Neues aus der
Almatastraße —
ein bißchen vom Teil 4,
der, wenn er denn einmal fertig geworden sein wird,
gerufen werden soll

›Fink‹

I

     Ging heute viel. Richtete den ganzen Tag meinen Blick auf die Scheibchen vom Steinblock, die man gemeinhin Gehwege nennt. Trat heut in Hundescheiße. Das eine mit Vorsatz, das andere nicht. Streifte mir fluchend die Sohle an einem wilden Büschel Grün ab. Da aber war ein weiterer Klump Hundkacke gewesen.
     Ist das das Leben ?
     Ja. Das ist das Leben.

II

     Langsam könnt ich mich mal entscheiden, welche Jahreszeit mir sein soll. Ein Gebalge Wind krabbelt Bäume empor und spielt Siegerparade, Totensonntage lächeln von Kalendern und Laub tollt sich auf geplustertem Haar. Ein Igel huscht. Er wählt die Richtung Bahndamm. Viel Glück, später Igel.
     ... estinguendo ... estinto ...
     Kommt also doch noch Gutes aus den Filialen des Safeway ! Eine Mutter, in dicken neunnadeldruckergrauen Zwirn getan, rief ihr fortkullerndes Kind : »Danone«. 1 a Prägung, das Gedankentreppchen war wohl Zwerg — Frucht — Fruchtzwerg. Hingegen spielt doch unlauter und sehr mit edlen Gefühlen die Stelltafelkampagne : Egal, ob Brief- oder Urnenwahl. Auf das richtige Kreuz kommt es an. Ist das nun die DAG oder die römische Kurie ?
     Ein Schwarm kalter schwarzer Vögel observiert die Menschenburgen. Er hält lauthals Ratschlag, entschließt sich aber zu nichts.
     Der moderne Lämmergeier trägt keine Federn mehr. Er hat Rotorblätter gebuckelt und tut entweder dreierlei : er sagt Sprechern in fernen Studios :zwischen da und da stehen viele Autos; oder er rettet Lämmerleben, die zwischen Autos geraten sind und fliegt sie ins Spital; oder er treibt bemäntelte Lämmer in einen weitebenigen Korral vor reichlich Konserven — Mangos aus Taiwan, Mus aus Holland, Nudeln aus Birkel. Selbsttätige Türen halten die Lämmer dazu an, Büchsen mitzunehmen und Währung an Zahlstellen zu lassen. Raus aber trauen sich viele nur, wenn der Zorn des Geiers Roland 6 verraucht ist oder über andren Häuptern knattert. Postboten tragen Post aus. Sie können jetzt nicht einkaufen. Mieser Job.

III

     Analysis situs : Phnom Penh erschießt einen krossen Sanitätsfeldwebel aus irgendwo in Deutschland, ein Gerstenkorn knuspert an meinem linken Augenlid und ein Baugerüst verpuppt die Almatastraße — aber wir alle, die wir hier vergattert sind, wir alle entsagen standhaft jeder Metamorphose. Sozusagen bleiben wir ›die Alten‹, Scherenschnitte des Ewigen, dessen geheimer Name Herbert Reinecker ist. Ich argwöhne, daß einer von uns, Herr Gerstner aus zwei unter mir, klandestin unser Fortgeschrittenster ist und die allen innewohnende schizoide Veranlagung längst zu höchster Blüte getrieben hat. Gerstner : ein berufsmäßiger Grantler mit Bypass im Herzen und Browning in der Schuhkommode. Ihm sind die Musen gewogen, ihm gelingt es bavariastudioreif, in gewöhnlichsten Umständen eine unentwirrbare Figur zu machen und parallel zum zähflüssigen Kommissar Köster auch noch Assistenzerlöser Andres zu geben. Wer immer von beiden auch heute mißmutig überlegt hatte, ob er mir die Haustür aufhält oder nicht : heute entschied er sich dagegen.
     Werktätig klöternde Kommandos schnellen wie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten hin und her und betreiben ein zusätzliches Geschäft. Nämlich machen sie mich nervös. Seit jeher schnappen Ausrufungszeichen nach mir wie Chamäleonzungen nach einer tranigen Fliege. Und wo ich schon den Akusmata nicht entkommen kann, dürste ich umso mehr nach einer Gardine, der Welt wenigstens was Anschauliches zu geben von meiner Auffassung von ihr. Hätt ich nur vor Jahr und Tag die Offerte, die mein Vater mir im Verlauf einer von ihm geführten Generalaussprache eröffnete, angenommen, hier, Sohn, ich komm grad aus dem Kartoffelkeller, nimm die guten ADO, nur echt mit der Goldkante, als Aussteuer quasi, wo du schon meinst ausziehen zu müssen, kühl dir nur dein Mütchen, wir können dich nicht mehr hindern, wir haben Fehler gemacht du hast Fehler gemacht, du hörst ja nicht, den Mund haben wir uns fusselig geredet, du mußt wissen was du tust, jeder muß seine eigenen Fehler machen, wir haben das Unsrige getan einen vollwertigen Menschen aus dir zu machen, unsere Erziehungsmaßnahmen sind hiermit abgeschlossen, kaum sind die Mäuse aus dem Haus tanzen die Katzen auf dem Tisch, nun bist du am Zug, aus Schaden wird man klug, Herz was willst du mehr, du hast nur eine Gesundheit, du hast nur ein Augenlicht, wenn du noch eine Mutter hast, dann danke Gott dafür und am Grauschleier störst du dich bestimmt nicht. Solche Angebote gibts nur einmal, die kommen nicht wieder. Heut weiß ich es ja besser. Aber Heute ist zu spät.Wie es ja ursprünglich immer zu spät ist. Immer oder nie. Doch Reue gehört im eigentlichen Sinne zur Schuld. Schuld ist aber auch der tiefste Grund verzeihender Liebe. Oder verhielt es sich so, daß Sünde mehr als akzidentell dem Dasein zugeordnet ist ?
     — wie empfänglich ich bin, wie katholischweiblich, wie sehr ich Formen über mich lasse — ich habe gestern heimwegs von einer pneumatischen Notdurft, die mich in finsteres Parzellengebiet geführt hatte, auf der einen Vitrine, die das schmale Salär der Stadtteil-CDU zu Zwecken des Agitprop noch unterhalten kann, ein fast büttenpapierenes Kleinoktav abgelegt gefunden, eingesteckt und mich delektiert. Quellen östlicher Weisheit, noch von jenseits der Ganga. Also schon von sehr weit weg. Schick getuschte Bilder von bunten Blumen drin, sehr gute Spiralheftung auch. Eine angenehm gedankenverwirrende Lese des Besten aus allerlei Reichen und Dynastien, von den Jahrtausenden gedörrt zu hohlen Stereotypen, zu unverschämt dünnhäutiger Plattheit, ganz in Einklang mit meiner Seinsweise als Mumie.
     Den Christdemokraten übrigens ist zuzurufen : so nicht. Wie sieht das denn aus ! Nichts gegen eine Vitrine : aber gepflegt muß sie sein. Oder wie mein Vater leider nie sagte : Nichts gegen Novalis, aber Adalbert von Chamisso muß es sein. Die Gute Nachricht gehört jedenfalls auf den neuesten Stand des Stadtklatsches und das Gehäuse könnte auch jeden Hornung einen frischen Strich Lack vertragen. Immerhin ist das Ding publikumswirksam in Nähe einer Straßenfunzel aufgestellt. Seit aber ich mich über die Rührigkeit der Union der Erlösten vor Ort informiere, splittert auch schon der spinnetzartige Sprung das Glas, prangt trüben Sinnes rechts unten ein dehydrierter Zeitungsausschnitt, der den Verlauf eines Kinderfestes zu Ehren eines Sommers vor ewigen Zeiten referiert, verblaßt lieblos ein Foto von der Kür eines Kandidaten, lächelt ein längst geschaßter Ehrenwert sein Orkalächeln und lodern Appelle gegen die Staatsverschuldung von 89, gegen wachsende Kriminalität — Beträge, die heuer als Zinsen anfallen und Delikte, die nunmehr verjährt oder ehrbar sind.
     Ausgerechnet ein Sanitätsfeldwebel, einer, der Gutes tut, da tanzt das Unrecht auf dem höchsten Sendemast des Landes seinen unwirklichsten Tanz.
     Auf jeden Fall muß ich nun mein Säcklein tragen und mitansehen : zwei Parias, an Armbanduhren befestigt und Bottiche Deckweiß in den Händen, klemmen sich Pinsel zwischen die Kiefer und krabbeln mir auf einem abartigen Konstrukt aus Alu und Latten vor der Nase. Längere Folgen von Schweigeminuten wechseln ab mit billigen Silben — ich reiße mich zusammen, ich will einmal versuchen, es anders zu sehen — : denen exclamationmarks hinterhertänzeln wie den Herbstdrachen die flatterbunten Papierrippchen ihrer Schwänze. Das ist auch nicht günstiger. Das ist nicht mal lustiger. Also :
     stapele ich einige Bananenkartons vors Fenster, kauere zu deren Füßen, lehne mich an und denke nach. Als ich wieder aufsehe von meiner Arbeit, die darin ausgeufert war, schwierige Entscheidungen zu vertagen, prosten sich die zwei polternden Tuer mit Stullen zu und erzählen sich Schwänke aus ihrer Jugend — vom letzten Stau, vom letzten Crash, von der letzten Buchung, vom nächsten Schnäppchen, das zu schlagen man sich durchaus nicht ungeneigt zeigt, man sei doch nicht blöd, hehe,
     — die hohe Kunst der doppelten Verneinung in den Händen der Archimandriten des Vorteils. Großmeister im Auslassen des Nichts — und was sie auslassen, ist das, was sie bekommen. Die Laren meines Lebens haben sich endlich materialisiert. Ein Segen.
     Welch eine Untersuchung !
     Welch eine Lage.
     Ein glänzendes WarmUp für die anstehende Periode der Schlaflosigkeit.
     Clemens hatte die Debatte vom Zaun gebrochen. Für morgen hab ich ihm ein Anrecht auf meine Stellungnahme eingeräumt : sollen alle Bücher mit Lesebändchen gemeinsam separat gestellt werden oder nicht ? Und wenn ja : als schützenswertes Kulturgut oder als Geschmacklosigkeit ? Und wenn das eine, dann in vorderster Front oder in zweiter Reihe ? Und wenn das andere, in vorderster Front dann oder Reihe Zwo ?
     Ein Essay über das erotische Flair Petra Schürmanns. Soll nun auch schon promoviert sein. Oder wars die andere, die Stabhochspringerin, Heide Rosenthal, später dann auch gern mit Doppelnamen. Oder gehts mir um Petra Koch ? Gabs überhaupt eine, die so hieß ? Und wie schnell lief sie ? Sehen sich nicht alle sehr ähnlich ? Hilde Knef.
     Großer Gott !
     Ist Jahwe Ruf oder Nachname ?

IV

     Ich versteh ja nichts von was

V

     Ein Zahn will sich verabschieden, kommt nicht recht in die Gänge und hält mich wach bis vier Uhr früh. Schade — mich hätte interessiert, ob der dumpfe Fensteraufprall der pappcremefarbenen Taube auch laut genug gewesen wär, mich aus dem Schlaf zu holen. So stand ich da, live, erschreckt, eines Testergebnisses beraubt, und sah verständnislos das verständnislose Tier wieder wegflattern, mutmaßlich unbelehrt, unerschüttert und blöd wie gekommen. Oder ist denkbar, daß es eine andere Bewandnis mit der immerhin unternehmungslustigen Botin des Friedens hat ? Gibt es Erhebungen über Suizidalien eierlegender Wirbeltiere ? Den Fettabdruck des Gefieders, den mir das fliegende Mutterschiff aller Keime hinterließ, staunte ich noch an, als schon längst die vormittäglichen Wiederholungen liefen.
     Weißhaarige rechtsgescheitelte Gutachter sprechen sich darin gegen Bürgerwehren aus — ich nicht. Sie heißen Professor Roxin — ich nicht. Aber grundsätzlich : das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. Ich hoffe, damit wieder genügend Stoff zum Diskutieren ins Haus geliefert zu haben.
     Ich kann beruhigen. Er hat.
     Iran hat sechs Raketen auf Bagdad gefeiert. Der Leidsänger der Münchener Freiheit — Attis und Kybele in einer Person, einer Stimme — epiphaniert auf einer überproportionierten Leinwand.
     Ich aber habe die Bekanntschaft einer neuen Dame gemacht. Sie ist klein und dünn und ein Kopf, wie ich noch keinen gesehen habe.

VI

     Wo ich sie zum ersten Mal gesehen habe ? Ich weiß nicht mehr. Kann sein an der Martin-Kiefert-Dependance am Bahnhof. Sie hatte sich Ketchup auf ihren Latz gekleckert, ich streunte vorbei, hatte wie merkwürdig alle Hände frei, mich kurzfristig nicht unter Kontrolle und kavalierte ungeachtet der Servietten, die überall auf den Thresen herumlagen, ein Tempo aus meiner Gesäßtasche. Zwar befand sich das Zelluloid im letzten Stadium der Auflösung und warf kleine Flockenscherben über mich. Zwar war es zudem bereits einmal von irgendjemandem zu irgendwas benutzt worden. Aber es machte sie lachen.
     Ein schöner, unübersteigbarer, unhinterfragbarer Sinn : jemanden lachen machen. Aber nur, wenn man weiß, was man da tut.

VII

     Wo ich sie das zweite Mal gesehen habe ? Ich glaube fast, wieder an der Würstchenbude, keinen Tag später. LKW´s verlieren Paletten, Klärschlamm oder strahlende Fässer auf der Autobahn. In nettem Kontrast dazu finde ich Weingummiartiges, drei aneinanderbappende Colafläschchen. Ich biete an, eines davon möge sie sich pflücken und ernte : ein Goldkroneblinken aus den hinteren Regionen eines breiten Mundes. Ist das o.k. ? Das ist soweit o.k.
     Ich hab sie dann noch zehn Schritte begleitet, am Kiosk Obst · Südfrüchte · Obst taten unsere Wege, was alle Wege tun : sie trennten sich.
     Ich lehne die Selbstverliebtheit des Schmerzes ab. Auch lehne ich Traubenzucker ab.
     Soll aber helfen gegen Neuroblastome.

VIII

     Wo ich sie das fünfte Mal gesehen habe ? Diesmal bin ich mir beinah sicher, an der Würstchenbude — versucht Clemens seinen müden Witz. Ich hätts Maul halten sollen. Sie — eine Laune der Natur, eine Kapriole aus Proteinen, eine, die Schwarz in den hellsten Farben auszustrahlen versteht.
     Clemens hält Leute, die andere Leute in Kopf oder Thorax haben, für unleidlich. Wem sagt er das ? Widerstrebend nur läßt er, dem man keine Zeit stehlen kann, mich in seine Kreation ›Bibliothek/Rauchkabinett‹. Ich sitze auf bröselndem Bast, im MasterChair, sehr entspannt, sehr jeden Moment mit dem Abfall vierer Beinchen rechnend. Auf eine Zigarette und in stiller Hoffnung, DAS RAD zu leihen. Clemens grunzt von nebenan, wo´s mal Küche und mal Katzenklo heißt und keine Tür vom Flur oder dem Zimmer ›Asche/Bast‹ trennt. Clemens sucht im Katzenstreu, findet, tritt mir unter die Augen und hat : ein zweites Paar Strümpfe übergestreift. Die Löcher allerdings sind derart, daß auch gedoppelte Socken sie nicht mehr aufheben. In der Hand Zwieback. Die Katze, um seinen Hals gelegt, schlägt danach. »Möchtest du auch ?« Hinter seinem Rücken rollt sich etwas wie eine Tapete ab.
     Sie wagt ganz erstaunliche Sätze zu sagen, jüngst etwa bemerkte sie Der Wind ist schneidend und hielt sich den Kragen der schwarzen Lederjacke, daß das Geschmeide ihrer lackierten Fingernägel ein Rubinamulett war.
     Ich habe eine taubenzerschmetternde Passion.
     Ich habe kein Fahrrad.

IX

     Ich strolle am Weserufer. Widerlich ist, daß, wer jetzt draußen ist, ausdrücklich draußen ist. Hunde hetzen frei ihren Drachenatem, lang sind sie, mager und windhaft — vertikal, stocksteif und beschaulich die Herrchen und Frauchen dazu. Alles Atmende sucht Cafés. Hier sind keine Schollen, hier ist : nichts.
     Eine lame duck humpelt die Böschung hinab — sie trollt sich leeren Magens, trotz daß ein Opa unter filzigem Sponsorenhut ihr aus einer Jutetasche günstig schnabelgerechtes Brot zuwirft. Begleitet wird sie vom ungehässigen Schnattern ihrer Entenkollegen. Illusionslos gleitet sie ins dreckige Weserwasser, bedacht, möglichst wenig Wellen zu schlagen. Ihren Hals gebeugt : so muß sie kaum sehen. Sie ist die eine, die sich in die Mitte des Flußes aufmacht. Die reifkandierten Ulmen grüßen sie von der Straße her, und endlich wird sie meiner Sehkraft ein dümpelnder Flecken, wirds ein friedlich ergebenes Schaukeln, wird Ferne, eisgrauer Genuß der Sicherheit des Abstands. Das Anatidengeschlecht hat wenig menschliches. Es hat besseres.
Die Verabredung war vage gewesen. Ich fühle mich dennoch versetzt.

X

Ich ein Kind und du ein Kind

Auf dieser Wiese liegt ein Dichter
Der traut sich nicht der traut sich nicht
Lieber läßt der Wolken unterm Himmel fahrn
Ein traumzerbellender Hund läßt Harn
Und Käferschatten jagen das Licht
Alles ist so leicht so schwer
Eine Tüte Pommes mit Majo ist leer
Gedanken lagern dicht an dicht

Der See wirft Falten und ich finde
Nichts so wichtig als dein Gesicht
Du plapperst mutig in der Sonne ihrn Rachen
Da ist bißchen Weh im Kopf und bißchen Lachen
Wir rätseln an die Wolken Bleigewicht
Hinterrücks segeln paar Boote
Ein Hund trabt heran und reicht eine Pfote
Ich bin versöhnt mit dem Weltgericht

Die Wolken tüdeln Wolkensachen
Und du baust mir die Burg aus Sand
Da hab ich dir von meiner Liebe gesagt
Und du hast Gras gerupft und nichts gefragt
Gut solls dir gehn. Tausendmal gut
Dein Seufzen im Lächeln ist mir genug
Auch wenns um andere Knaben geht
So schön ist Selbstbetrug

XI

     Ein Kanzleramt für eine Prise Gullimortal ! Noch einmal : ich verachte das Pathos, das im Ertragen des Schmerzes liegt. Wenn Schmerz denn nicht schon gleichgültig sein kann, dann ist Linderung die unableitbare Pflicht. Aber wegen Gelomyrtol eine Geisel in einer Apotheke nehmen ? Oder leiht mir wer zehn Mark ? Clemens vielleicht.
     Clemens hat mir was gehustet

     Sie malt sich ihre Augen an. Warum tut sie das ?
    Kajalstift, mir unbekannte Etymologie — und doch in jeder Drogerie in schönen, abgründigen Farben zu haben. Auch in famosen Jadetönen.
     Ich werde sie fragen. Sie weiß sehr viel.

     Wieso, sagt sie, und ich sehe eine Iris, wie noch nie ein Personalausweis sie beschrieb, Æthiops mineralis, altes Sanskritwort, kajjala, heißt ursprünglich, wenn ich recht erinnre, ›Wolke‹. Zuerst bezog sichs wohl auf Lampenruß, der zu Tinte oder Tusche verarbeitet wurde, eh dann die medizinischen und ornamentalen Möglichkeiten als Collyrium entdeckt wurden. Wobei dir freisteht zu überlegen, ob ›Zierde‹ unter dem höheren Gesichtspunkt der Evolution nicht auch sozialmedizinisch zu fassen wär. Aber eigentlich reicht für dich zu wissen : eine Schwefelverbindung mit Blei oder Antimon.

     Ich saß dann irgendwann den Abend solo, als Alleinunterhalter eines alten Eichenehepaars auf einer Parkbank und sann, von einem Kristallisationspunkt meiner flüchtigen Hirnwortketten besessen wie seit Jugendtagen nicht mehr. War das alles mißzuverstehen ? oder einiges

XII

     Ich seh sie für mein Leben gern an : nachtrußene, trunken taumelnde Gesellen in einem losen Verband, der ohne Austeilen von Nickligkeiten über die Runden kommt. Erhaben sind sie und geheimnisvoll und Ehrfurcht gebietend und wie komprimierte Schatten sind sie der Wolken auf Erden, wie Beeren des Nebels.
     Manchmal, zu den wenigen Zeiten, die ich ohne ausgesprochene Not bin, setz ich mich in gehöriger Entfernung auf einen dieser immerwährend unsinnigen Betonpoller an ihre Seite und red zu ihnen, wünsche mir einen Bart an und erzähle das Märchen, das ihre Schwärze begründet, in unterschiedlicher Länge, je nachdem, wieviel Aufmerksamkeit sie mir schenken. In Vorzeiten nämlich pflegte Koronis, eine Nichte Ixions, neben der Liaison mit Apoll, dessen Kind sie schon unterm Herzen trug, eine ergänzende Leidenschaft zum prima Fürsten von nebenan. Zu ihrem Tugendwächter hatte Apoll, der hin und wieder seinem Beruf in Delphi nachging, eine schneeweiße Krähe bestellt. Die geriet nun eines schnellen schönen Tages in die Verlegenheit, nach Delphi den vollzogenen Treubruch zu melden und wie sie Belobigung für die Petze erwartete, war aber Apoll so in Wallung, daß er die Krähe, da sie dem Nebenbuhler nicht umgehend die Augen ausgehackt hatte, verfluchte, seither sie und ihre Nachkommen schwarz tragen müssen.
     Ist ja nur ein Märchen, sag ich dann und will beruhigen. Aber mein Publikum ist ruhig. Unwiderruflich. Und billigt weder Apolls Verhalten noch das der Krähe. Süße Monaden aus Nacht ! aus Raum zwischen den Sternen ! Kluge Tiere ! Ich unterstelle gelegentlich, daß Tiere besseres zu tun haben, als dem Gebrabbel eines Menschen zu lauschen, und wenn nicht, dann aus einer Position überlegener Güte. So beobachte ich genau — ich will keine gespendete Höflichkeit, auch nicht von Raben. Aber wenn ich genügend Anteilnahme bemerke, erlaub ich mir an dieser Stelle den für Krähen eigentlich unwichtigen Nachsatz :
     Ganz und gar ungnädig aber war Apoll. So ausnehmend war Apoll erschüttert, daß er nicht mal das Handwerkliche der Rache übernehmen konnte — Schwesterherz Artemis mußte ihm Genugtuung verschaffen. Wie Apoll aber die dann von Pfeilen niedergestreckte Koronis sah, wars ihm auch wieder nicht recht. Und da ihm das Wiederbeleben mißriet und mit dem Hades an dem Tag kein Geschäft zu machen war, entschloß er sich vorm brennenden Scheiterhaufen, Freund Hermes zu bitten, die Leiche vom noch lebenden Fötus zu entbinden. Apoll nannte die Frühgeburt Asklepios und brachte sie zu Cheiron, dem Sohn ihres Großonkels Ixion, in Erziehung und Lehre.
     Dann zu des zweiten Hyperions Zeiten, Percy Bysshe Shelley, mit dem Segler ›Don Juan‹ gekentert. Er trug noch die doppelreihig gemusterte Jacke, die Nankinghose aus Malta und Stiefel mit weißen Seidensocken, in einer Tasche steckte noch die kleine Sophoklesausgabe, in der andern ein Auswahlband Keats, als er nahe Via Reggio ertrunken an Land gespült wurde.Und weil die italienischen Postgesetze die Überführung der Leiche ans Grab ihres Kindes nach Rom verboten, ordnete Byron am Strand der Serchiomündung Shelleys Feuerbestattung an. Weihrauch, Salz, Wein, Öl und das einzige Exemplar von Keats´ letztem Band, das in Italien zu beschaffen war, wurden den Flammen übergeben.
     vDie Asche dann durfte versandt werden.
     Wenn dann die Raben nach diesem Ende — es ergibt eben eines ein anderes — mir immer noch gewogen sind, kassier ich den Lohn : ein kurzabschätziges Starren, wie von andersweltener Kohle. Spätestens dann aber humpeln sie fort ins Fremde oder erhöhen sich auf ferne Firste und machen mich glücklich.

XIII

     Sie hat uns gesagt, zum ersten Mal uns gesagt.

XIV

     Die Hilflosigkeit, mit der ich im Dasein steh, diese dünne Schicht Hilflosigkeit, die die Angst bändigt und zudeckt, die Angst, daß die Zeit zu knapp ist, sinnvolle Dispositionen zu treffen, daß ich abberufen werde ...

 
 

***