M o n t e s q u i e u
Persianischer Brief 51
Usbek an seinen Freund Ibben zu
Smyrna, Paris,
den 15. des Monats Saphar 1715
In Europa sind die Gesetze entsetzlich
streng wider diejenigen, so sich selbst entleiben. Man tut ihnen so zu
reden den Tod noch einmal an. Sie werden auf eine schimpfliche Art durch
die Gassen geschleift, man macht sie unehrlich und zieht ihre Güter
ein. Diese Gesetze, Ibben, kommen mir ungerecht vor. Wenn mich Schmerz,
Elend, Verachtung niederdrückten, warum will man mich hindern, das
Ende meiner Pein zu suchen, und mir ein Mittel entziehen, das in meinen
Händen steht ? Warum verlangt man, daß ich meiner Gesellschaft
zum Besten arbeiten, dazu ich nicht mehr gehören will, und wider
Willen einen Vergleich halten soll, den man ohne meine Einwilligung geschlossen
hat ? Die Gesellschaft beruht auf gegenseitigem Vorteil, sobald mir aber
selbige beschwerlich fällt, wer kann denn verhindern, mich von ihr
loszusagen ? Das Leben ist mir als eine Wohltat gegeben, kann ich sie
nicht zurückgeben, wenn sie mir beschwerlich fällt ? denn wo
die Ursache aufhört, so hört auch die Wirkung auf. Will ein
Regent, daß ich ein Untertan von ihm sein soll, wenn ich davon keinen
Vorteil habe ? Können meine Mitbürger wohl eine so unbillige
Einteilung ihres Nutzens und meiner Verzeiflung verlangen ? Wollte wohl
Gott, der von allen Wohltätern weit unterschieden ist, mich zur Annahme
einer Gnade verdammen, die mir überlästig fällt ?
Solange ich unter dem Gesetz lebe, bin ich
an das Gesetz gebunden; wenn ich aber nicht mehr am Leben bin, können
mich die Gesetze noch zwingen ? Man wird aber hierbei einwenden : Ihr
verwirrt die Ordnung der Vorsehung. Gott hat Leib und Seele vereinigt
und zusammengefügt und Ihr scheidet sie. Also widersetzt Ihr Euch
seinen Absichten und handelt ihnen schnurstracks entgegen. Was heißt
denn das ? Verwirre ich denn die Ordnung der Vorsehung, wenn ich die Arten
der Materie verändere, und wenn ich ein Viereck aus einer Kugel mache,
die die ersten Gesetze der Bewegung, nämlich die Gesetze der Schöpfung
und Erhaltung, rund gemacht hatten ? Gewißlich nicht. Ich gebrauche
das Recht, das mir gegeben ist, und solchergestalt kann ich nach meiner
Phantasie die ganze Natur verwirren, ohne sagen zu können, ich widersetzte
mich der Vorsehung. Wenn meine Seele von dem Körper getrennt sein
wird, sollte wohl in der ganzen Welt weniger Ordnung und Zusammenhang
sein ? Glaubt ihr, daß diese neue Vereinigung weniger Vollkommenheit
nach sich ziehen und nicht mehr unter die allgemeinen Gesetze gehören
sollte ? Hätte wohl die Welt etwas dadurch verloren oder die Größe
und die Unermeßlichkeit der Werke Gottes dadurch Schaden gelitten
?
Glaubt ihr, daß, wenn mein Leib eine
Kornähre, ein Wurm oder ein Rasen würde, er deswegen in ein
unedler Werk der Natur verwandelt wäre ? Und daß meine von
allem Irdischen entblößte Seele ihr erhabenes Wesen verlieren
würde ? Ich glaube, lieber Ibben, daß dergleichen Meinung keinen
andern Grund als unsern Hochmut hat. Wir erkennen unsere Nichtigkeit nicht
und wollen in der Welt mitzählen, wir wollen darin schimmern und
etwas Sonderliches bedeuten. Wir bilden uns ein, daß die Vergänglichkeit
eines Wesens, wie das unsrige ist, die ganze Natur erschüttern und
verrücken wird, und wir können nicht begreifen, daß ein
Mensch, er sei hoch oder niedrig in der Welt, was sage ich ? alle Menschen,
groß und klein zusammen, hundert Millionen solcher Erdkügelchen
wie die unsrige kaum ein sehr subtiles Stäubchen sind, das Gott nur
durch die Unermeßlichkeit seiner Allwissenheit erkennen kann.
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