Martin Jordan
I. Einführung In allen Wohngemeinschaften sieht es gleich aus : Ikea
und Sperrmüll und Erinnerungen, möglichst originell, pardon,
irgendwie ganz witzig drapiert. Die Zimmer stehen immer offen und man
kann Flokatis, Drecksocken und Poster irgendwelcher langvergangener Ausstellungen
sehen. Sind die Zimmer dennoch einmal verschlossen, hört man aus
ihnen Fickgeräusche. II. Die Andrea Die Andrea studiert irgendwas. Was, kann ich gar nicht genau sagen, aber ich glaube, irgendwas auf Lehramt, ja genau, Lehramt Primarstufe war´s, ja genau. Wenn jemand Lehramt Primarstufe studiert, kann man darauf wetten, daß niedlich-alternative Plattheiten in der Küche hängen, nein, nicht die Cree-Geschichte, sondern ein kleines Mädchen mit Dackel im Arm vor einer apokalyptischen Szene mit ganz vielen Fabriken, Atomkraftwerken und giftigbuntem Wasser. Oder was anderes. Andrea — das muß zu ihrer Verteidigung gesagt werden — hat nur sehr zögernd ihre Tampons in ein Bonbonglas gelegt, weil, katholisches Elternhaus und so weiter. III. Der Siggi Der Siggi, eben derselbe, der es mit deiner Freundin treibt, ist knapp 30 und verbringt das halbe Jahr in Thailand, wo er sich in der Sonne aalt und »total günstig, du« echtes Kunsthandwerk kauft. Das verscherbelt er dann auf Flohmärkten im norddeutschen Raum. So kommt er an das Geld, das er braucht, sich wieder ein halbes Jahr in der Sonne zu aalen. Er selbst nennt sich »Lebenskünstler«, die anderen in der WG einen »total witzigen Typen« und ich »die blöde Sau, die es mit meiner Freundin treibt«. Siggi hat die meisten Flokatis, die meisten Drecksocken und die meisten Poster. Er schläft in einer Hängematte, zwischen thailändischem Kunsthandwerk und Ikeamöbeln und raucht ständig Haschisch. IV. Spleens Jede WG hat ihren Spleen, der auch dann noch fortlebt,
wenn kein Gründungsinsasse mehr dort wohnt. Von einer autonomen WG
wird berichtet, es seien überall aus Gründen totaler Witzigkeit
Photos von Adolf Hitler aufgehängt worden, insonderheit an unvermuteten
Plätzen, etwa in Schubladen, im Klodeckel oder über den Betten.
In einer anderen WG nahmen witzige Botschaften der Belegschaft untereinander
derart überhand, daß man zu Sprühdosen und Tapetenrollen
griff. — Diskussionsabende (sog. Familiensurrogat) Zuweilen leiden Neueingezogene bis zu ihrer Assimilation oder ihrem Auszug unverhältnismäßig stark unter den verschrobenen Steckenpferden der Alteingesessenen, wenn es sich etwa um Ritterrüstungsbauer oder Punkmusiker handelt. Schroffe Gitarrenriffs und Schwertgeklirr gehören aber meist bald auch für die Novizen zu Frühstück und Hausarbeit wie der gute Ersatzkaffee und werden dann als heimelig und vertraut betrachtet. V. Feten Mit der Zahl der WG-Insassen steigt auch die Fetenfrequenz.
Für Examenskandidaten ist das natürlich sehr schön. Erinnern
wir uns nur an Siggi : er raucht ständig Haschisch. Das tut er nicht
gern allein. Er findet, daß er besonders originell und witzig ist,
wenn er gekifft hat (das findet deine Freundin übrigens auch). Kiffer
halten selten die wünschenswerte Ruhe. Bei vier WG-Insassen beträgt
übrigens die jährliche Anzahl der Geburtstagsfeten vier. Es
ist ständig Besuch aus Berlin und/oder Göttingen da 1),
was heftigen Anlaß zur Fete und Mitverfressen deines Verpflegungsgeldes
gibt; die Leute, man sah sie schließlich lange nicht (Fickgeräusche)
und alle haben Bierdurst. Nachteile : VI. Frauen Über Frauen haben wir schon einige Worte verloren, besonders, was ihren menstruativen Exhibitionismus angeht. Es gibt im Leben von WG-Frauen aber noch einen zusätzlichen Halt, nämlich das immerwährende Oszillieren zwischen Pille und Naturverbundenheit. Das geht so : die Frauen nehmen die Pille nicht mehr, weil Hormone und so, und mit dem Rauchen, das sei ja gefährlich so in der Kombination. Sie überreden auch deine Freundin, die Pille abzusetzen. Monatelang mußt du nun die seltenen lichten Momente des menschlichen Daseins durch einen Gummi hindurch zu ertasten suchen, bis deine Freundin es in weinseliger Nacht »ohne« mit dem Siggi macht und fast schwanger wird 2). Daraufhin nimmt sie wieder die Pille. Ebenso wie die anderen Frauen aus der WG, die schon lange vor deiner Freundin ihre Hormonabstinenz wieder beendet hatten. VII. Auto Niemand in der WG hat ein Auto. Weil man ökologisch auf Draht ist. Du aber hast ein Auto und bist deshalb längst als Unalternativer und Umweltmuffel enttarnt. Als Diskutant in Demo- und Flugblattfragen bist du also abgemeldet. Eines Tages aber bemerkst du, daß dein Auto für dich niemals verfügbar ist. Die anderen WG-Insassen leihen es sich nämlich immer aus (Beulen, Motorschäden, Verschleiß, leerer Tank, Strafzettel aus allen möglichen Städten). Vorzüglich Siggi fährt fast an jedem Wochenende mit deinem Auto nach Berlin. Vorher leiht er sich von dir noch das Benzingeld und nimmt deine Freundin mit. Natürlich nur, um einen Friedenskongreß mit ReferentInnen aus Thailand und den neuen Bundesländern zu besuchen. Auch kleinere Touren in der Stadt muß Siggi ja mit deinem Auto fahren, seit ihm dein Fahrrad gestohlen wurde, als er es nach einem Unfall unabgeschlossen am AuKultZent abstellte. VIII. Die Essensaxiome A : Bist du Vegetarier, ernähren sich die anderen
fast ausschließlich von Schweinskopfsülze und Steak. IX. Ein Wort zur Miete BEISPIEL Insassen : Siggi, Andrea, Atze und du. Der Siggi : 40 qm, DM 300.-, weil, er ist
Hauptmieter und ja meistens auch in Thailand und die Wohnung damals, die
hat er ja aufgetan und überhaupt hat keiner mehr den Überblick. X. Alternativen und Auswege Verfasser würde seinem Anspruch, zu helfen, zu heilen und an der Beseitigung die Geißel ›Wohngemeinschaft‹ zu wirken und zu weben, nicht gerecht, hätte er nicht in unermüdlicher Tätigkeit im Dienste menschenwürdigen Wohnens, ja, zum Wohle der Menschheit selbst Recherchen betrieben, demoskopiert, experimentiert und manche Nacht grübelnd über Manuskripten, Grundrissen, Einrichtungsmagazinen und dem Immobilienteil der »Bremer Nachrichten« gebrütet. Die Forschungsergebnisse sind daher auch recht umfänglich. Deshalb beschränkt sich Verfasser hier darauf, eine Passage aus dem zweiten von zwölf Bänden (plus Einführungsband) zu zitieren. Dieser Band behandelt die bangen Fragen junger Menschen, die das elterliche Nest zu fliehen im Begriffe waren und sich ratsuchend an Verfasser wandten, der bekanntlich während seiner mehrjährigen Forschungstätigkeit als Berater im psychologischen Dienst einer ungenannt bleiben wollenden norddeutschen Universität tätig war. Frage : Was ist denn besser
als ein WG-Zimmer ? — Ein 140 qm-Loft in Oberneuland Frage : Weißt du überhaupt,
was das kostet ?! — 650000 Frage : Sag mal, spinnst
du ? XI. Zwischenbilanz Ledig aller MitbewohnerInnen räkelt sich Verfasser frohgemut in den Polstern von bequemen Sesseln, die weder allen gehören noch vom Sperrmüll stammen. Hin und wieder schiebt er sich einige Stücke Lindor.gefüllt.Zartbitter in den Mund und freut sich. Alle Etagen des Kühlschrankes gehören ihm. Seine Bibliothek ist keinen Plünderungen ausgesetzt. Kein kiffender Siggi sitzt in der Küche und beeindruckt blondalternative, rastagelockte siebzehnjährige Mädels mit Erzählungen aus Thailand und Wackersdorf. Weder Plakate von Robert Doisneau noch total witzige Gegenstände trüben den angenehmen Gesamteindruck seiner Wohnung. Ja, wenn er wollte, könnte er sogar im Stehen pinkeln, jawohl ! Wen wundert es, daß ein kluger und kreativer Mensch in solch entspannter und friedvoller Lage seine Gedanken schweifen läßt und daß Erinnerungen und Episoden aus Jahrzehnten alternativen Lebens und Zusammenwohnens förmlich Schlange stehen, um aufgezeichnet zu werden ? *** _________________________________________ |