Jean Paul am 3. und
30. November 1798 an Christian Otto

     Lieber Otto ! Gestern vor [8] Tagen um 9 Uhr früh fuhr ich durch die Pforten meines neuen Jerusalems. Denn lezteres hab´ ich w i r k l i c h . Kein Stiefgenius beschied mir zur Aufwartung die Hausfrau selber, meine Stubenthürnachbarin, die für mich wie eine Mutter sorgt — die in meiner Abwesenheit eine zweite Thür in mein Zimmer hat und alles herlich legt und aufträgt — für mich handelt — mich um 6 Uhr zur warmen und erleuchteten Stube und Kaffeekanne aufklopft — und der ich stets 1 Laubtl. g[ebe] wovon sie ohne Rechnung auszahlt [bis] sie einen neuen braucht — und der ich oft ein Glas Wein verehre. Ich bin H[err und] Maire meiner ganzen Brust — der schönste Friede ist darin beschworen — und alle Grundsäze sind auf den Beinen. Warlich ich bin glüklich ...
     Glaube der Poss[eltschen] Zeitung nicht (der Aufsaz ist von Göthe). Er hat uns allen Langweile gemacht ...
     — Mit Herder wachs ich immer tiefer zusammen; kaum 4 Tage können wir uns missen. Er gab mir seine Metakritik, gegen die ich viele Noten machte, durch deren Gebrauch er manchen dialektischen Quartstössen ausbeugt. Vor ihm und seinem Weib öfn´ ich mein ganzes Herz mit allen kühnen Urtheilen; in Leipzig hatt ich keinen solchen Vertrauten ... Wieland ist einige Tage jezt bei ihm und wir sind alle Abende beisammen, auch Einmal in der Zauberflöte; und es rührt mein Herz, wenn ich so die 2 guten alten verdienstreichen Männer vor mir sehe. — Göthen sprach ich bei ihm selber, und as in Jena bei Schüz mit ihm ... Von Göthe weis ich nichts zu sagen so wie von Schiller; beide waren freundlich ...
     Mein gröstes Labsal ausser Herder hier ist meine Hausfrau. Nie war ich so Stuben=glüklich. Ich wil nur etwas von unserem Verhältnis anführen : ein an sich geräumiger Nachttopf wolte doch nicht zulangen, wenn ich gerade schrieb, weil er und das Dintenfas wie natürlich in umgekehrtem Verhältnis vol und leer werden. Die Frau sah, daß ich oft die Treppe in der Kälte hinab muste. Sie brachte mir also einen ganz neuen Bowlen=mässigen getragen, bei dem ich 8 Seiten schreiben kan. — Sie sorgt für Holz, Tabarro (denn heut geh ich [in] die Retoude mit einer Augen=Achte, und esse abends vorher bei Herder und Wieland), für Wohlfeilheit, wäscht, wenn ich verreise, wie meine Mutter, alles, sogar das Dintenfaß, und ich kehre (wie) in eine wartende Familie zurük ...
     Apropos ! Der sphragistischen Zufälle wegen wil ich künftig folgende Chiffern brauchen :
     A r c h e  bedeutet Göthe —

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d. 1 Dec. Heute send ichs auf die Post. Gegen den herlichen Abend bei Herder konte die Retoude nicht recht aufkommen

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