DUNI
I
Für
Dinge heb ich nicht mehr mein Haupt. Der Name hatte mich interessiert.
Über Namen stolpere ich bisweilen noch, ob sie aus Büchern sich
mir zuflüstern, ein fremder Mund sie spuckt oder ums liebe Leben
flackernde Leuchtreklamen lärmend auf mich niederstürzen und
den pariser Ast zitieren, der den jungen Horváth auf den Champs
Elysées erschlug.
Mich interessieren überhaupt nur noch
Namen und Zitate ... Albehmot ... Musaget ... Shenendoah ...
letzter, seltener, illusionsloser Zauber, alles ohne Macht, ohne Bedeutung,
nichts mehr zu zwingen, nichts mehr zu wollen, simple Erstaunlichkeiten
jenseits eines ganzen Himmels voller Quidproquos.
Diesmal war meine Neugierde rein akademisch.
Manchmal eben dürstet mich nach Kenntnis. Oft will ich dann wissen,
was es ist, das ich nicht hab — und wenns denn eine gute Phase sein
soll, ist sie kurz und zudem noch amüsant.
... Estoril, wo´s
die Natokonferenz gab ... ein Eigenname mit apokalyptischem Timbre, dem
in dereinst buntzufällig überdauert haben werdenden Chroniken
der Schlußpunkt gebührte. Gibt aber noch ein paar andere Kandidaten
auf den Harmagedonplatz. Harmagedon selbst ist solch ein Name nicht. Das,
nebenbei, ist die ganze Widerlegung des Christentums. Ich mäkel höchst
ungern, aber mein wenig günstiger Eindruck von Harmagedon hängt
zum Gutteil am spiritus asper — ein Argument, der Iota-Christenheit
würdig. Auch bin ich sicher, ein kurzfristig anberaumtes Ende der
Welt mit einiger Konzentration aus dem Namen des dann regierenden US-Präsidenten
oder seines Vize herausklingen hören zu können.
Mich geht das leider leider nichts an.
... Estoril ... medamothi ... Shamrok
...
Also mitten die Nacht ein wildes Schild,
sprödplätternder grüner Lack, Zum letzten Halt,
mitten am Kneipentresen, tief im Terrain des bewußtlosen Feindes,
am locus minores resistentiae : ein steinalter Witz findet sich erzählt,
und zwar dem Fliehschädelwirt, und zwar von einem Abgewrackten im
Kostüm der Schauerleute : »Jesuit : ich kann besser predigen.
Dominikaner : dafür ich zu allem aus dem Stegreif. Jesuit : Dann
sag etwas zu den ersten Gedanken des Jesuskindleins. Dominikaner : Rechts
ein Ochse, links ein Esel — das also ist die Gesellschaft Jesu«
Aber immerhin.
Das Bier schäumt mäßig,
schmeckt angenehm schal, Fruchtfliegen lassen ihr Leichengift in abgestandenen
Wein und ölig gibt Zeugnis die sinnspruchverkerbte Eichenholztheke.
Ich war hier — das ist ja mal eine deftige Daseinsbekundung.
Ein bißchen Licht klebt am Qualm, zwischen eines jeden Mannes Lippen
hier glimmt in Filter gefaßt die Mündung einer verpuffenden
Welt und aus der Brusttasche meines Flanellhemdes lappt angeschwitzt die
Karte, die Stenderhoff mir heut mittag schamblaß zutrug, falsch
zugestellt, gestern, aber Sie waren ja gestern ja nicht da, hat sie
gelogen. Wo hätt ich schon sein sollen ? Ich ertrug Stenderhoffs
Gesicht nicht und starrte auf ihre Nylons. Die ertrug ich auch nicht und
nicht deren jämmerlichen Versuch, graues Fleisch zu halten. Und ob
sie die Marke haben könne, ihr Großneffe aus Niederwürzbach,
ich wisse ja, sammle doch. Nichts wußte ich, nichts wollte ich wissen
: ich habs nicht gewährt.
Aus Florenz, dem schönen Firenze :
da lebt sie nun, gibt Sprachen, erwehrt sich der Attacken alternder Papagallos
und ist nach Maßgabe ihrer schwachen Kräfte glücklich.
Kann passieren.
V.v. = venus vulgivaga, die Umherschweifende
Einander treibt Eines das Andere, auseinander
treibt Eines vom Anderen. Trennung ist die Elementarerfahrung. Und Wiedersehen
eine Tertiärtugend. Das Gesetz des Seins fand ich schon früh
: den Übergang von Spiel zu Ernst, vom Gedachten zum Erlittenen.
Das Festhalten an Denken und Spielen ist daher die Verweigerung kosmisch
gestanzter Regeln, der Aufstand des Flohs gegen die Matrize der Aufstände.
Bereitschaft zum Ernst ist die fruchtlos ironische Distanz, die der Sklave
im Stollen dem peitschbegabten Nubier gegenüber empfunden haben mag.
Lauter Sätze mit ist. Noch
einen : Wirklichkeit ist der Superlativ von Subjektivität. Oder nicht
? Klingt mächtig entschieden; mithin gut. Ich könnte ohne Anstrengung
mein Leben damit zubringen, finale Eindrücke auszumalen ... die verwaschenen
Blümelein oder Herzen des Kopfkissens, auf dem ich unbeholfen mich
anschicken werde auszuhauchen ... ein dramatisch deutlicher Geruch nach
Veilchen, Fleckenwasser, Pfefferminztee ... ein Yugoslaviensatz der Tagespresse
... mein eignes Gestöhn, wenn ich wehrlos daläg und wüßte,
daß jemand in Peinlichkeit watet, mich sinnlos umsorgt und dabei
eine letzte akustische Belästigung, ein Räuspern von sich gibt,
ein Lungenbellen oder Knöchelknacken. Oder das Summsen einer dummen
Stubenfliege saugt mir die letzte Aufmerksamkeit ab, oder ein Quietschen
von Sohlen. Vielleicht begleiten mich aber auch nur Zahnschmerzen und
ich fiebere, mir möge endlich das komplette Denkgebiß gezogen
werden und ohne Betäubung das und ohne Zahnersatz. Auf jeden Fall
aber werd ich mich sterbensgebettet erinnern, daß ich die Todesstunde
jugendlich schon dachte, und ich werde zerschmettert sein von der Tatsache
: es ist ernst, es war ernst. Alles. Restlos.
Aischines berichtet in seinen Reden gegen
Timarchon, daß den Areopagiten verboten war, über einen Spaß
zu lachen oder einen zu schreiben. Ist das sinnvoll ? Ja, das ist sinnvoll.
Denn es ist die Achse unausweichlichen Sinnausgangs. Ist es aber auch
glaubhaft ? Ja, das ist glaubhaft. Denn des Aischines Liebeslieder gelten
als verschollen und er war Makedonenfreund und Prozeßhansel, kurz,
ein unerfeulicher Zeitgenosse. Like me. Solche Menschen lügen nicht.
Vor wem auch ?
Abgitt Margot Sponnheimer trällt aus
der Jukebox, gell, du hast mich gelle gern, gelle ich dich a, gelle
wenn ich lache tu, gell, dann lachste a ... ein verlorener Spätrentner
sitzt inmitten dieser Töne auf einem Barhocker und brabbelt Ich
bin total happy, bin sowas von total happy. Der ist unrasiert und
hat nicht den Kontakt zu den jungen Leuten verloren. Alle paar Minuten
hebt das Männlein seinen Oberkörper, stützt sich auf den
Ellbogen, beugt vornüber und schlägt mit dem rechten Arm ins
Nichts. Man muß schon sehr genau hinschaun, wie die Post da abgeht
: nämlich patscht es nach der Girlande einer begangenen Lokalrunde,
daß sie schunkle. Die Girlande. Ein Versuch.
Aber immerhin.
Besuch aus Berlin betritt den Salon, verlangt
Faßbrause und wird ham-wer-nich weggeschickt, ich zahl und schlurfe
Richtung Almatastraße. Nicht zu verfehlen. Wenn die Welt mir
Böses will, gell da bitt ich dich, gell du läßt mich nit,
gell du läßt mich nit, gell du läßt mich nit im
Stich
Doch.
... Villefort ... Danglars ... Fernand
...
II
...
Villefort ... Danglars ... Fernand ... ein wahrhaft gräflicher
Fluch. Wenn Emporkömmlinge hassen, adaptieren sie zuallererst den
großen, metaphysischen Stil.
Wieder Kopfschmerzen. Aber totgeborene.
Viel Freude werden die nicht haben an mir. Der COOP und die Drogerie Waller
Heerstraße Höhe Luruper Weg haben geflaggt und von Laden zu
Laden eine gemeinschaftliche Banderole über die Straße gespannt
: Perlen statt Pulver. Das sei auch meine Devise, steh auch auf
meiner Stirn.
Da stands dann wohl auch, denn als ich in
Mission für Clemens die Apotheke betrat, seiner hochwüchsigen
Pharmazeutin einen Kassiber zuzustecken, in dem Clemens weitschweifige,
mich nicht weiter begeisternde Erklärungen über die näheren
Umstände einer nicht eingehaltenen Verabredung abgab, sprach ich
der Dame doch lieber von meinen Großneffen in Niederwürzbach,
die ›medizini‹ sammelten, die pfiffige Zeitschrift aus
deiner Apotheke, die mit den riesigen Tierpostern, und begehrte in
meiner Neffen Namen ein Exemplar der Ausgabe, wo der Puma noch Hunger
hat. Da geschah, daß ich mit dem Wort »Schwachkopf«
des Feldes verwiesen wurde. Ich nickte befriedigt, reckte die Faust und
gab zum Abschied die Formel : »Natur als Quelle der Kraft !«
Heute ist es an dem : viele Besatzer der
Almatastraße tauen Kühlschränke ab, eine Horde Weiber
mit Wischlappen saugt Pfützen, singt und wringt, nahtlos gehts in
freiwilligen Geländerputz über und ich verteidige meinen guten
Ruf als Großer Elevatorschmäher und tu in den kreislaufgeschuldeten
Ruhepausen Lachen Schweiß hinzu. Am Schreibtisch dann dunsen meine
Finger endgültig auf. Überlegung, mich zu mutilieren. Aus dem
Berg aufgebrauchter Packungen zwinkert ein Krümel Antihistamin und
will von mir Nimm mich oder nimm mich nicht. Eine pittoreske
Szene, in sehr spätes Zwielicht getan und unter die Ahnung eines
dunklen Uhus Raunzen : Gewittermücken tanzen über meinem Kopf,
Hände verraten ja viel über einen Mann und seine Eigenarten,
ich betrachte das Nikotin meiner Nägel und gedenk einer Feile, die
ich einst besaß. Meine Haut prescht voran und pellt unsauber am
Unterarm ihre erste Schicht ab, das Zeug hängt an mir wie Zellophan
an billigen Paperbacks. So also stellt der Installateur des Sonnensystems
seinen Humor auf dem Gebiet der Kosmetik klar : der erste Sonnenbrand
meines Lebens. Von was nur ?
Wie Sir Pepys die Welt begründen. Sein
Pestgelübde, dem Alkohol zu entsagen, brechend, beruhigt er sich
zum einen mit dem Tatbestand der Pest und dann : sein Arzt sei ja tot.
Müßte gehen.
Der Himmel leert sich
Die Engel federn in den Bäumen
Und wissen nicht, was nun tun, was nicht tun
Der Himmel bläht sich von Wüsten träumen |
Die Adresse
in Florenz. Liegt vor mir. Sollte ich fortziehen ? Oder einen Brief schreiben
? An wen ?
Joachim von Fiore halte ich durchaus für
kompetent in Dingen des Kalküls. Auch Johannes Rau. Der eine tot,
der andere nicht. Ich schreibe also an den Ministerpräsidenten. Andererseits
stand im Minervatempel zu Athen ein großer Altar für die Vergessenheit.
Salva venia entstamm ich einer Gegend, in
der wacklige alte Männer auf dem Weg zum Wochenmarkt sich ihre Krücken
hinunterhangeln und Kastanien auflesen, die Enkel zu bebasteln. Die Häuschen
stehen schmuck, wenig mesquin, Vorgärten gepflegt und alles samtherbstlich
sehr-braun. Nie hatte ich den Eindruck, daß irgendjemand, irgendwas
sterben könnte
III
Beim Shopping
: geklemmt in eine Zwingschraube aus Menschenfleisch und Einkaufswagen,
kein Vor, kein Zurück, aus Nebengängen quellt Gewürz und
allerlei Sonstiges, noch mehr Menschen auch, Schlangensprenger, anstehunlustige
Chaoten in Short und Gel. Buggyräder fahren Schneisen auf zum Sturz
gebrachte Beutel Potato-Chips, das für meine Abfertigung zuständige
Laufband bockt, überehrgeizige Greise bocken und versuchen freihändig
einundziebzig einzelne Pfennige aus einer Börse zu zählen, die
nicht mal Telefonkarte oder Groschen enthält, denn, definitiv und
dem größten Kaufamateur unmittelbar einsichtig : es ist die
falsche Börse, die Börse vielleicht mit dem
Schlüssel zum Kohlekeller. Wie mag eine Postüberweisung nach
Venezuela funktionieren ? Wer darf zu welchen Konditionen dort Geld abheben
? »Ist doch Ausland, ganz weit weg, weiß man ja, wie das da
ist. Wie, das weiß niemand, wie das geht ? Sie haben doch einen
Kittel an !« Klasse. Die Empörung ist echt. Die Kassiererin
versteht nicht. Eine eingedellte Colabüchse steht am systematisch
falschen Ort und hört sich an. An ihr und links an der endlosen Folge
Kunden vorbei schiebt sich gemächlich eine dralle Angestellte, unterbricht
die traditionelle Abfertigung und läßt sich vom Kollegen Katzenfutter
mit Mirabellengeschmack und Sahnejoghurt/Huhn abziehen. »Das darf
doch nicht wahr sein« — der von ihr verdrängte junge
Schnauzer. »O doch, das ist wahr« Gute Antwort. Wahr ist das.
Kurt kümmerts nicht. Kurts Blaumann spannt über den hemdlos
verfetteten Oberkörper, neben der linken Brustwarze prangt faustgroß
ein Muttermal. Eine Handwerkerfaust knufft hinterrücks den haarlos
kleinen Herrn Herbert, der vor Kurt steht. Kurt und Herbert tauschen Begrüßung
und entfachen sokratisches Feuer neben den vergitterten Zigaretten.
»Mänsch, Kurt !«
»Jå, Mänsch. Härbärt
!«
»Wie geht dir das ?«
»Jåå. Jå jå«
»Renate sieht auch nich so gut aus,
die mit ihrm Bein. Das zieht sich«
»Jåå. Jå jå«
»Ne, sachte auch Liese. Die hat die
gesehn. Gut sieht das nich aus«
»Nee. Nee nee«
Allgemein sage ich nichts über nichts;
das ist meine Art zu denken. Hier hätt aber selbst Baron de la Joumate
eine Ausnahme gemacht, auch er hätte staunend die leibhaftige Identität
von reinem Seyn und reinem Nichts bekannt. Ulkig : am Band neben mir reklamierts,
die Kassendame wird zum Produkthaufen zitiert und muß nachrechnen
mit Kopf und Stift. Soweit ich begreife, gehts um drei Groschen. Storno
! wird nach einem Hinten gerufen. Ulkig aber weil : in den Leuten
schäumt Ungeduld an und kocht hoch zu kaum verhohlener Wut. Dann
aber wird das Allerschlimmste wirklich, wie von Zauberhand, warum auch
nicht : jemand hinter mir fängt an zu pfeifen. Ein fröhlichblödes
Sportmannhirn improvisiert, besprüht mich mit originärem Frohsinn,
zu debil, eine bekannt dämliche Melodie zu benutzen, zu bösartig
und monoman, als daß es mir gönnte, meinen Haß gerecht
auf Komponist, Texter und Flöter zu verteilen. Diese Kreatur will
alles. Ich repetiere innerlich das Stoßgebet, das einst, als ich
Montparnasse Baudelaire besuchte, neben mir ein kraushaariger Existentialist
stöhnte, Baudelaire, donnez-moi la force pour mon projet,
Baudelaire aber hörte nicht mein Flehen, so ists, wenn Jahwe ein
Herz verstockt, ein totes gar, ich versteh dich, Stenderhoff, und ich
bejahe mein Los, halt es aus, zehn Sekunden, fünfzehn, das Spatzenhirn
stellts Geflöte nicht ein, einzig unmenschliches Geräusch im
Discounter, das Rattern der Kasse höchstes Humanum : dann schrei
ich O nein ! laß alles stehn und liegen und wetze an der
Kasse vorbei. Wenns nur vorbei ist, wenns nur aus ist.
Lutsch ich heut halt keinen
Hefewürfel. Oder nur den einen.
Vielleicht
hätt ich die Leiche nicht Siezen dürfen. Was weiß ich
schon von der Etikette der Toten ?
Vorbei
auch am alten Wasserturm. Wer alles in einem Turm wohnen wollte, mußte
: Montaigne, Nietzsche, Hölderlin, Joyce, Diderot, Stendhal. Duni.
Vom Feinsten.
IV
Sieh
den Sperling im Bahnhof, den´s verschlug in den Tunnel zu den Perrons
: er säet nicht, er erntet demzufolge nicht und er krepiert unter
schweren Winterstiefeln oder Pfennigabsätzen doch und sein Grab ist
auf dem Gußbeton vorm Aufgang Süd, und Hunger hat er allezeit
gehabt und nicht eben wenig. Welchen Gesamteindruck mag der Spatz von
seiner Existenz gehabt haben ? geschlüpft mit allen Anlagen eines
Spatzens, meinetwegen soll er sogar fliegen gekonnt haben, trotz seiner
lahmen Kralle, tut nichts, ausgebrütet von der Abwärme eines
Handtrockengebläses im Bahnhofs-WC. War ihm nicht Kindheit Überleben
zwischen Schritten tumb hastender Giganten, im Stollen zwischen den Aufgängen
zu den Gleisen 6 und 7, unter dem Mauerfenster, das die Erste Kirche
Christi Wissenschaftler teilt mit dem Ring Deutscher Makler
? Mußten die zarten Füße nicht tapsen zwischen Dreck,
Kot, Rotz, Kippen, zwischen Glassplittern und Papierschnipseln, Wichstüchern
und Blechdosen ? — langer langer Tunnel, aus der Perspektive eines
Sperlings. Er hat gehört, was andre seiner Sorte, die er kennengelernt
haben mag auf seiner Flucht, ihm inmitten des allanwesenden Lärms
erzählt haben vom mächtigen Kuppelbau, der sich erheben soll
am einen Ende des Tunnels, von einem noch viel mächtigeren Kuppelbau
da, wo die Transportbänder und Treppen enden, oder noch ferner, mit
viel riesigen, übelbeleumdeten und pfründeverteidigenden Vogelsorten
der Bahnhofsvorplatz, viel viel jagendes Schuhwerk, Köter, bretternde
Skateboards und marodierende Fahrräder. Er endet, dieser Zeitgenosse,
sagen wir kurz hinterm Schild Gleis 6 Süd, direkt unter der Werbefläche
einer lokalen Textildruckfirma, nackte Menschenweibbrüste auf weißem
T-Shirt, und kurz vor dem bundesbahneignem großplakatigen Reklamefeldzug
: Sonderzüge zum Vatertag nach Bad Sulzuffeln. Nun, was
ist die Kategorie, unter die solch eine Existenz fällt ? Wahrheit
? Kaum. Der allesbeherrschende Eindruck aller Spatzenfasern ist wohl :
fremd ... wie fremd alles. Spatzens Erdenwallen steht unter der Schirmherrschaft
der Fremdheit.
V
Am lauschigsten
Eckchen, das die Almatastraße bietet, neben der sich selbst fortzeugenden
Baugrube, vergessen von den Graduierten im Amt für Stadtverwesung,
beschattet von lieblich gewachsenem laubunfähigem Gebäum, im
stillen Winkel zur Brücke hin, in dem der Schmutz sich leidenschaftlich
bündelt und Aluminiumfolien mit Werbebroschüren von Wind und
Fußtritten versammelt werden zum Palaver wie Stoffreste im Bauchnabel,
in einem Hain der Kultur also : liegt die letzte Telephonzelle des Stadtteils
mit Münzeinwurf. Quoi ! n´est-ce que ça ?
Ich werde unduldsamer. Langsam ärgere ich
mich über Stenderhoff, die sich den Urin von jungen Hunden ins Gesicht
geschmiert hat und die damit etwas gegen ihr häßliches Gesicht
tun will. Vollkommen aussichtslos.
Den toten Spatz werd ich nicht los. Er wird gestorben
sein mit dem comtoralen Fluch ... Villefort ... Danglars ... Fernand
...
VI
Ich
zog los Maden suchen. War denn die Zeit der Maden ? Oder Raupen,
von mir aus. Wo hatte ich diese charmanten Geschöpfe schon mal gesehen
? War irgendwann in meiner verdorbenen Jugend. Und warum wollte ich nun
den beispielhaften Gang studieren, dessen sie sich befleißigen ?
Weil ... worüber diese Wesen den Buckel schlagen : das müßte
die Wirklichkeit sein, und in ihrem Körperzenit, am wirklichkeitfernsten,
müßte ihr Herz schlagen, ihr Denken sitzen. Ich erinnerte mich
: als Kind, im Freibad, unter den Birken. Da wohnt die Made.
Ich
log mich ein. Lächelte das verblendete Glas des Kassenhäuschens
an und gab vor, mein Kind abholen zu wollen. Und horch : ich ging als
Vater durch ! Uh, und was bekam ich für mein Geld ! Die gelbe Sau
brannte und überüppige Kretins aalten sich ohne Aufsicht eines
Rates der Niedertracht, dessen vornehmste Pflicht die Züchtigung
amorpher Buddhen gewesen wär. Unbehelligt wälzten auf Badetüchern
Körper aus Wogen Fleisch, jüngste schon, und ohne Strafe kam
davon jegliches obzön gewinkelte Puddingbein. Sehr peinlich. Appetitlich
unter allen allein der tüchtig gertenschlanke Türkenknab, der
den Zugang zur Wasserrutsche mit einem Fuß verstellte und Wegegeld
erpreßte. Keins der genötigten Kinder wunderte sich und Tränen
sah ich nur bei zweien : die konnten die Vergnügungssteuer nicht
entrichten und deren Eltern zeigten ihnen nur einen Vogel.
Pfarrer
Müller kam dann, frisch aus dem Kloster der Verklärung,
sehr entspannt die Badesandalen und das himmelblaue Sweatshirt, breitete
seine Arme vor der Pommesbude und hielt eine unnötige Predigt wider
die Erbsünde, weder er noch die Gemeinde hat irgend etwas verstanden.
»Was hast du hier verloren, du alter Schmutzfink ?« entfernte
der dienstälteste Bademeister den Nonnenmann. Ich hoffe, Müller
mißverstand nicht meinen Applaus : der galt noch seiner Ausarbeitung,
nicht der ansatzlosen Aktion des Bademeisters. Dann traf mich Fred, ein
Bekannter aus der gymnasialen Unterstufe. Wir sprachen über unsere
Kommilitonen und ihre Schicksale; zu meiner Freude war keiner dabei, dem
es besser gegangen ist als mir. Ein nettes Gespräch, bei dem ich
die Augen nicht lassen konnte von den Raupen auf meiner Hand, bis Fred
mir etwas sagte, das mich sehr verletzte : »Was, du hast kein Auto
? Ich wußte schon immer, daß du verrückt bist«
Ich
ging und fand konsequent einen Glückspfennig; nur Glück war
keins mehr dran. Kaufte mir am Kiosk die neue Rede des Kanzlers. Ich werd
sie zu dem Buch stellen, das ich jüngst auf dem Flohmarkt fand :
Heiligung der Hundstaufe — der Jahrhundertflop : daheim
Almatastraße entpuppte es sich meinem gierigen Blick als Heilung
der Hundstaupe. Im Drehkreuz am Ausgang ereilte mich aus dem Glashäuschen
die Anfrage : »Na, Ihr Kind nicht gefunden ?« »Weiß
nicht, sehen alle so gleich aus«
Versehentlich
ging ich dann falsche Richtung, stadtauswärts, und stieß auf
den Stukkateurbetrieb Sillmann. Nette Fassade : das Haus, freigebombt
und alleinstehend geblieben, wird gerahmt von intakten Kolonnaden, ein
Mützenkind mit Clownspuppe im Arm lehnt lässig an der Brüstung,
hinter ihm öffnet ein Torbogen die Aussicht auf eine toskanische
Landschaft, in der ein geweißtes Castell pinienumringt ruht. Eine
authentische lebendgebärende Fliege krabbelt übers Szenario.
Durchaus cerebrale Effekte.
Beobachtete,
wie albern der Hausmeister sich benimmt, er spielt ständig entweder
mit seinem Hund oder mit seinem Schwanz, kümmert sich nicht im geringsten
um das, was um ihn herum vorgeht, und was er sagt, ist überaus schwach.
Hörte dann abends, als ich nach ausgesetzten Pfandflaschen suchte,
den Hausmeister im Kellergeschoß gegen die dreijährige Legislaturperiode
sprechen. Habe noch nie einen so miserablen Redner erlebt. Clemens gab
mir den Nachmittag darauf eine unpassende Antwort, wie ich es nicht gerne
habe. Ich zog ihn deshalb in der Hitze des Gefechts an der Nase, um ihn
zu kränken, was ich nachher aber, um ihn zu besänftigen, abstritt.
Das ist, was ich erlebte.
Sah
einen Tag später in der Städtischen Galerie ein Hundeexperiment.
Ein junger Hund wurde dadurch getötet, daß man Opium in sein
Hinterbein einführte
Nachts
um 11 plötzlich angefangen, im Bett zu schwitzen. Dachte daran, wiewenig
Geld ich im Hause habe, hörte Geräusche und schwitzte immer
mehr, bis ich vor Angst fast zerschmolz. Ich läutete die Glocke,
aber niemand reagierte. Darauf steigerte sich meine Angst noch, mir fiel
ein, daß noch nie jemand um das Haus herumschlich. Wahrscheinlich
wollen mich die Einbrecher in Sicherheit wiegen und beobachten von einem
raffinierten Versteck aus, ob und wann ich daheim bin. Jetzt verstehe
ich erst die Angst armer Leute, die um ihren Besitz fürchten. Schließlich
bellt ein Hund, der rausgelassen werden will.
Wieder
sehr verdienstvoll die Städtischen Galerie. Sah mehrere Experimente
mit einem Huhn, einem Hund und einer Katze, denen Florentiner Gift verabreicht
wurde. Das Huhn schien eine Weile betrunken, wurde dann aber rasch wieder
nüchtern; der Hund mußte sich gewaltig erbrechen, zeigte aber
sonst keinerlei Wirkung. Die Reaktion der Katze erlebte ich nicht mehr,
weil Clemens mich wegholte. Wieder kein endgültiger Aufschluß,
ob Tabak zur Paralyse führt.
Vera
ikona, das wahre Bild : Veronika, Schweißtuch Wortverdrehung Persipan,
Marzipanimitat Overlord,
***
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