Virchows Eier — Gutzkow zu Füßen Hegels


   Völlig entgegengesetzt zur Vortragsweise aller dieser berühmten Männer, die wir bisher geschildert haben, war diejenige H e g e l s, der noch in voller Kraft stand und nicht ahnte, daß eine noch damals in Asien weilende Seuche, die Cholera, und einige nach einem Souper verzehrte Melonenschnitte seinem Leben so bald ein Ende machen sollten. Die einzige Weise Schleiermachers kam dem Charakter nach dem Vortrag Hegels gleich, falls man nicht sofort eine Ungehörigkeit darin finden will, die große Virtuosität im Vortrage Schleiermachers mit dem lahmen, schleppenden, von ewigen Wiederholungen und zur Sache nicht gehörenden Flickwörtern unterbrochenen Vortrage Hegels verglichen zu sehen. Die Gleichartigkeit liegt darin, daß bei beiden die Redeweise den Charakter der Improvisation trug, beide gleichsam ein Herausspinnen des Vortrags aus einer erst im Moment vor den Augen der Hörer tätigen Denkoperation gaben. Die andern gaben fertige Ergebnisse vorangegangener Meditation. Schleiermacher sowohl wie Hegel erneuerten, um dies oder jenes Resultat zu gewinnen, den Denkprozeß, Hegel vollends wie eine Spinne, die in der Ecke ihres Netzes verborgen liegt und ihre Fäden, nach außen immer weiter hinaus, nach innen immer enger zusammenzuziehen sucht. Die Weise, wie in einem meiner Jugendversuche, »Nero«, der dritte unter den daselbst auftretenden Sophisten seinen Schülern Sein und Denken parallelisiert, ist wörtlich die Kopie der Hegelschen Vortragsweise mit ihren mehrmaligen Wiederholungen des eben Gesprochenen und einem stereotypen »also« nach jedem dritten Wort. Der Gedankengang schiebt sich da langsam vorwärts, geht immer wieder einen halben Schritt zurück nach einem ganzen Schritte vor. Dabei lag der Kopf der proportionierten, männlich gereiften Erscheinung dicht auf dem Pult des Katheders und ließ die Augen, die sich gleichsam von innen mit Flören bedeckten, unsicher und ausdruckslos im Kreise seiner etwa achtzig bis hundert zählenden Zuhörer umherirren. Es waren die scheinbar ausdruckslosen Denkeraugen, die nach innen leuchten.
  Im wesentlichen war Hegels Äußere immer noch nach der Weise eines schwäbischen Magisters. Ottilie Wildermuth würde ihn für ihre schwäbischen »Pfarrhäuser« haben brauchen können. Oft erzählte mir in spätern Jahren eine Schwester Wilhelm Hauffs, des schwäbischen Dichters, daß sie im Kloster xxxSchönthal vor »des Hegel« Zynismus, seinem Verschmähen aller Sauberkeit, Ordnung und Seife ein »Horreur« gehabt hätte. Gleiches berichtete man aus Frankfurt über den Kaufmann=Gogelschen Hauslehrer am Eck des Roßmarkts und der Weißadlergasse, wo Hegel in die elegante Sphäre des Romans seines Landsmannes Hölderlin eintrat. Und daheim, in seiner am Kupfergraben belegenen Wohnung, den damals noch nicht existierenden Museen gegenüber, trug er eine runde, breitrandige Sammetmütze, wie ein »Mayster der freien Künste« aus den Tagen des Mittelalters. Er behielt im Sprechen immer eine gleich mürrische, abgespannte Miene. Ich höre ihn noch, wie er mich beim Testierenlassen einer bei ihm gehörten Vorlesung mit den Worten schwäbischen Akzents anredete :
  »Ich glaube, Ihren Namen schon da und dort gelesen zu haben — Sie schriftstellern schon — ?«
  Allerdings hatte ich schon damals diesen Becher voll Nektar und Gift an die Lippen gesetzt ... Noch Student, wollte ich schon eine Zeitschrift herausgeben, vierteljährlich ein Heft ...
  In bezug auf diese Tätigkeit, die sich eines Anklangs von etwas über siebzig Abonnenten im deutschen Vaterlande zu erfreuen hatte und meine Finanzen ruinierte, äußerte Hegel in seiner mürrischen Weise :
  »Wie kann man sich an diesen Wolfgang Menzel anschließen — !«
  »Meine Überzeugung das — !« erwiderte ich ebenso brummisch.
   Es hätte mich allerdings mehr gefördert, wäre ich trotz meiner neunzehn Jahre als Enthusiast für den Real=Idealismus aufgetreten.
  Doch der Wahrheit gemäß bekenne ich, daß sich mir in Hegels Vorträgen jenes Damaskuswunder (ich möchte es ein umgekehrtes nennen, die Bekehrung vom theologischen Paulus zum philosophierenden Saulus), das mir im winterlichen Tiergarten begegnet war, stündlich wiederholte. Jede der Hegelschen Beweisführungen hatte eine praktische Perspektive. Am Ende einer langen, allerdings höchst monotonen und langweiligen Allee von Begriffsspaltungen sah man immer einen Erfahrungssatz, der bestätigt, oder einen Traditionssatz, der umgestoßen werden sollte. Der logische Prozeß, das Sein und Werden, das Ansich und Fürsich, war allerdings ein Becherspiel unter der Hand eines Jongleurs, der sein Spielzeug so lange betreibt, bis er uns das Auge verwirrt und durch Aufdeckung eines der blanken Gefäße erst wieder zur Besinnung bringt. Hob Hegel den Becher auf, so lag gewöhnlich ein Unerwartetes da, ein Wort von Goethe oder Spinoza, eine mystische Stelle Taulers oder Jakob Böhmes, eine Etymologie von Grimm, ein politisches Wort Montesquieus, ein Vorkommnis der Geschichte. Man mußte staunen und bewundern. Die schärfste Polemik nach links und rechts, die absolute Verachtung der »abstrakten«, »endlichen«, »flachrationalistischen« »Wahrnehmungen« begleitete durchweg den Vortrag und erkräftigte den Geist.


Allerdings erfüllte er ihn auch mit Hochmut. Man sah nur Denk=Parias um sich, während man sich selbst, mit seiner Mappe unterm Arm, ein Brahmine erschien beim Heraustreten aus dem Hörsaal — war es nicht Nr. 6 ? Die Hegelsche Philosophie der Geschichte, deren Gefahren ich erst später erkennen lernte, war in der Tat jenes Webermeisterstück, wovon Mephisto im Faust spricht. Die Fäden gingen auf und nieder, jeder Tritt war sicher und berechnet, die Welt wurde dem Schöpfer nachkonstruiert, das Geheimnis der Parzen, ihr System, wonach sie die Verhängnisse bestimmten, schien enträtselt. Die Art, wie aus jedem Volk gleichsam die Wurzel seines Seins gezogen wurde, von jedem Zeitabschnitt die Blüte gepflückt seiner gesamten Tendenzen und Strebungen, erfüllte den jugendlichen Hörer mit andächtigen Schauern.
   Und dennoch konnte ich über die eine Klippe nicht hinweg, daß das Denken gleich sein sollte dem realen Sein ! Ich bewunderte einige leidenschaftliche Adepten der neuen Lehre, denen diese Fähigkeit vollkommen innezuwohnen schien. Sie konnten das Nichts ordentlich festhalten, das Sein und Werden wie mit Fingern greifen. Sie konnten sich die Welt, das Stein= und Mineralreich, die preußische Wachtparade mit den himmelhohen Haarbüscheln an den damaligen »Tschakos« der Garde, die lange Friedrichsstraße ebenso wie die Milchstraße am Himmel alles auch aus puren Ideen gebildet denken. Ich gehörte nicht zu ihnen. War ich doch sonst keiner von den Massiv= und Grobkörnigen, die nur das begriffen, was sie, wie Marheineke gesagt hatte, »in ihren Leib hineinfraßen« — ich bekämpfte im Gegenteil eifrigst mein Behagen an der Erscheinungswelt — aber diesen Augenblick begriff ich nicht, wo plötzlich der Logos das Wort war und das Wort die sichtbare Welt. Um mich dann zum abstrakten Denken, zu einer mehr süd= als norddeutschen Ekstase und Idealität reifer zu machen, besuchte ich ab und zu einige der wenigen damals auftauchenden Lokale für — »fremdes Bier«. Aus mächtigen Pokalgläsern sprach ich lediglich dem Erlanger und Nürnberger zu, das, amalgamiert mit den gepfeffertsten und gezwiebeltsten Beefsteaks (die damals ebenfalls noch eine Neuerung für Berlin), dem Menschen eine himmelstürmende Elastizität zu geben vermag und aus dem Vaterlande Hegels, dem poesievollen Süden, kam — aber alles umsonst ! ... Ich sah nur Betrachtende und Betrachtetes in der Welt. Meine Röcke und Stiefel kosteten ein »reelles« Geld — eine schwarze Pikesche mit kunstvollen Schnüren und zierlich übersponnenen Knöpfen machte mich auf ein halbes Jahr zum Schuldner meines Schneiders — wie ich aber eine so kostspielige, materielle Welt rein aus meinen Gedanken heraus ableiten und Gläubiger mit Ideen zufriedenstellen sollte, ich habe es nicht begriffen, so lebhaften Teil ich auch aneinem Disputatorium nahm, das Leopold von Henning, ein ehemaliger Offizier und auch noch damals Lehrer an der Kriegsschule, förmlich als eine Art Hegelschen Exerzierplatzes errichtet hatte. Der große, hagere Baron konnte für unsern Flügelmann gelten. Wir waren einige zwanzig und machten Rechts schwenkt ! Augen links ! In Zügen ! In Kolonnen ! alles mit ihm durch, legten Hinterhalt mit Trugschlüssen, schossen Beweisführungen, avancierten und retirierten, alles nach den Regeln der Dialektik. Mein Denken aber und — das alte, zerschnittene Pult vor mir mit den eingekerbten Namen und schwarzen Tintenflecken erhob sich nicht zur absoluten Identität, so sehr ich geneigt war, anzunehmen, daß allerdings alles anfangs Gott und Gottes war, daß sich Gott in seinem Bestreben, einmal aus dem Ansich herausspazieren zu gehen, einer, sozusagen, elektrischen Strömung im All bedient haben konnte, woraus die Materie entstand. Hatte man doch Beispiele, so stärkte ich meinen Glauben, daß aus einem Gewitter, also aus reinen Luftphänomenen, helle, schwere Steine gefallen waren. Mit Meteorsteinen und aus gewissen rätselhaften Vorgängen, namentlich der generatio aequivoqua, suchte ich mir die Möglichkeit des Nichts = Etwas zu erklären. Ich Unglücklicher, wenn ich schon damals hätte erfahren müssen, daß auch die generatio aequivoqua nur auf Täuschung beruht, und daß alles, was entsteht, die Virchowschen Eier voraussetzt !

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   Die erste Nummer von Gutzkows »Forum der Journalliteratur. Eine antikritische Quartalschrift« erschien Januar 1831; von Nr. 3 an erschien das »Forum« als Wochenschrift. Nach 13 Ausgaben, am 26. September, war Schluß.
  Wann kommt es schon mal vor, daß Professoren in den Dingen der Überzeugung des Herzens recht und Neunzehnjährigen überlegen urteilen ? Menzel — nicht der Schöpfer von »Künstlers Erdenwallen«, der dann seine Bestimmung darin fand, die bunten Röcke der fidelen Soldaten der Schlesischen Kriege für eine Ausgabe der Werke des Preußenkönigs Fritz zu illustrieren. Sondern der Kritiker und Literaturhistoriker, der siebzehnjährig bewaffnet gegen Napoleons Truppen zog. Menzel, dem 1837 gleich zwei Schriften zugedacht worden waren : Börnes letzte, »Menzel der Franzosenfresser« und Heines »Über den Denunzianten«. Einer der unerfreulicheren Göthefeinde. Gutzkow trafen schon 1836 von Parteigängern Menzels angeregte sechs Wochen U-Haft und vier Wochen Gefängnisstrafe.

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