Clemens Emschermann bekennt
in einer e-mail an den Boten :
»Ja, ich lehre in
Delmenhorst«

     Ich werde doch wohl nicht mit dem Spaten bewaffnet mich in die Wildeshauser Straße schleichen, um Deine an mich gestellten Erwartungen fitgermäßig1 zu befriedigen ! Hältst Du mich etwa für nekrophil ? Allerdings stellt sich mir noch eine andere Frage nach dem Lesen Deiner Mail : gab Friedrich Lange2 durch seine bloße Existenz der Lange(n) Straße etwa ihren Namen?
     Bekenntnisschriften kannst Du von mir nicht erwarten, da ich von Berufs wegen mit einem Bekenntnis zu tun habe, und das reicht mir völlig. Außerdem fällt mir zu Delmenhorst nicht viel ein. Das Wenige, was mir einfällt, will ich Dir beichten :
     1. Mit dem Vater meiner Freundin während meines Studiums in Berlin pflegte ich am Samstag die Sportschau zu verfolgen. Da mußten einmal im DFB-Pokal die Mannschaften von Delmenhorst und Erkenschwiek (falls man das so schreibt) gegeneinander antreten. Wir als arrogante Berliner lagen damals (das ist mehr als 20 Jahre her) vor Lachen ziemlich gekrümmt nebeneinander auf dem Teppich, weil uns beide Städtenamen völlig unbekannt waren und wir deshalb annahmen, es handle sich jeweils um eine exotische Dorfmannschaft aus unserem schönen deutschen Vaterland.
     2. Nach dem Studium erreichte mich ein Anruf aus Delmenhorst, wo man mir eine Stelle als Religionslehrer anbot. Ich griff sofort zu, weil ich damals eine Urlaubsbekanntschaft in Spanien aus Bremen-Vegesack gemacht hatte, von der ich damals annahm, sie würde sich mir weiterhin hingeben, wenn ich erst in ihrer Nähe wohne. Wie Du Dir selbst denken kannst, war das natürlich ein Irrtum, aber die Stelle habe ich dennoch angetreten und lebe seitdem von ihr recht gut. Ich kann mir sogar ab und zu ein Buch bei Dir kaufen, das ich dann meistens nicht lese.
     3. In Delmenhorst treffe ich ständig jene Menschen, die mich am meisten nerven, was mit meinem Beruf zusammenhängt. Folglich gehe ich ihnen aus dem Weg, indem ich Delmenhorst meide, wann immer es geht — also wochentags von 13 Uhr ab — an den Wochenenden sowieso.
     Wenn Du wirklich Fragen zu Delmenhorst hast, die Dich am Einschlafen hindern, dann ruf doch einfach Nils Aschenbeck an. Der schreibt doch ein Buch nach dem anderen und weiß bestimmt Bescheid. Du kannst Dich gern auf mich berufen — schließlich habe ich ihn in der 9. und 10. Klasse im Fach Deutsch gelangweilt (er war damals eher so etwas wie eine Sparlampe, was Du ihm aber nicht unbedingt verklickern mußt).
     Und es gibt noch einen Kollegen, der sich für Delmenhorst stark macht : Günter Bernert. Seine AOL-Adresse lautet: bernertg@aol.com. Er gestaltet WEB-Seiten für unser Bildungsinstitut in Delmenhorst, arbeitet mit dem Laden zusammen, dem der Picasso abhanden gekommen ist, und ist überhaupt ein mitteilungsfreudiger Typ. Wenn Du Delmenhorst allerdings durch den Kakao ziehen möchtest — schade um dieses Getränk —, mußt Du ihm das ja nicht unbedingt verdeutlichen. Er verliert sonst vielleicht seine Schreiblust.
          In Zeiten, wo Arbeitsplätze mehr wert sind als Gold, das man an verschwiegenen Orten aufbewahrt, kann auch Delmenhorst im Denken und Fühlen eines Menschen einen Rang einnehmen, den sonst bei Männern nur Frauen und Hunde und Autos für sich beanspruchen dürfen. Die entsprechende emotionale Bindung wird jeweils nur durch das Befriedigungspotential bestimmt, das den Genannten innewohnt. So verhält es sich bei mir auch, was Delmenhorst betrifft. Ich fahre jeden Wochentag einmal hin und lasse mich auf dieser Reise von Bekloppten überholen, die nach Oldenburg wollen, und kehre jedesmal im sicheren Bewußtsein zurück, jene Bedingungen erfüllt zu haben, welche die Bezirksregierung als Voraussetzung vor die Auszahlung meines Gehalts an mich als conditio sine qua non definert hat. Was soll ich da lange herummeckern ?
     Noch eine Bemerkung zu Delmenhorst : ich stelle, seitdem ich maile, fest, daß meine ehemaligen Schüler einen auffällig starken Fluchttrieb entwickeln, was das Verlangen betrifft, die Entfernung zwischen sich selbst und Delmenhorst möglichst groß werden zu lassen. Der eine schreibt mir aus Amerika, wo er studiert, also sich Wissen anzueignen versucht, das es in Delmenhorst selbst für gutes Geld nicht zu kaufen gibt. Ein anderer schreibt aus Cork in Irland, wo er durch reichlichen Guiness-Genuß täglich erneut zu verdrängen versucht, daß er eigentlich nach Delmenhorst zurückkehren müßte, damit das Wort der Schrift erfüllt würde: »...ein jeder in seine Stadt« (Luk 2,3). Schlag nach, das Zitat stimmt !
     Im Religionsunterricht sehen die Achtklässler aus dem Fenster und flüstern sich zu, daß dort hinten eine neuer Puff gebaut werde, wo gerade ein Arbeiter auf einem Gerüst versucht, nicht herunterzufallen. Und in jedwedem Unterricht lachen sie, wenn Wörter wie kommen, Regel oder Höhepunkt in harmlosen Sätzen vorkommen : »Ich kann morgen nicht kommen« — »Hier gilt folgende Regel« — »Das Drama strebt auf seinen Höhepunkt zu« Natürlich darf man, wenn man von Werders letzter Niederlage spricht, auch nicht sagen, daß der Ball gegen die Latte krachte.
     Wer in Delmenhorst wohnt, kann dort nur überleben, wenn er sich auf seine animalischen Instinkte zurückzieht, und die bestehen nur einmal aus Essen, Schlafen und Fortpflanzen, und bis auf das Letztgenannte tun die Schüler alles im Unterricht, das Letztgenannte wird verbal abgehandelt.
     Und tschüs

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1Arthur Fitger, Dichter und Historienmaler, wurde am 4.10.1840 in Delmenhorst geboren, Geburtshaus Alte Posthalterei an der Nordostecke des Marktes (Neubau; Gedenktafel im Stadtarchiv)
2 Friedrich Lange † 10.9.1968 in Delmenhorst, Dramatiker. Liegt Friedhof Bungerhof. Der Bote begehrte Auskunft über die beiden Herren.