Jens ›Babylon‹ Fröhlke

SALMOXIS-STÄDTEFÜHRER
HARPSTEDT
DER GERANIENORT

     Hat man sich ohne größere Verletzungen vorbei an den Dixi-Klos der Kaserne Adelheide gekämpft, erreicht man das Harpstedter Holz. Hier in den tiefen Wäldern rund um Harpstedt ist die Natur noch ursprünglich. An den zahllosen verschlammten Wasserlöchern ist es nicht nur in den Abendstunden noch möglich, gehbehinderte Wildschweine, halbtotes Rotwild und verwirrt herumirrende und gut getarnte Waldsoldaten zu beobachten, die im Halbschatten der Blautanne das Gekröse des frisch erlegten und sauber aufgebrochenen Bremer Rentners in sich hineinschlingen, der hier im Herbst zu Horden pilzesuchend einfällt.
     Wem es gelingt, sich von diesem ergötzlichen Anblick loszureißen, wird belohnt, indem er nach wenigen endlosen Kilometern die ersten geranienbehängten Balkone, Fensterbänke, Türen, Telephonzellen, Straßenschilder, Papierkörbe und Abfallcontainer des Luftkurortes Harpstedt schauen darf.
     Harpstedt liegt mitten im Holz, im Harpstedter Holz, zwischen hunderten von Tannenschonungen.
     Harpstedt ist ein Flecken, das ist ein Dorf mit Marktrecht. Vor einigen hundert Jahren wäre es fast zu einer wichtigen Handelsmetropole erblüht, hätte man den Marktplatz nicht ein paar Nummern zu klein gebaut. So gibt es hier denn heute auch nur eine Ampel, die mit jeder Rotphase von der traurigen Vergangenheit erzählt.
     Aber eines hat dieser kleine verträumte Ort, das andere nicht haben : einen Stein. Es ist ein großer Stein, in den irgendein prähistorischer Mensch zwölf konzentrische Kreise gemeißelt hat. Man nennt ihn den Sonnenstein — nach der berühmten harpstedter Discothek, in der Renate Kern (»Alle Blumen brauchen Liebe, alle Fenster Sonnenschein«) ihre Karriere anläßlich eines Sängerwettstreits begann. Sängerwettstreite sind hier noch immer sehr beliebt, aber Renate Kern war seitdem nicht mehr in Harpstedt. Sie ist seitdem Nancy Wood in Nashville/USA gewesen und beinah an Krebs verstorben. Nur Karl Dall kommt öfter hierher; seine Eltern liegen hier unter einem Stein, in die kein prähistorischer Mensch irgendwelche Kreise gemeißelt hat, und er muß ab und an mal nachschauen.
     Es gibt unheimlich viel zu sehen in Harpstedt : zum Beispiel den Galgenberg — man konnte dort aufgehängt werden, wenn man Pech hatte. Den Galgen gibts aber heute nicht mehr. Es gab früher auch mal einen hölzernen
Wachturm, einen Wohnwagen, in dem ein Stehbordell untergebracht war und eine Synagoge — alles abgebrannt.
     Noch heute entzündet das traditionsbewußte Völkchen zum Empfang der Fremden feierlich seine Blechtonnen voll Gartenabfall, was eine heimelige Atmosphäre vermitteln soll.
     Der erste Besuch im Schnäppchenladen läßt den munteren Besucher dann auch gleich erkennen : hier hat man Lebensart, kann man doch nebenher seine Hose mangeln lassen. Als nächstes zum Buchladen, geht doch nun für wenige Groschen der Parka den Weg durch die Mangel.
     Gemütlich wirds anschließend bei einem Geranientee in einem der zahlreichen zwei Harpstedter Cafés. Wer noch nicht müde ist, stürzt sich in das bunte Treiben der berühmten Reha-Meile. Hier wird man überwältigt von der Vielfalt der Orthopädie-Fachgeschäfte. Für ein paar Mark bekommt man hier alles, was den Herzschrittmacher höher schlagen läßt — vom Designer-Stützkorsett bis zur handgeschnitzten Beinprothese; wer mag, läßt sich von einem Klistier verwöhnen, das von handzahmen Waldsoldaten an jeder Straßenecke pfeilgeboten wird — für viele von ihnen ist dies die einzige Möglichkeit, sich und ihre Familien zu ernähren.
     Die Harpstedter Urbevölkerung ist noch heute sehr fruchtbar. Wenn die Wildsau saftig durchs Holz bricht, ist es für den männlichen Harpstedter ein Paarungssignal. Er pflanzt sich dann über Tage heftig fort. Es ist dann eine helle Aufregung in diesem sonst so beschaulichen Ort, aber die hiesigen Ärzte kennen sich gut aus im Behandeln von Bißwunden, und auch beim Entbinden.
     Harpstedt bietet dem Durchreisenden eine Fülle von Eindrücken, so daß zu empfehlen bleibt, ein paar Tage einzuplanen. Einen Platz für die Rolle zeigt Wurzelsepp, das Harpstedter Original, gerne für ein kleines Trinkgeld. Nur Rentnern sei anempfohlen, in einer der gepflegten Schutzhütten zu schlafen.

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