Der Hafen Alis

Ich esse mit jedem, der es möchte, nur muß er mich einladen. Auch mit denen, die mich nicht wollen. Eine Einladung ist überflüssig. Am Tisch bin ich geistreich. Ich bringe jedermann zum Lachen und lobe gern die Heerscharen. Wenn einer zu widersprechen wagt, bringe ich mich in Rage und frage ihn, ob er zu einem Streitgespräch bereit sei. Dann, wenn ich gegessen und gut getrunken habe, gehe ich. Ich brauche keinen Sklaven, der mich mit einer Laterne begleitet. Und ich renne und ich schwanke dabei durch die Dunkelheit, allein. Wenn ich zu Hause angekommen bin, lege ich mich flach auf den Boden und fange nicht eher an zu schlafen, bis der angenehme Einfluß des Weines aufhört, meinen Geist zu bearbeiten.

Epicarmo, Syrakus, 500 v.Chr

 

 

 

 

 

 

   Ich bin nun allerdings niemandem mehr so ungut, daß es mir darum zu tun wär, ihm irgendwelche Umstände meines Lebens herzufächern. Aber das ist kein Grund.
     Husum, na ja. Husum hätte was.
     Aber der Hafen hier ... Beule in mittlerem Fluß, sechzig Kilometer vor der verschmierten Mündung. In goldenen Zeiten war Krieg und stand am Wasser die halbe Stadt in Brot. Heute sind die Anrainer nur noch regelmäßig höflich. Beweis : reisen Schaulustige vorbei und nennen den Fluß ›Strom‹ — sie werden kaum korrigiert.
     Auch leb ich in einem Teil der Stadt, der vorzüglich aus der mächtigen Klinkersteinkirche besteht, die rattenschwanzig in einen konfessionellen Kindergarten ausläuft. Vorne dran hat sie Parkplätze, aber kaum wer traut sich drauf. Eine Stelltafel kündet zwar ›Einmaliges Parken verpflichtet nicht zum Gottesdienstbesuch‹, doch die Masse Volks bleibt skeptisch.
     Trotz des kleinen PR-Problems mobilisiert das Pastorat im Turnus der Jahreszeiten erfolgreich zu heidnischen Spektakeln. Da laufen dann Laternen mit Kindern voller Zahnlücken unten dran und Spielmannszüge aus Mädchenschenkeln und Pauken und marschieren auf zur Leistungsschau des Einzelhandels. Allein destinationsmäßig will und will es mau bleiben. Knapp man, daß Menschenscherpen sich schüttern um den Passat des Vikars kräuseln, wenn wieder mal Tauferei drinnen aus ist oder eine Konfettiböe verweht.
     Schade, vielleicht doch einen Tick zu albern : der Gott, der das Sprenkeln von Säuglingen zum Heil verschreibt. Oder dieser Mann muß uns weit voraus sein. Ob aber auch so weit wie Dr. Treitner, der in seinem Aufsatz »Die Taufe im Mutterleibe mittels der Hohlnadel« eine spannende Theorie der syphunculi erfunden hat, wage ich nicht zu beurteilen. Um drei Ecken gedacht wird alles - wie immer - sehr angemessen. Auch das Konzept Gottes — sehr o.k.
     Gern balancieren Kinder, solang sie noch von Eltern handgehalten werden wollen, auf der knie- bis bauchhohen Mauer, die den Kirchgrund umfaßt und trennt von unbändigem Verkehr. Könnten die Kleinen dann allein mit ihren Drehmomenten lavieren, ist es ihnen auch schon egal. Ist wie mit dem Beten. In dieser Kirche wurden die meisten derer getraut, die jetzt in frohlethargischer Erwartung baldigen Witwen- oder Witwerstandes durch Straßen dackeln, die nach schlesischen Weihern heißen. Auf dem Kirchenfirst trophät mahnend ein stolzes Messinghuhn, und am Kirchturm klebt katzgolden eine Uhr, die von Ziffern absieht. Rose, reiner Widerspruch ... reiner Kreis, reines Symbol der Totalität, garniert mit zwölf energischen Strichen und zwei Zeigern, unprätentiöser nicht denkbar, einer dick und kurz, für Stunden, einer dünn und lang.
     Seit vielen Jahren ein Hauptstreit der Marktweiber, die dreimal wöchentlich im Schatten des Kirchschiffs ihr Palaver abhalten, mit Hackepeter dealen und Runkelrüben, welcher Zeiger den Parakleten geben soll und welcher den Erlöser. Hier werden die Worte noch selbst geschlachtet. Hier bedient Sie der sprachbildende Genius noch selbst. Daneben wirbt ein Fahrradclub Mitglieder, ein Imker reicht einem Vorsitzenden einen Topf Seim, Jungens verhökern Wollsocken in den Farben des Vereins, echt mit Filzer unterschrieben vom besten Reservisten der besten Abwehr der Liga, und hinten, an der Ampel, steht verschämt der running gag des Stadtteils, der notorische Propagandist, den ›Vorwärts‹ in der Hand. Urgestein, das auch nicht weicht, als handschlagweit die Konkurenz vom ›Wachtturm‹ sich aufbaut. Parallel auf dem Markt die weiterführende Diskussion : gibt es ein Abseits für Eigentore ?
     Kinder kreiseln, Wesen, denen noch nicht einerlei ist, welche Hälfte eines Mohnbrötchens sie essen. Und Kinder altern hier nicht. Beweis : sind sie Zweihundertpfünder geworden, gilt es erst recht als nette Art Profil, etwa DAS WEICHE aus Brötchen zu pulen und entweder nicht oder auch separat zu vertilgen.
     Hätten sie einen freien Willen : hier tummelten sie sich freiwillig : in marineblaue Maßanzüge gewickelt die gangränösen Vorwerkvertreter. Hier lauern aber auch echte Untiefen. Da wohnt irgendwo ein Gymnasiast, erste eigene Wohnung, und verbringt ganze Tage mit der absichtlichen Vernachlässigung einer gegenstandslosen Rasur. Seine knappe freie Zeit träumt er von russischen Romanen und berauscht sich an dem einen Bolero, den er kennt. Und er zieht Luft in die Nase und riecht nach Petrograd 1905 und Zukunft. Handvoll Häuser weiter einer, der hat schon ausstudiert. Der hört das Dixit Dominus von Händel, und sobald der Chor ›King George‹ juchzt, lacht er keckernd und antizaristisch, und ihn rührt kein noch so inniglangsam anschwellendes Begehr ›Long live the King ! May the king live for ever !‹. Unter diesem kalten Zweifler nistet eine Kneipe, die zum Dauerniedrigpreis Korn ausschenkt. Nachmittags macht dort ein Frühschoppen in Stammformation gern schon mal Gedanken, denn durch die Decke hört er, wie Herr Doktor jedes ›Sela‹ bekräftigend mitstemmt. Vereinzelt schon klirren Schnäpse auf ›Sela‹.
     Auf den Straßen haben Fahrzeuge in den Farben des Alarms Oberwasser. Vielscharnierige Apparaturen gebuckelt, sind sie mit hoheitlichen Emblemen versehen und blasen Staub aus bodennahen Rohren in die Luft. Die Stadtverwalter tun sich freudig hervor mit einer Bautätigkeit, die jeder Baisse der Welt ins Gesicht spuckt, und voller Leidenschaft sperren Dezernenten Nadelöre, wenns denn nur Hauptverkehrsadern sind. Ich denke, der Senat will damit einen Fingerzeig geben über Xenon hinaus. Er hat, mit Pascal, auf den alleinigen Ursprung des Unglücks erkannt, daß Menschen es nicht verstehen, ruhig in einem Zimmer zu verweilen. Wo aber, der Vertiefung dieser köstlichen Einsicht halber, finden sich hier die psychotischen Schriften wenn nicht Pascals, wenigstens des Senats ? Statt einer anständigen Buchhandlung : eine Unmenge Tabaklädchen mit Tagespresse. Mein Kioskpächter ums Eck ist Afrikalegionär. Er fand heim, als er in der Djibouti-Times den Aufruf seines Clubs las, alle alle möchten doch im Endspurt der Saison mithelfen, die Elf in die UEFA-Cup-Ränge zu feuern.
     Über dem Markt aber hängt eine Gewürzwolke zu Schafskäse in Öl, Oliven liegen ein, Pepperonis kringeln sich. Ich rieche Schnupper-Preise. Rasenmäher von Honda, kaufe fast alles wenn alt. Nena turt. Nach sieben joulearmen Jahren wieder. Endlich. Die Serie zur Verherrlichung Pämmis wird wiederholt, schon wieder, gleich nach den Verkehrshinweisen, befördert von Knorr und Plus. Hier ist Vormittagsprogramm für immer, hier lächelt Nirostareklame und flattern Tauben auf Balkone, und ein bißchen Bahnhofsgrandezza ist auch, denn in neblichten Momenten tanzen Krähenvögel torkelnde Schritte und verraten nicht warum. Warum auch ? Gegen April : symbolistische Sonnenfleckenspiele mit allerlei Geschatt auf dem Torfkanal und manche Straße in manchem Moment : ein Bild in einer freundlichen Fibel, die einem Kind beibringen will, eine freundliche Welt zu lesen.
     Der königliche Bibliothekar Guillaume Budé empfahl zur Zeit Pizarros, Missionare nach Utopia zu senden, weil, prächtig käms der Christenheit, ein so weises Volk auf Gottes Seite zu wissen. Nach 500 Jahren sind sie also da.
     Das Heldentum war derweil verblutet und Kreuzzüge galten allein den Wundertüten beim Edeka. Es ging um nichts. Ich mußte, wollt ich nicht als Phonem einer Lachschleife verenden, es kraft Willkür wenigstens um etwas gehen lassen, wollte ich sein, wo mit unterstellt guten Gründen niemand war. Mir war nicht nach einer Gedenktafel ›Dem Reformator des Kanalwesens‹, ich wollte nicht ›besser‹ sein oder eine exzentrische Parkbank stiften. Nie hatte ich daran gedacht, nachts Frauen zu schlachten, fakultativ mir Geltung zu verschaffen als Genie des Bösen, das Silberfische quält, dazu es ohne Not den Sanitärbereich sauberhält. Ich wollte einfach sein, näher : was sein, und dann gucken, ob ich so war wie die um mich her, die ich nicht verstand oder nicht ganz zu verstehen meinte in ihrer Genügsamkeit.
     So begrub ich mich, angeregt durch ein Kalenderblatt, mit Geschichten punischer Kriege, lernte Französisch und gab auf Geselligkeiten den an sich unbedeutenden Text ›Les causes et l‘origine de la seconde guerre punique‹ des an sich unbedeutenden Historikers Thiaucourt original zum besten — und war Spezialist, zugegeben auf abseitigem Gebiet. Doch man mochte Hannibal, Hasdrubal, Mago und vor allem : Elefanten - der Fluch des Populären reicht bis in die Domäne - und zollte mir brav den Keks Bewunderung für meine Verstaubtheit, nicht ahnend, daß ich die trockenen Studien weniger dank eiserner Energie überstand als vielmehr der Gabe schwerer Weine. Nun ist mir der Bluff als Möglichkeit der Kommunikation nicht gegeben, und so war für mein Publikum und mich die Zerstörung Karthagos schnell ausgereizt und eilig vergessen das kleine Städtchen Lilybaeum, das mir flüchtig als sicilisches Hauptbollwerk der Karthager im ersten punischen Krieg untergekommen war. Zu der Zeit warb die Punika-Oase wie verzweifelt im Fernsehen, und ich verfolgte, damals mir selbst zum Rätsel, den Schnörkelplan einer Neuherausgabe der ›Punica‹ des Silius Italicus. Schließlich hatte ich an der Ausgabe Rom 1471 erhebliche Mängel zu monieren : 17 Bücher Hexameter und kein Pups Rekonstruktion des als verloren geltenden achtzehnten Gesanges. Ich kam erst dahinter, auf welch abscondite Leimrute ich getappt war, als Sendefrequenzen anderweitig vergeben wurden und neue Werbepartner auftraten. Ein Fest noch, dann sollte Schluß sein, dann würd ich mich verweigern, würde man mich nie wieder die ausgelassenen taktischen Schläge Hanibals, derer soviele gar nicht waren, bejammern hören. Und auf eben dieser Abschiedsvorstellung machte ich die Bekanntschaft der Tochter eines Taubenzüchters, geriet gesprächsweise an Greifvögel und fiel her über :
     Friedrich II. Ich lernte alte Hände lesen und gab von Raumers Nachlaß heraus, belanglose Papiere, aber avancierte zu dem in Europa, der sich darin auskannte. Ich durchwanderte im Geiste Apulien, das sicilische Land, rechnete abwegige Kastellkonstruktionen der Hohenstaufen nach — wie beiläufig schaute ich nach dem Flecken Lilybaeum. Der winzige Hafen hieß nun Marsala. Als Schulbub las ich Ernest Jones’ Arbeit über die Sprachwurzel MR und seit jenen Tagen der Sek II reagiert ein konditionierter Reflex in mir auf alles, was die Mitlaute M und R enthält. Marsala also. Ich machte mich fix kundig : Vandalen; für trefflichen Hafen berühmt, weithin sogar; jetzt nur leichte Fahrzeuge, leider, eigens von einem Kaiser Karl aus Sorge vor türkischen Flotten und Seeräubern verschüttet. Ziemlich musterhaft gebaut, ummauert, vom Cassaro, einer so langen wie prächtigen Straße, durchschnitten. Das haben Sarazenen getan, die ab 800 dort saßen, Lilybaeum dem Kalifat Bagdad zuschlugen und es Mersa-‘Ali nannten, Alis Hafen, und Normannen auch, von welchen jene dreihundert Jahre später vertrieben wurden; charmante Leute begannen, mir Marsala Weine bei der nichtsnutzigsten Gelegenheit zuzurüsten. Man kleidet sich gern mit der Bekanntschaft eines Kenners und Kaiserfreundes.
     Auf einen Freund färbte ich ab. Er begehrte sich zu konturieren durch das Sammeln von Winkler-Lederbänden. Ich verschaffte Harry einen seltenen Fehltitel, seine bis dahin souverän ungelesene Sammlung zu komplettieren, die ›Verlobten‹ von Manzoni — mit dem Nachwort von Secchi. Es war schon arg lächerlich, daß Harry ausgerechnet eine Selbstverständlichkeit, die ich erwies, mißverstand, mir zu Gefallen tausend Seiten las und, dies zu belegen, mich dann in eine Diskussion der aktuellen Krise des italienischen Nationalstaates samt des politischen Programms Garibaldis verwickelte. Immerhin ist in neuester Zeit Marsala wohl historisch denkwürdig geworden durch die daselbst 11. Mai 1860 erfolgte Landung Garibaldis und seiner Freiwilligen.
     Endlich mocht ich nicht mal mehr in den Idyllen aus Messina oder im Salammbô blättern — und ich könnte weitere Querverweise aus dem Register des Schicksals anführen. Ich suchte einen Therapeuten auf und bohrte »bin ich einer tückischen Wahnidee aufgesessen ? Was ich auch anfange, immer endet es bei Marsala«. Der Kerl hatte schon von mir gehört und lud zur zweiten Konsultation in meinen Weinkeller. Ich wurde zu einem Paral für Fakten, von überall flogs mir zu, und selbst die paar Treffen fortgeschleppte Bekanntschaft mit dem Seelenflaschner scheint mir nachgerade nur dazu gut gewesen zu sein, daß ich ihm den Hinweis verdanke, wie Kaiserin Zita, vor die Wahl ihres Verbannungsortes gestellt, sich entschieden hatte. Nämlich falsch : nämlich gegen Marsala, für Madeira.
     Nun hab ich Meisterschaft. Der Zurüster sind weniger geworden seit ich meinen Ruf als führender Stadttrinker verteidige, in feineren Läden heiß ich Säufer-Hansi nur wenn ichs nicht hör, aber den Unterton Respekt hör ich immer. Ich kenne schließlich alle Marsala-Derivate, wittre Gefälle und Lage einzelner Berghänge und könnte ohne große Worte den Dauerchampion im Großen Preis geben. Auch das Saalwettkönigtum für die Geschichte britischer Weinimporte nach Westindien fiele mir leicht zu. Derart intim ist mir das Gesöff, daß ich vermutlich der eine bin, der sich erlauben darf frei und rechtens zu bekennen : Marsala ist gar so lecker gar nicht. Trotz glänzendster Perspektiven : ich sitz immer noch einen Steinwurf von Syke entfernt. Bremen - es kommt nichts hinterher. Und das macht nichts.
     Vielleicht doch, daß eines Tages Satan mich reitet, ich mich einem Quiz rekommandiere und die Reise nach Marsala gewinne. Vorm Rathaus dort soll eine jüngst gefundene antike Marmorgruppe aufgestellt sein, zwei Löwen, die einen Stier zerreißen. Die Woche drauf ständ ich vorm Ratskeller, schlüssig, und rapportierte haarklein im Vorübergehen alles Esel, Hund, Katze und Huhn. Nach wie vor aber will mir scheinen : jedes Gesicht, das seinen Tipschein beim Afrikalegionär abgibt und ein RateFix-Magazin abgreift, während ich mich quäle zwischen Journalen, ist ein besserer Schmied irgendeines Glückes als ich. Bremen - es kommt nichts hinterher. Und das macht nichts

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