V O N   H A R T E N   U N D   F I T E N   M Ä N N E R N :

GOTTFRIED BENN 1930

Hab Rente im Herzen und Höhensonne im Haus
Oder : Können Dichter die Welt ändern ?

A.: Sie haben in zahlreichen Aufsätzen hinsichtlich der Figur des Dichters einen Standpunkt vertreten, der ungefähr folgendes besagt : der Dichter hat keine Wirkung auf die Zeit, er greift in den Lauf der Geschichte nicht ein und kann seinem Wesen nach nicht eingreifen, er steht außerhalb der Geschichte. Ist das nicht ein etwas absoluter Standpunkt ?
B.: Wünschten Sie, ich hätte geschrieben, der Dichter solle sich für das Parlament interessieren, die Kommunalpolitik, die Grundstückskäufe, die notleidende Industrie oder den Aufstieg des fünften Standes ?
A.: Es gibt doch aber eine Reihe namhafter Schriftsteller, die Ihre ablehnendeStellung nicht teilen und aus der Anschauung heraus arbeiten, daß wir an einer Wendung der Zeit stehen, daß ein neuer Menschentyp sich bildet und daß der Weg in eine gänzlich veränderte und bessere Zukunft beschrieben werden kann ?
B.: Natürlich können Sie eine bessere Zukunft beschreiben, es gab immer Erzähler der Utopie, zum Beispiel Jules Verne oder Swift. Was die Wendung der Zeit angeht, so habe ich schon wiederholt meine Untersuchungen darauf gerichtet, daß die Zeit sich immer wendet, immer ein neuer Menschentyp sich bildet und daß Formeln wie Menschheitsdämmerung und Morgenröte schon allmählich Begriffe von einer geradezu mythischen Solidität und Regelmäßigkeit darstellen.
A.: Sie halten also jede Beteiligung des Dichters an der Diskussion von Zeitfragen für abwegig ?
B.: Für Liebhaberei. Ich sehe, daß eine Gruppe von Schriftstellern für die Abschaffung des § 218 eintritt, eine andere für Beseitigung der Todesstrafe. Das ist der Typ von Schriftstellern, der seit der Aufklärung seine sichtbare Stellung in der Öffentlichkeit einnimmt. Sein Gebiet sind lokale Ereiferungen, freigeistige Bestrebungen, in denen der berühmte Kampf Voltaires für Calas und das j’accuse Zolas unverkennbar nachklingt.
A.: Und Sie nehmen diese Richtung der Schriftstellerei in die Grenzen der Dichtung nicht auf ?
B.: Erfahrungsgemäß befindet sie sich selten innerhalb dieser Grenzen. Schriftsteller, deren Arbeit auf empirische Einrichtungen der Zivilisation gerichtet ist, treten damit auf die Seite derer über, die die Welt realistisch empfinden, für materiell gestaltet halten und dreidimensional in Wirkung fühlen, sie treten über zu den Technikern und Kriegern, den Armen und Beinen, die die Grenzen verrücken und Drähte über die Erde ziehen, sie begeben sich in das Milieu der flächenhaften und zufälligen Veränderungen, während doch der Dichter prinzipiell eine andere Art von Erfahrung besitzt und andere Zusammenfassungen anstrebt als praktisch wirksame und dem sogenannten Aufstieg dienende.
A.: Sie sagen : der Techniker und der Krieger. Die also allein, meinen Sie, verändern die Welt ?
B.: Was sich an ihr verändern läßt. Ja, ich meine allerdings, daß der diesen beiden übergeordnete Begriff, nämlich der des Wissenschaftlers, der eigentliche und prinzipielle Gegenspieler des Dichters ist, der Wissenschaftler, der einer Logik lebt, die angeblich allgemeingültig sein soll, aber doch nur lukrativ ist, der einen Wahrheitsbegriff durchgesetzt hat, der den populären Vorstellungen von Nachprüfbarkeit, allgemeiner Erfahrbarkeit, Verwertbarkeit weitgehend entgegenkommt, und der eine Ethik propagiert, die das Primat des Durchschnitts sichert. Ich begreife, daß ein Volk, das nichts anderes gelernt hat, als Kunst und Wissenschaft immer in einem Atem zu nennen, gierig die Weisheit der Aufklärung in sich aufnehmen mußte, die die beiden Figuren immer nebeneinanderstellt, ganz besonders in einem Jahrhundert, in dem die Wissenschaft wirklich einen Elan hatte, der sich als schöpferisch gab. Aber ich begreife noch mehr : fahren Sie an einem Sonntag hundert Kilometer nördlich von Berlin in die Gegend des Großen Kurfürsten, Fehrbellin, und die friderizianischen Orte : eine Landschaft kärglich und dürr, gar nicht zu beschreiben, Ortschaften, die Armut und Notdurft in Person, wahre Brutstätten von Kausaltrieb, da wird es sich für Sie erklären, warum der Dichter der »Penthesilea« immer eine peinliche und arrogante Figur bleiben mußte in einem Volk, dem aus der Erscheinung des Ackerbürgers und Ortsvorstehers die praktische Nützlichkeit als Grundlage seiner farblosen Empfindungen anerzogen wurde.
A.: Sie wollen also sagen : Die »Penthesilea« ist eine große Dichtung, aber sie hat nicht die geringste Wirkung ausgeübt, weder politisch noch sozial noch in der Bildungsrichtung.
B.: Genau das will ich sagen. Und ferner, daß vor unseren Augen das Beispiel der nächsten großen deutschen Dichtung nach »Penthesilea«, nämlich »Die kleine Stadt« von Heinrich Mann, genausowenig irgendeine Wirkung ausgeübt hat, nicht einmal eine stilistische. Man kann es nicht anders ausdrücken : Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe.
A.: Das ist doch aber eine vollkommen nihilistische Auffassung von der Dichtung ?
B.: Wenn gesellschaftlicher Fortschritt positiv ist, unbedingt. Sehen Sie die Reihe von Kunstwerken, die Ihnen die Geschichte hinterließ, in einem Zug an sich vorüberziehen. Nofretete und den Dorertempel, Anna Karenina oder den Nausikaagesang der Odyssee — nichts an ihnen weist über sich hinaus, nichts bedarf einer Erklärung, nichts will wirken außerhalb seiner selbst, es ist der Zug in sich versunkener Gestalten, schweigsamer und vertiefter Bilder, wenn Sie das nihilistisch nennen wollen, ist es der besondere Nihilismus der Kunst.
A.: Sie sehen diesen Zug der schweigsamen Gestalten — ich zeige Ihnen einen anderen Zug. Sechsunddreißigtausend offene Tuberkulöse leben in Berlin und finden keine Stätte, vierzigtausend Frauen sterben in Deutschland jährlich an den Folgen eines verbotenen Eingriffs; infolge jenes von Ihnen zitierten Paragraphen. Gedenken Sie des unsäglichen und rührenden Kampfes um Bildung, den die Mehrzahl unserer Volksgenossen kämpft. Gedenken Sie der Arbeitslosen, junge Männer, Dreißigjährige, die in der Stadt keine Beschäftigung und keinen Lohn finden, aber dafür in ihrer Wohnung Schlafburschen und Ratten. Hören Sie folgendes Dokument : ein elfköpfiger Haushalt, der Vater trinkt, die Mutter erwartet die Niederkunft des zehnten Kindes, die Vierzehnjährige kauft sich für einen Groschen Rinderblut beim Schlächter, gießt es sich über die Brust, um mit Hilfe dieses fingierten Blutsturzes aus der überfüllten Wohnung in eine Lungenheilstätte zu gelangen. Das ist doch Kummer, das sind doch Tränen, schuldloser Jammer, Bastardierungen des Glücks — da sieht der Dichter zu ?
B.: Ich zögere nicht einen Augenblick : ja, da sieht der Dichter zu. Nicht der, der die Zivilisationslektüre verfaßt und für den Abend die geistigen Vorwände für die Kulissenverschiebungen, der beim Bankett neben dem Minister sitzt, die Nelke im Frack und fünf Weingläser am Gedeck : der unterschreibt Aufrufe gegen die Notstände der Zeit. Aber der sieht zu, der weiß, daß der schuldlose Jammer der Welt niemals durch Fürsorgemaßnahmen behoben, niemals durch materielle Verbesserungen überwunden werden kann. Hygienische Wunschräusche kurzbeiniger Rationalisten : hab Rente im Herzen und Höhensonne im Haus. Eine Schöpfung ohne Grauen, Dschungeln ohne Bisse, Nächte ohne Mahre, die die Opfer reiten — nein, der Dichter sieht zu in der vor keinem Tod zu verleugnenden Überzeugung, daß er allein die Substanz besitzt, das Grauen zu bannen und die Opfer zu versöhnen : so sinke, ruft er ihnen zu, so sinke denn, aber ich könnte auch sagen : steige.
A.: Merkwürdige Substanz ! Aber ich möchte demgegenüber —
B.: Demgegenüber ! Sie meinen, daß jeder, der heute denkt und schreibt, es im Sinne der Arbeiterbewegung tun müsse, Kommunist sein müsse, dem Aufstieg des Proletariats seine Kräfte leihen. Warum eigentlich ? Wie begründen Sie das ? Soziale Bewegungen gab es doch von jeher. Die Armen wollten immer hoch und die Reichen nicht herunter. Schaurige Welt, kapitalistische Welt, seit Ägypten den Weihrauchhandel monopolisierte und babylonische Bankiers die Geldgeschäfte begannen, sie nahmen zwanzig Prozent Debetzinsen. Hochkapitalismus der alten Völker, der in Asien, der am Mittelmeer. Trust der Purpurhändler, Trust der Reedereien, Import-Export, Getreidespekulation, Versicherungskonzerne und Versicherungsbetrug, Fabriken mit Arbeitstaylorismus : der schneidet das Leder, der näht die Röcke, Mietswucher, Wohnungsschiebungen, Kriegslieferanten mit Befreiung der Aktionäre vom Heeresdienst — schaurige Welt, kapitalistische Welt, und immer die Gegenbewegungen : mal die Helotenhorden in den kyrenischen Gerbereien, mal die Sklavenkriege in der römischen Zeit, die Armen wollen hoch und die Reichen nicht herunter, schaurige Welt, aber nach drei Jahrtausenden Vorgang darf man sich wohl dem Gedanken nähern, dies sei alles weder gut noch böse, sondern rein phänomenal.
Es fragt sich also, ist es überhaupt vernünftig, ist es heroisch, ist es radikal, dem armen Teil der Menschheit vorzuspiegeln, daß sie es als Ganzes besser haben kann ? Das »brillante Narrenspiel der Hoffnung«, von dem Burckhardt einmal spricht, das man den Völkern vorgaukelt, spielt es nicht hier ? »Mit der Menge listen«, das Lassallesche Wort, versucht man es nicht hier ? Das Leben eine Orange, die im Baum hängt, und wer eine Leiter hat, die hoch genug reicht, der kann sie pflücken rund und golden und abgeschlossen in seine Hand, ist das noch Erkenntnis ? Ich las kürzlich — und ich spreche im folgenden nicht von der Armut, der ungerechten Verteilung der Güter, sondern von einem Propagandakomplex der politischen Bewegung — ich las bei einem englischen Nationalökonomen, daß der Arbeiter in England heute komfortabler und mondäner lebt als in früheren Jahrhunderten die Großgrundbesitzer und die Herren der Schlösser. Er führt das im einzelnen aus an den Wohnungen, die früher dunkel und eng waren und nicht zu heizen; an der Nahrung, man mußte alles Vieh zu Martini schlachten, da man es die Wintermonate nicht ernähren konnte; an den Krankheiten, denen man ohne Wehr gegenüberstand. Also heute leben die Arbeiter wie die Reichen vor drei Jahrhunderten, und heute und in drei Jahrhunderten wird wieder das gleiche Verhältnis so sein und immer so fort und immer geht es weiter hinan und empor und mit Sursum corda und per aspera ad astra und mit Menschheitsdämmerungen und Morgenröten — das alles ist doch schon gar nicht mehr individuell erlebbar, das ist doch ein funktioneller Prozeß der Tatsache der menschlichen Gesellschaft, das ist extrahuman, wie kann ich denn verpflichtet sein, mich einem Prozeß zuzuwenden, dessen ideologische Aufmachung ich als erkenntniswirdrig empfinde und dessen menschlicher Ursprung weit vor mir und weit fort von mir aus eigenen Kräften seinen Lauf begann und seine Richtung nahm ?
Nein, mir kommt der Gedanke, ob es nicht weit radikaler, weit revolutionärer und weit mehr die Kraft eines harten und fiten Mannes erfordernder ist, der Menschheit zu lehren : so bist du und du wirst nie anders sein, so lebst du, so hast du gelebt und so wirst du immer leben. Wer Geld hat, wird gesund, wer Macht hat, schwört richtig, wer Gewalt hat, schafft das Recht. Das die Geschichte ! Ecce historia ! Hier ist das Heute, nimm seinen Leib und iß und stirb. Diese Lehre scheint mir weit radikaler, weit erkenntnistiefer und seelisch folgenreicher zu sein als die Glücksverheißungen der politischen Parteien. Ja, es erscheint mir geradezu angebracht, nach den zehn Jahren, die wir hinter uns haben, und nach allem, was man aus Rußland hört, dem einmal ins Gesicht zu sehen : dem Typischen des proletarischen Prozesses, der Immanenz des revolutionären Schocks, dem reinen Umschichtungscharakter der neuen Machtlage bei gleichgebliebener imperialistischer und kapitalistischer Tendenz. Aber dazu gehört natürlich mehr Mut, als den Nachklängen der Französischen Revolution zu lauschen, sich mit den Spätfarben des Darwinismus zu drapieren, die Zukunft zu belasten und Träume zu beschwören, die doch andere verwirklichen sollen. Denn die Herren, von denen wir ausgingen, die schreiben doch höchstens Hymnen und Feuilletons, die Visage hinhalten, wenn es losginge, das müßten doch die Trimmer, die Kumpels, die Proleten, während jene die Anfeuerung besorgten aus ihren Etagenwohnungen oder ihrem Luftkurort.
A.: Direkt gefragt : Sie sind also im wesentlichen mit dem herrschenden Wirtschaftssystem einverstanden ?
B.: Direkt geantwortet : Ich halte Arbeit für einen Zwang der Schöpfung und Ausbeutung für eine Funktion des Lebendigen.
A.: Reichlich kosmisch !
B.: Aber ich lasse Ihnen ja Ihre Techniker und Krieger, Wissenschaft, Wirtschaftstheorien und Literatur — das ganze freischwebende Gemecker der Zivilisation, ich fordere für den Dichter nur die Freiheit, sich abzuschließen gegen eine Zeitgenossenschaft, die zur Hälfte aus enterbten Kleinrentnern und Aufwertungsquerulanten, zur anderen aus lauter Hertha- und Poseidonschwimmern besteht : er will seine eigenen Wege gehen.
A.: Artistik.
B.: Nein, Moral. Undurchdringlicher Modder der Zivilisationsgesinnung, Ethos nur als Regelung sozialer Bindungen zu sehen. Der Künstler, der hat kein Ethos, das ist ein Freibeuter, ein Schnorrer, ein Ästhet. Der schmiert sich alles aus dem Handgelenk zusammen, ein dummer August, gestern ein Barfüßerdrama und morgen ein promethidisches Pamphlet. Ach, wem soll man es klarmachen : sieben Jahre, so schrieb einer, sieben Jahre kämpfte ich einsam in Stadt und Land, sieben Jahre, wie Jakob um Rahel rang, rang ich um eine Seite Prosa, um einen Vers ! Wen soll man hinweisen auf jenen Essay von Heinrich Mann, er handelt von Flaubert, es wird geschildert, wie Flaubert, nachdem er so viel Kunst geschrieben hatte, etwas anderes schreiben wollte, etwas menschlich Gutes, etwas Sympathisches, die Sorgen des Alltags, das Glück aller, aber ganz unmöglich, gar nicht in die Technik zu fassen, gar nicht in die novellistische Erkenntnis zu bannen, er mußte immer weiter im Stil, immer weiter im Joch der Sätze, immer wieder in das sagenhafte Bett, das Kopf und Glieder verstümmelt : Kunst. Oft auch denke ich, wie ungeheuer ein so zarter Mann wie Nietzsche gelitten haben muß, als er den Satz schrieb : wer fällt, den soll man auch noch stoßen, dies harte, dies brutale Wort. Aber er hatte keine Wahl, er mußte das Schiff besteigen, Mittag schlief auf Raum und Zeit und nur ein Auge sah ihn an : Unendlichkeit. Es gab für ihn keine andere Moral als die Wahrheit seines Stils und seiner Erkenntnis, denn alle ethischen Kategorien münden für den Dichter in die Kategorie der individuellen Vollendung.
A.: Eigentlich schauerlich. Aber haben nicht doch die Künstler seit Urzeiten der Menschheit gedient, indem sie durch Nachbildung und dichterische Darstellung den beunruhigenden Erscheinungen das Erschreckende und Furchtbare genommen haben ?
B.: Das ist durchaus das, was ich vorhin gelegentlich der Substanz andeutete. Der Dichter, eingeboren durch Geschick in das Zweideutige des Seins, eingebrochen unter acherontischen Schauern in das Abgründige des Individuellen, indem er es gliedert und bildnerisch klärt, erhebt es über den brutalen Realismus der Natur, über das blinde und ungebändigte Begehren des Kausaltriebes, über die gemeine Befangenheit niederer Erkenntnisgrade und schafft eine Gliederung, der die Gesetzmäßigkeit eignet. Das scheint mir die Stellung und Aufgabe des Dichters gegenüber der Welt. Sie meinen, er solle sie ändern ? Aber wie sollte er sie denn ändern, sie schöner machen — aber nach welchem Geschmack ? Besser — aber nach welcher Moral ? Tiefer — aber nach dem Maßstab welcher Erkenntnisse ? Woher soll er überhaupt den Blick nehmen, mit dem er sie umfaßt, das Wissen, um sie zu führen, die Größe für Gerechtigkeit gegenüber ihren Zielen — auf wen sollte er sich denn überhaupt stützen — auf sie, »die in lauter Kindern lebt«, wie Goethe sagt, »aber die Mutter, wo ist sie ?«
A.: Er nimmt also die Maßstäbe allein aus sich selbst, verfolgt keine Zwecke und dient keiner Tendenz ?
B.: Er folgt seiner individuellen Monomanie. Wo diese umfassend ist, erwirkt sie das äußerste Bild von der letzten dem Menschen erreichbaren Größe. Diese Größe will nicht verändern und wirken, diese Größe will sein. Immer beanstandet von der Stupidität des Rationalismus, immer bestätigt von den Genien der Menschheit selbst. Einer Menschheit, die, soweit ich ihr Schicksal übersehe, nie Überzeugungen folgte, sonddern immer nur Erscheinungen, nie Lehren, sondern immer Bildern, und die sich von zu weit her verändert, als daß unsere Blicke sie verfolgen könnten.
A.: Also schreibt der Dichter Monologe ?
B.: Autonomien ! Es arbeitet hier, um ein Schillersches Wort zu gebrauchen, die regellos schweifende Freiheit am Bande der Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit aber ist transzendent, nicht empirisch, nicht materiell, nicht opportunistisch, nicht fortschrittlich. Sie ist die Ananke, sie ist das Lied der Parze : aus Schlünden der Tiefe gerechtes Gericht. Sie ist das Geheimnis des Denkens und des Geistes überhaupt. Sie trifft nur wenige, und Dichter und Denker sind in ihrer letzten Form vor ihr identisch. Wie jene Skulptur von Rodin : der Denker, die über dem Eingang zur Unterwelt steht, ursprünglich der Dichter hieß, ihnen beiden gilt der Spruch am Sockel des Steins : der Titan versunken in einen schmerzlichen Traum. Wie ihnen beiden das gar nicht zu übertreffende Bild von Nietzsche in seinem Aufsatz »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen« gehört : »keine Mode kommt ihnen hilfreich und erleichternd entgegen«; ein Riese, schreibt er, ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu und ungestört durch mutwillig lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.

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Die dritte Umschlagseite:

     Sehr geehrter Herr Gerhart Pohl, wie ich aus dem Septemberheft der »Neuen Bücherschau« ersehe, haben Sie indirekt durch mich zwei Ihrer alten Redaktionsmitglieder verloren. Herr Kisch und Herr Becher traten aus Ihrem Redaktionskomitee aus, weil Sie im Juli einen Aufsatz von Max Herrmann über mich veröffentlichten. Beider Opposition, die sie in Briefen an Sie darlegen, richtet sich nach zwei Seiten : erstens gegen gewisse Formulierungen von Max Herrmann, zweitens gegen mich persönlich, meine literarische Erscheinung, meine geistige Position. Über dies letztere erlauben Sie mir, einige Bemerkungen zu machen, auch wenn sie Ihren persönlichen Ansichten nicht entsprechen sollten.
     Ich beginne damit, Herrn Kisch vorzuhalten, daß er mich fahrlässig zitiert. Er wirft mir »widerliche Aristokratie« vor, die aus jeder meiner Zeilen »stinkt« und fährt begründend fort : »er (Benn) zitiert sogar zustimmend die Wehklagen, ›daß Fürsten im Rinnstein und Landstreicher Diktatoren sind‹ (Wo liegen Fürsten im Rinnstein, und wenn schon !) und ›daß sich die Zeit mit der Lächerlichkeit eines Kampfes um eine Stundenlohnerhöhung von zwei Pfennigen abgibt‹.« Richtiger Unsinn! Nicht um mich zu verteidigen, sondern um festzustellen, wie unzuverlässig und unreell ein solcher literarischer Angriff basiert ist, führe ich die fragliche Stelle an. Sie steht in einem Aufsatz »Urgesicht«, der im Märzheft der »Neuen Rundschau« stand, und lautet folgendermaßen :
     »Jedenfalls, da stand er also vor mir : der Biologe, der Keimblattmarxist, der Anilinexporteur, der Villenzusammenforscher, der als Lamm entstieg und als Drache sprach. Das Zeitalter Bacons, das Mannesalter des Denkens, das gußeiserne Säkulum, das nicht Götter mit dem Beil machte, aber Teufel mit den Erzen : vierhundert Millionen Individuen auf einen winzigen Kontinent zusammengepfercht, 25 Völkerschaften, 30 Sprachen, 75 Dialekte, inter- und intranationale Spannungen von Ausrottungsvehemenz, hier Kampf um Stundenlohnerhöhung von zwei Pfennigen, dort Golfmatch des Carlton-Club im blütendurchfluteten Cannes, Fürsten im Rinnstein, Landstreicher als Diktatoren, Orgie der Vertikaltrusts, Fieber der Profite : die begrenzten Reichtümer des Erdteils ökonomisch, das heißt mit Aufschlag zu verwerten.«
     Es kann kein Zweifel darüber sein, daß hier im einzelnen überhaupt keine Stellungnahme vorliegt, vielmehr im ganzen eine Schilderung. Eine Schilderung nämlich der Widersinnigkeit, der Monstrosität, des Kaos unserer Zeit. Das Mittel der Schilderung ist das der Kontrastierung. Ich stimme keinen Wehklagen zu hinsichtlich der Fürsten, noch viel weniger erlaube ich es mir lächerlich zu finden, daß Kämpfe um Stundenlohnerhöhung stattfinden, vielmehr wird jeder den Tenor heraushören, es sei unfaßlich, es sei nahezu erschütternd, es bedürfe dringend einer Feststellung, daß Arbeiter für eine Erhöhung ihres Stundenlohns um zwei Pfennige kämpfen müssen im gleichen Augenblick, wo ein Golf-Match im Carlton-Club des blütendurchfluteten Cannes die kapitalistische Welt in Atem hält. Ist also der Abschnitt aggressiv, dann ist er antizivilisatorisch, antikapitalistisch. Jeder hört Das, sonderbar, daß ein so populärer Schriftsteller wie Herr Kisch, der die bürgerlichen Zeitungen beliefert, es nicht wahrgenommen haben sollte.
     Im übrigen aber nehme ich die Aristokratie meiner schriftstellerischen Art durchaus für mich in Anspruch und, wenn sie einem Journalisten von, wie er sich uns eben darstellte, so oberflächlichem Hinsehn des Herrn Kisch widerlich erscheint, nehme ich sie um so freudiger an mein Herz. Denn wenn meine geringe Art zu schriftstellern überhaupt eine bestimmte Tendenz vertritt, so allerdings ganz ausgesprochener Maßen die, den Typ des unfundierten Rum- und Mitläufers, des wichtigtuerischen Meinungsäußerers, des feuilletonistischen Stoffbesprengers, des Verschleuderers des Worts, des Schmocks und Schwätzers, dessen Persönlichkeit ihren Talenten und Energien nach gar nicht danach ist, irgendeinen Gedanken historischen oder erkenntnismäßigen Karakters zu Ende denken zu können, in seiner ganzen Nebensächlichkeit empfinden zu lassen — zu Gunsten eines reservierten Typs, der mit eigenem geistigen Besitz, durch ältere Herkunft legitimiert, in längerer Arbeit an sich selbst gezüchtet, in einem immer wieder zu sich selber zurücklaufenden Rythmus [!] stilisiert, aus der unheimlichen Gebundenheit des Ich immer von neuem produktive Vorstöße versucht in ein Weites und Allgemeines, das wahrscheinlich der einzige wirklich kollektivistische Besitz des menschlichen Geschlechts ist; eines Typs, der zögert, weil er von Unübersehbarem weiß; eines Typs, der Grenzen sucht, und dessen Äußerungen daher nicht im Schnalzen und Schnaufen des rasenden Reporters vor sich gehen, sondern im Tempo jener »zärtlichen Langsamkeit«, hinsichtlich derer es Keinem freisteht, Ohren zu haben, sondern hinsichtlich deren es ein Vorrecht ohnegleichen ist, Hörer zu sein.
     Und in ähnlicher Richtung gehen meine Gedanken betreffend die »schöne Seele«, mit der Herr Becher mich herabzusetzen meint. Es ist doch wohl kein Zweifel, Schönheit ist ein menschliches Faktum, genau wie Stundenlohnerhöhung oder Klassenkampf, auch nicht weniger real, und man kann sich schon entschließen, ihr ergeben zu sein. Ich meine mit Schönheit allerdings nicht jene wolkige, mulmige, ölige Irisierung, die über politischen Frasen, kindischen Utopien, kosmischen Morgenröten, Menschheitsdämmerungen und den Wunschträumen hinsichtlich einer allgemein zugänglichen, international garantierten Behäbigkeit und Behaglichkeit der menschlichen Gemeinschaft liegt — ich denke an eine härtere Schönheit, an eine Schönheit aus anderen Kategorien, an »jene Augenblicke und Wunder, wo eine große Kraft freiwillig vor dem Maßlosen und Unbegrenzten stehenblieb, wo ein Überfluß an feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und Versteinerung, im Feststehen und sich Feststellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde«.
     Aber verlassen wir die Personen, betrachten wir die Sache. Becher und Kisch gehen davon aus, daß jeder, der heute denkt und schreibt, es im Sinne der Arbeiterbewegung ... Etagenwohnungen oder ihrem Luftkurort.
     Die Völker und ihre politischen Führer ! Die Völker, die jeden kreuzigen und bespeien, auch wenn sie ihn später als ihren Retter rufen, sei es Kristus, sei es Clemenceau. Die Führer, die Nichts um des Volkes willen tun, Alles nur aus Eitelkeit, aus Machtgier, im idealsten Fall aus Fanatismus zu einer fixen Idee. Erblicken Sie irgendeinen Sinn darin, zu ihnen überzugehen ? Ich erblicke keinen Sinn, ich höre keine Stimme, ich sehe keine Figur. Ich halte die Tiefe für unerforscht, aus der sie beide stammen und zu der sie beide treiben, aber schon daß Sie die Tiefe fühlen, trennt Sie von beiden gleich. Natürlich höre ich die große Frage der Zeit : Ich oder Gemeinschaft, Hingabe an den sozialen Verband oder Selbstgestaltung, Politisierung oder Sublimierung, wie weit ist es erlaubt sich abzusondern, sich zurückzuziehen, seiner Aristokratie zu leben, sich auf die Spitze zu treiben — aber ich habe keine andere Antwort darauf als die, die das Dasein mich lehrte : es ist Alles erlaubt, was zum Erlebnis führt. Einziges Kriterium der Wahrheit und des Sinns ! Ob es allgemeingültig ist, steht nicht bei mir. Das Leben geht keinen Schritt, ohne andere zu schlagen; mein Leben nicht, ohne andere zu schlagen : vulnerant omnes, ultima necat (alle verwunden, die letzte tötet) — las ich auf den Stunden einer Sonnenuhr.
     Wenn also Herr Kisch in dem Brief an Sie schreibt, daß für ihn der literarische Lieferant politischen Propagandamaterials turmhoch über dem überlegenen Weltdichter steht, so fühlen wohl Einige, daß dies keine Erfassung des Weltprozesses bedeutet, sondern die Formulierung einer niedrigen Funktion. Aber es ist die Stimme der Zeit. Es würde Nichts nützen, ihr die Erinnerung an die großen Kulturfilosofen des vorigen Jahrhunderts wachzurufen, die in der Arbeit eines Lebens gefunden zu haben glaubten, daß die historischen Wendepunkte aus dem Nichts hervorträten, die großen schöpferischen Akte geschähen jäh. Sie bedürfen keiner literarischen Lieferanten und keines politischen Propagandamaterials, auf dem Wege des Fortschritts und mit der Länge der Zeit geschähen sie nicht. Soziale Kämpfe, Klassenbewegungen, Machtverschiebungen, Typenwertungen seien ihr Begleiterscheinungen, ihre Ursachen nie. Ihre Ursache läge im Irrationalen, das kein Dogma erreicht, das nur das Ich erschließt. Es würde nichts nützen. Auch gibt es Dinge, die es verdienen, daß man Niemanden von ihnen überzeugt.
     Sie werden also alleinstehen. Gut, keine Schande. Sie müssen es hinnehmen, Sie können mit Nichts rechnen. Zwischenreich, stumme Gefährten; Abart, Introversion. Zitternder Boden, über den manchmal ein Schatten fällt, eine zarte Gestalt, Traum eines Meisters, den Sie wie ich verehren, eine Hirtin, die herniedersteigt, Mnais, »den windigen Morgen auf ihren spiegelnden Hüften, hoch und allein«.