Jan Meyer-Veden
Erymanthos-Eber D
»Groß, überaus stark behaart, von gedrungenem Körperbau,
die stämmigen Gliedmaßen verhältnismäßig kurz,
die fünfzehigen Füße mit schaufelartigen Klauen bewehrt;
verrät seine Anwesenheit durch einen überaus unangenehmen, geradezu
stechenden Geruch …« (v. Lüssow, Beiträge zur Naturkunde,
Leipzig, 1847)
Diese Beschreibung ist, allem Augenschein
entgegen, eine derjenigen, die nicht, oder wie in diesem Falle nur höchst
lückenhaft auf einen Delmenhorster Gelegenheitsdenker mit dem fast
alttestamentarisch anmutenden Namen Waldemar Koslowski zutreffen.
Demselben Mangel verdanken ja übrigens
Legionen von wissenschaftlichen, philosophischen sowie literarischen Texten
ihre weitestgehende Bedeutungslosigkeit1.
Überhaupt muß angesichts dieser Faktenlage die Frage erlaubt
sein, ob, statt sich mit dem Leben und Wirken des real existierenden
Koslowski (Koslowski über Koslowski) zu befassen, das Hauptaugenmerk
nicht vielmehr auf die partielle Nichtexistenz des Dichters und ihre oft
so verheerenden Folgen zu richten ist.
Ermöglicht uns dieses Procedere nicht
den Zugang zu einem weitaus vollkommeneren und treffenderen Bild von Koslowskis
eigentlichem Wesen ?
Ließen sich nicht so kardinale Probleme,
wie beispielsweise die derzeitige Politikverdrossenheit der deutschen
Jugend, nur mit der kompletten Absenz des großen Delmenhorsters
(der, um dies nebenbei zu bemerken, als luzider Rhetor bekannt und gefürchtet
war2)
in der Spitzenpolitik erklären, wo doch schon das Fehlen des Koslowskischen
Namens auf regionaler Ebene selbst den hartnäckigsten Demokratophilen
jegliches Vertrauen in die Kommunalpolitik genommen hat ?
Auf all diese Fragen kann lediglich ein
klares JA ! im Sinne Koslowskis und natürlich der
Redaktion sein.
Dem Autor selbst ist nur ein einziger Casus
bekannt, in dem eine Abwesenheit Koslowskis zum Guten führte und
dies auch nur indirekt; nämlich indem sie des Dichters Anwesenheit
an einem anderen Ort ermöglichte. Die Abwesenheit, von der die Rede
ist, ereignete sich in dem alaskischen Village White Deer Peak,
welches so klein war, daß es ebenfalls fast nicht existierte, und
sie wurde am 23.12. 1941 06h31´ a.m. von dem polnischen Immigranten
Artur Lesziak bemerkt. Der gute Mann, in dessen ärmlicher Blockhütte
der anspruchslose Geistesfürst zu diesem Zeitpunkt residierte, hatte
nämlich mit Koslowski diese Uhrzeit zum Beginn einer gemeinschaftlichen
Bärenjagd akkordiert, die nötig geworden war, um zu Weihnachten
das traditionelle Grizzlygulasch auf die Festtafel zu bringen, und konstatierte
nun des Dichters Ausbleiben. Keinesfalls gedachte er, dieses mit so etwas
Häßlichem wie Feigheit vor dem Wild zu erklären; Koslowski
hatte seine außerordentliche Beherztheit oft genug unter Beweis
gestellt und war darüberhinaus ein vortrefflicher Büchsenschütze
und Fährtensucher, kurz : ein rechter Nimrod.
Umso erstaunter also Lesziak.
»Pfui !« wird jetzt der aufmerksame
Leser ob der unliebsamen Unterbrechung, die der vorliegende Einschub darstellt,
interjizieren. Und abermals »Pfui !«
Welch scheinbar skrupelloses Zerreißen
des eben gesponnenen Handlungsfadens !
Doch : felix culpa ! wage ich dem zu entgegnen.
Gar inevitabel und delektierend ist´s, genau diesen Lesern einiges
zu erläutern : durch einen merkwürdigen Zufall nämlich,
dessen sich der Skribent in eigenster Person erst in diesem Augenblick
gewahr wird, trifft die dem Gesamttext vorangestellte Deskription zwar
nach wie vor nicht auf Waldemar Koslowski zu, jedoch in umso stärkerem
Maße auf die Hauptzutat des o.g. Gulaschs, also, um genau zu sein,
den Kanadischen Grizzlybären3.
Durch diese, mir höchst inkommode Kasualität
werde ich nun durchaus gezwungen, dem werten Leser mitzuteilen, was ich
ihm eigentlich in einem späteren Abschnitt zu verheimlichen trachtete.
Die Rede ist hier — wie sollte es auch anders sein ? — von
nichts Geringerem als dem Baerenmythos !
Jawohl !
Der Baerenmythos,
subtilkryptischer Titel eines epochalen Werkes, das W. Koslowski leider
niemals4
geschrieben hat. Schon beim flüchtigen Überfliegen dieses Titels
wird evident, was die modernsten Dechiffriermaschinen nach langwieriger
Untersuchung desselben zu Tage fördern : wir haben hier ein Anagramm
vor uns, das sich gewaschen hat !
Und in der Tat, stellen wir die Buchstaben
nur ein wenig um, trifft uns der Gewitterstrahl der Erkenntnis mit titanischer
Wucht : was lesen wir ?
»Erymanthos-Eber
D«
Wie nun aber jeder -Schütze
aus dem
weiß, mußte ein griechischer Heros namens Herakles als die
vierte von zwölf Aufgaben, die ihm König Eurystheus gestellt
hatte, den wilden Eber von Erymanthos überwältigen und gefangensetzen5.
Nun, und wie lautet der vierte Buchstabe
unseres Alphabetes ? D !
Erymanthos-Eber D
! Waldemar Koslowski, ein Herakles aus Delmenhorst (Delmenhorst
!) ???!!!
Lasse mich nun aber, lieber Leser zum armen
Artur Lesziak zurückkehren, der, nach einer guten halben Stunde vergeblichen
Wartens auf den infidelen Koslowski nolens volens allein auf die Bärenjagd
ziehen mußte, was ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen
war. Dennoch wagte Lesziak die Aventüre und machte sich, mit einer
großkalibrigen Bärenbüchse bewaffnet auf den langen Marsch.
Gegen 08h00´ a.m. schließlich erreichte er den Yukon-River.
An eine Passage des reißenden Flusses war vor Sonnenaufgang nicht
zu denken und so nutzte der propere Pole die verbleibende Zeit für
eine kurze Rast und ein karges Morgenmahl. Gerade hatte er einen tüchtigen
Bissen von der mitgebrachten Teewurststulle getan, als sich im nahen Gesträuch
etwas regte.
Von Natur aus kaltblütig, verlor Artur
Lesziak nun mitnichten die Nerven, sondern legte bedächtig die Schnitte
beiseite und brachte das Gewehr in Anschlag. Prüfend zog er die Luft
ein. Es konnte keinen Zweifel mehr geben !
Ein überaus unangenehmer, fast beißender
Geruch strömte aus dem besagten Gebüsch. Doch bei derart insuffizienten
Lichtverhältnissen konnte ein verfrühter Schuß ins Blaue
lebensgefährlich sein, da der kanadische Grizzly, wie wir seit Adolf
Brehm wissen, in der Lage ist, den unglücklichen Schützen anhand
des Mündungsfeuers zu orten und ihm durch einen blitzartig vorgetragenen
Angriff den Garaus zu machen. Aus diesem Grunde blieb Lesziak eine ganze
Weile hinter der sicheren Deckung seines Rucksackes liegen und wartete.
Plötzlich gab es ein gewaltiges Krachen,
das Gestrüpp teilte sich, etwas erschien, Lesziak riß die Büchse
hoch, zielte und wollte eben den Abzug betätigen, als er (und man
stelle sich seine Überraschung vor !) in dem vermeintlichen Grizzly
einen splitterfasernackten und über und über mit einer schleimigen
Substanz bedeckten Waldemar Koslowski erkannte, der mit hohlem, verklärtem
Blick und atavistische Grunzlaute ausstoßend, im Lichte der aufgehenden
Alaskasonne stand und sich mit beiden Händen durch die wirre Kopfbehaarung
fuhr.
Lesziak rief den offenbar geistig abwesenden
(!) Koslowski mehrfach an und ging, als dieser nicht im mindesten reagierte,
auf ihn zu um ihn an den Schultern zu packen; dieser Vorsatz kam jedoch
nicht zur Ausführung, denn kaum hatte der Pole Koslowski erreicht,
da hob der seine Hände gegen den flammenden Morgenhimmel6
und öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Es folgten lange
Sekunden angespannter Stille.
Plötzlich sprach Waldemar Koslowski,
Exiliprumper, Großdenker und Ehrenmitglied aller größeren
Koslowskifanclubs und -logen seiner Zeit, singulärer Achttausender
in der tiefebenen Norddeutschen Geisteslandschaft, dessen Gipfel, gleich
dem des Olymp den Blicken der Normalsterblichen stets unzugänglich
bleiben wird7,
dieser inkommensurable Verfasser von nie publizierten Leserbriefen an
das Delmenhorster Kreisblatt, plötzlich
sprach also Koslowski mit gebrochener Stimme die Worte : »Homo homine
ursus !«
Eine Sentenz, die so oder ähnlich Eingang
in jedes bessere Zitatenlexikon fand, und für deren Exegese hier
zwar der richtige Ort, jedoch nicht der richtige Zeitpunkt ist. Was nun
weiterhin geschah, ist in wenigen Worten erzählt : Lesziak frottierte
den fröstelnden Freidenker und führte ihn zurück nach White
Deer Peak. Koslowski verlor später niemals auch nur das kleinste
Wort über die Ereignisse jener Nacht und so können wir nur spekulieren8.
Verbürgt ist lediglich, daß es bei den Lesziaks am 24.12. 1941
um 20h00´ Bigosz mit Corned-Beef zu essen gab — wie jeden
Tag.
Zwar stimmt es, daß die Stimmung in
White Deer Peak von jenem Tag an merklich abkühlte und damit
Koslowskis Abwesenheit nicht ganz ohne bittere Konsequenzen geblieben
war, auf der anderen Seite jedoch wurde ein Mythos der Extraklasse begründet,
dessen Wurzeln bis nach Arkadien reichen, was nicht unterschätzt
werden sollte.
***
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1
Wie z. B. das ansonsten recht bemerkenswerte Büchlein Von der
Abstammung des Menschen eines gewissen Charles Darwin, das jedoch
beharrlich die obligate Kulmination jedes evolutionären Geschehens
in eben diesem Waldemar Koslowski ignoriert, und welches deshalb schon
bei den Zeitgenossen Darwins, die von Koslowski natürlich noch nichts
wissen konnten, auf instinktive Ablehnung stieß. weiter
im Text
2 Man denke bloß an
seine legendäre Apologie, mit der er die mangelhafte Pflege der ihm
anvertrauten kommunardischen Pilzplantagen anno 1967 rechtfertigte ! Die
Urfassung : »Achso, na klar, jetzt wo ihr´s sagt; hab
ich irgendwie total verpennt. Sorry, echt !« arbeitete er später
noch aus und trug sie als über 150seitiges Manuskript auf einem zu
diesem Zweck anberaumten Plenum der Iprumper Kommune vor.
weiter im Text
3 Ursus arctos horribilis
weiter im Text
4 Was nicht seine Schuld
war. Anm. d. Verf. weiter im Text
5 man schlage die entsprechende
Episode in Robert Ranke-Graves´ wunderbarem Buch Griechische
Mythologie nach weiter im Text
6 so schilderte jedenfalls
der wenig zum Prosaischen neigende Lesziak die Situation gegenüber
Alfons Sieveking, als dieser sich telefonisch nach dem Befinden seines
Freundes und Gönners erkundigte weiter
im Text
7 ein Umstand, der, und hier
muß ich zu meinem Bedauern gewissen Koslowskikritikern zustimmen,
nicht zuletzt mit seiner äußerst undeutlichen Aussprache zusammenhängt
weiter im Text
8 was die Redaktion Salmoxisbote
ihren Autoren jedoch nicht durchgehen läßt weiter
im Text
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