, »enteilen Länder
und Städte«, so haben wir im rasenden Ablauf der Zeit erst
unsere Kindheit aus den Augen verloren, dann die Jünglingszeit, später
alles, was zwischen Jugend und Alter liegt und an beide grenzt, und endlich
die kostbarsten Jahre des eigentlichen Greisenalters. Zuallerletzt, da
zeigt sich so langsam die Grenze, die dem Menschenleben gezogen ist.
Für eine gefährliche Klippe halten
wir sie, wir Toren ! Ein Hafen ist sie, manchmal wünschenswert, nie
abzulehnen. Wer schon in frühen Lebensjahren dahin verschlagen wird,
hat nicht mehr Grund zur Klage als ein Mensch, der in schneller Fahrt
dort ankam. Denn du weißt ja : flaue Winde treiben ihr launisches
Spiel, halten gar manchen fest und machen ihn müde durch Widerwillen
und Wut über die schleppende, tötende Windstille — den
andern trägt eine immer gleichbleibende, frische Brise unverhofft
schnell ans Ziel. Genauso ergeht es uns : manche Menschen führt das
Leben in hurtigem, wildem Laufe zu dem Ziel, das ihr Schritt auch bei
Zögern und Zagen erreichen müßte, und die anderen knetet
es sozusagen mürbe und kocht es gar. Du siehst : nicht immer soll
man das Leben festhalten. Denn nicht an und für sich gehört
es zu den Gütern, sondern nur das sittlich einwandfreie Leben.
Daher lebt der Weise, der Philosoph so lange,
wie es die sittliche Pflicht verlangt, nicht solange er kann. Er wird
Ausschau halten wo, mit wem, wie er leben und wirken soll. Immer richtet
er sein Sinnen und Trachten auf die Art des Lebens, nicht auf die Länge.
Tritt ihm zuviel entgegen, was ihn belastet, was die Seelenruhe ihm stört,
dann wirft er des Lebens Fesseln ab. Nicht nur in letzter, höchster
Not — nein, wenn seine Lebensbahn ihm verdächtig vorkommt,
dann prüft er in gewissenhafter Selbsteinkehr, ob er sofort ein Ende
machen muß. Dabei ist ihm unwesentlich, ob er selbst oder ein anderer
ihm das Ende bringt, ob es früher oder später kommt. Er fürchtet
sich nicht davor wie vor einem großen Verlust. Niemand kann viel
beim Entschwinden des Lebens verlieren. Früher zu sterben oder später
— das ist unwichtig; wichtig ist nur, ob man anständig oder
schäbig stirbt. Anständig sterben aber heißt : der Gefahr
eines schlechten Lebens aus dem Wege gehen. Daher halte ich für völlig
weibisch die Äußerung des bekannten Mannes aus Rhodos, der
vom Tyrannen in einen Käfig gesperrt, wie ein wildes Tier gefüttert
wurde und einem Bekannten, der ihm riet, die Nahrung zu verweigern, erwiderte
: »Alles darf der Mensch erhoffen, solange er noch lebt.«
Angenommen, die Geschichte sei wahr, so darf man doch das Leben nicht
um jeden Preis erkaufen : Mögen manche Vorteile groß, gesichert
sein — durch ein schimpfliches Eingeständnis meiner Schwäche
möchte ich dennoch nicht in ihren Genuß kommen. Welchen Gedanken
soll ich vorziehen ? Daß das Schicksal an dem Menschen während
seines Lebens alles zu tun vermag, — oder den andern, daß
es gegen den Menschen, der zu sterben weiß, gar nichts auszurichten
vermag ?
Es gibt Gelegenheiten, wo der wahre Philosoph,
auch wenn ihm der siche´re Tod droht und er weiß, daß
seine Hinrichtung beschlossene Sache ist, dennoch seine Hand nicht hergeben
wird zur Ausführung seiner Strafe : für sich selbst würde
er das tun. Torheit ist es, aus Todesangst Selbstmord zu verüben.
Er kommt, der dich töten soll; erwarte ihn ! Warum willst du ihm
vorgreifen ? Weshalb übernimmst du die Durchführung grausamer
Befehle anderer ? Beneidest du deinen Henker darum oder willst du ihn
schonen ? Sokrates hätte durch Hungerstreik seinem Leben ein Ende
machen und statt durch Gift durch Hunger sterben können. Trotzdem
verbrachte er dreißig Tage im Kerker in Erwartung des Todes, nicht
etwa in dem Glauben, es könne noch ein Wunder geschehen, als verbürge
die lange Zeit noch allerlei Hoffnungen, nein : er wollte dem Gesetz genügen
und seinen Freunden einen Sokrates schenken, von dem sie bis zum letzten
Atemzuge im Umgang Genuß und Vorteil hätten. Was hätte
törichter sein können, als den Tod zu verachten, das Gift aber
zu fürchten ?
Scribonia, eine bedeutende Frau, war die
Vaterschwester des Drusus Libo, eines ebenso törichten wie adelsstolzen
Jünglings. Ehrgeizig streckte er seine Hand nach höheren Zielen
aus, als in jenem Zeitpunkt möglich war und er selbst jemals hätte
erreichen können. In seiner Sänfte hatte man ihn eines Tages
krank aus dem Senat nach Hause gebracht, mit nicht gerade großem
›Leichengefolge‹; denn alle, die ihm nahestanden, hatten ihn
rücksichtslos verlassen, als sei er bereits tot, nicht angeklagt.
Da hielt er mit den Seinen Familienrat ab, ob er sich dcn Tod geben oder
ihn erwarten solle. Scribonia erklärte : »Was kann dir daran
liegen, die Arbeit anderer zu tun ?« Sie konnte ihn nicht umstimmen
: er legte selbst Hand an sich, und das nicht ohne Grund. Denn wer nach
dem Willen seiner Feinde drei, vier Tage später sterben soll und
sich noch am Leben erhält, der dient nur der Sache anderer.
Man kann also nicht allgemeinverbindlich
ein Urteil darüber fällen, ob man den Tod, wenn äußere
Gewalt ihn androht, sich selbst geben oder abwarten soll. Es gibt mancherlei
Umstände, die uns nach der einen oder anderen Seite treiben können.
Ist der Tod im einen Falle mit Foltern und Qualen verbunden, im andern
ganz schlicht und leicht — ja, warum soll ich dann nicht den letzteren
wählen ? Wie ich mir ein Schiff aussuche, mit dem ich in See gehe,
ein Haus, in dem ich wohnen will, so wähle ich mir auch die Todesart,
wenn ich aus dem Leben scheiden will. Außerdem : so wahr ein längeres
Leben nicht unbedingt für jeden Menschen das bessere ist, so sicher
ist ein längerer Tod für jeden und auf jeden Fall der schlechtere
Weg. Bei keinem Lebensvorgang müssen wir der seelischen Verfassung
mehr Rechnung tragen als beim Tode : der Mensch mag den Lebensabschluß
wählen, zu dem ihn innerer Drang treibt, ob er zum Schwerte greift,
zum Strick, zum Gift, das durch die Adern strömt — wohlan !
er soll nur die Fesseln der Knechtschaft zerreißen ! Für das
Leben braucht jeder die Rechtfertigung anderer Menschen, für den
Tod nur die eigene : der beste Tod ist der, der uns gefällt. Torheit,
sich Gedanken zu machen wie folgende : »Manch einer wird mir fehlenden
Mut vorwerfen, ein anderer übereiltes Handeln, ein dritter, es hätte
auch eine mutvollere Todesart gegeben.« Bedenke doch, daß
es sich hier um einen Entschluß handelt, an den das Gerede der Menschen
nicht heranreicht ! Das einzige, worauf du zu achten hast, ist dies :
dich so schnell wie möglich dem Zugriff des Schicksals zu entziehen.
Es wird schon Leute genug geben, die über deine Tat die Nase rümpfen.
Man findet auch Vertreter der Philosophie,
die es ablehnen, ihrem Leben mit Gewalt ein Ende zu machen, und es für
eine Sünde erklären, sein eigener Mörder zu werden : man
habe das Lebensende abzuwarten, das die Natur bestimmt habe. Wer das sagt,
verkennt, daß er sich damit den Weg der freien Entscheidung versperrt.
Nichts Besseres hat uns das ewige Gesetz geschenkt, als daß es uns
einen einzigen Eingang ins Leben gab, doch viele Ausgänge. Soll ich
wirklich auf die Grausamkeit einer Krankheit oder eines Menschen warten,
wenn ich die Macht habe, mitten aus allen Folterqualen ins Freie zu gelangen
und alle Widerwärtigkeiten loszuwerden ? Das ist ja das einzige,
worin wir über das Leben nicht klagen können : es hält
niemanden. In dem Punkt steht es gut um alle menschlichen Belange : wer
unglücklich ist, ist selber schuld. Gefällt dir das Leben, so
lebe ! Gefällt's dir nicht, so hast du die Freiheit, wieder dort
hinzugehen, von wo du kamst. Um Kopfschmerzen zu lindern, hast du dir
schon oft Blut abnehmen lassen. Um das Körpergewicht herabzusetzen,
läßt man dich zur Ader. Es ist nicht vonnöten, der Brust
eine klaffende Wunde zuzufügen : mit einem kleinen Messerchen öffnet
man sich den Weg zur großen, ewigen Freiheit — die Sorgenfreiheit
und Ruhe kostet nur einen Stich.
Welches ist denn der Grund, der uns träge
und energielos macht ? Niemand von uns Menschen denkt darüber nach,
daß er doch einmal seine irdische Behausung verlassen muß
: so hält wohl auch alte Mieter die Gewöhnung an den liebgewordenen
Platz trotz aller erfahrenen Kränkungen fest. Willst du unabhängig
sein deinem Körper gegenüber ? Dann bewohne ihn, als wolltest
du jeden Augenblick ausziehen ! Halte dir vor Augen, daß du eines
Tages auf diese Wohngemeinschaft verzichten mußt : dann wirst du
mehr Stärke zeigen bei der Notwendigkeit des Wegzugs. Wie aber können
sich Menschen ihr Lebensende vor Augen halten, die maßlos alles
und jedes wollen ?
In keinem Punkte ist unser Nachdenken so
notwendig. Für andere Dinge des Lebens übt man sich nämlich
überflüssig. Innerlich hat man sich auf die Armut eingestellt
: der Reichtum ist geblieben. Für die Verachtung des Schmer zes haben
wir uns geistig gewappnet : nie aber hat uns der glücklicherweise
unverletzte, gesunde Körper eine Probe dieser Tugend abverlangt.
Tapfer die Sehnsucht nach den heimgegangenen Lieben zu tragen, haben wir
uns vorgenommen : alle unsere Lieben aber hat das Schicksal am Leben erhalten.
Die Vorbereitung auf diese letzte Lebensfrage aber ist das einzige, was
ein zukünftiger Tag bestimmt von uns fordern wird.
Man darf nicht glauben, nur große
Männer hätten die Kraft besessen, die Schranken der irdischen
Knechtung zu zerbrechen. Man soll auch nicht meinen, so etwas könne
nur ein Cato vollbringen, der seiner Seele mit der Hand den Weg ins Freie
öffnete, nachdem es dem Schwert nicht gelungen war. Auch Menschen
einfachsten Standes haben sich mit wildem Elan in die Sicherheit des Todes
geflüchtet. Da sie nicht nach ihrem Wunsche sterben und nach Belieben
die Todesinstrumente aussuchen durften, griffen sie nach allem, was gerade
zur Hand war, und machten gewaltsam Dinge zu Waffen, die von Natur harmlos
und unschädlich sind. Neulich mußte bei einem Tierkampf ein
Germane gerade während der Vorbereitungen auf die Vormittagsspiele
eines Bedürfnisses wegen austreten : er hatte nicht die Möglichkeit,
diesen Ort heimlich, ohne Wächter, aufzusuchen. Dort stieß
er sich die Stange, die da, mit Schwamm versehen, zur Beseitigung des
Kotes lag, in die Kehle und gab sich durch Zerstörung der Luftwege
den Tod. Das heißt : dem Tod einen Possen spielen ! Doch weiter
! Diese Todesart war nicht sauber, und der Sitte entsprach sie auch nicht.
Aber was ist törichter, als beim Tode wählerisch zu sein ? Dieser
Held war würdig, sich sein Schicksal selbst zu wählen. Wie tapfer
hätte er sein Schwert geführt, wie mutvoll sich in die Tiefe
des Meeres oder von einer schroffen Klippe gestürzt ! Aller Hilfe
bar, fand er den Weg, sich zum alleinigen Herrn über den Tod und
die nötige Waffe zu machen, zum Beweis, daß es dem Tode gegenüber
kein Hindernis gibt als den eigenen Willen. Über die Tat dieses entschlossenen
Mannes mag jeder urteilen, wie es ihm beliebt — eins steht fest
: der schmutzigste Tod ist der saubersten Sklaverei vorzuziehen.
Da ich einmal dabei bin, Beispiele aus den
unteren Volksschichten anzuführen, will ich auch dabei bleiben. Denn
jeder wird sich selbst mehr zumuten, wenn er erfährt, daß diese
Angelegenheit auch von den verachtetsten Menschen gering eingeschätzt
werden kann. Leute wie Cato, Scipio u. a., deren Namen wir immer mit Bewunderung
hören, sind meines Erachtens jeder Nachahmung überhoben. So
will ich dartun, daß ebenso viele Beispiele dieser Lebenshaltung
bei Männern der Tierkämpfe vorkommen wie bei den Feldherren
der Bürgerkriege. Als man neulich unter Bewachung einen Mann zu den
Vormittagskämpfen hinfuhr, ließ er, als sei er schlaftrunken
eingenickt, seinen Kopf so weit herabhängen, daß er in die
Speichen des Karrens geriet; so lange hielt er auf seinem Sitz aus, bis
die Umdrehung des Rades ihm das Genick brach. Derselbe Karren, der ihn
zu seiner Hinrichtung fahren sollte, ermöglichte ihm die Flucht in
die Freiheit.
Es gibt kein Hindernis, irgendwo wegzugehen
oder fortzustürzen, wenn man nur will. Die Natur bewacht uns, aber
in einem offenen Gefängnis. Wem seine Lage es gestattet, der schaue
sich nach einem sanften Abgang um; wem mehr Mittel sich bieten, in die
Freiheit zu gelangen, der treffe seine Wahl selbst und erwäge den
besten Weg ! Wer aber nur schwer eine Gelegenheit findet, der greife zum
ersten besten Mittel — mag es unerhört, noch nie dagewesen
sein ! Wem der Mut zum Tode nicht fehlt, der wird auch die nötige
Erfindungsgabe haben. Du siehst ja : auch Sklaven der niedrigsten Kategorie,
wenn unerträglicher Schmerz sie zum Äußersten treibt,
raffen sich auf und täuschen die strengsten Aufseher. Der ist ein
großer Mann, der sich den Tod nicht nur befiehlt, sondern ihn auch
findet.
Ich habe dir noch mehr Beispiele aus demselben
Milieu versprochen. Bei der zweiten Aufführung der ›Seeschlacht‹
stieß sich ein Barbar die Lanze, die er zum Kampf gegen die Feinde
erhalten hatte, tief in die Kehle. »Weshalb«, rief er, »entfliehe
ich nicht schon längst all den Qualen, all dem Hohn ? Weshalb warte
ich, im Besitz einer Waffe, auf den Tod ?« Dies Schauspiel war desto
großartiger, je größer die Ehre der Menschen ist, die
sterben statt töten lernen.
Also, das bißchen Mut, das Menschen
der verkommensten und gefährlichsten Kaste aufbringen, sollten Leute
nicht haben, die langes Nachdenken und die Vernunft, die Lehrmeisterin
aller Dinge, für solche Vorkommnisse gerüstet hat ? Sie lehrt
uns, daß der Zugang zum Tode verschieden sein kann, das Ziel aber
immer das gleiche ist, und daß es gar nichts ausmacht, wann eintritt,
was kommen muß. Die gleiche Vernunft rät uns auch, womöglich
nach eigener Wahl zu sterben, andernfalls jedes sich darbietende Mittel
zu ergreifen, um uns Gewalt anzutun. Es ist Unrecht, durch Raub zu leben
— aber durch ›Raub‹ zu sterben, das ist das Schönste,
was es gibt.
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