1908 GRENZFRAGEN DES NERVEN- UND SEELENLEBENS. Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens Von Theodor Lessing
Geräusche. 5. »Hunde heulen durch die Nacht, Ich komme nun zu einer Art Geräusch, die sich von allen bisher namhaft gemachten wesentlich unterscheidet, ich meine die qualvoll störenden Lärmgeräusche, die aus dem Zusammenleben mit Haustieren erwachsen und den Kaufpreis bilden, mit dem wir die mannigfachen Freuden und Nutzen, die uns Tiere bringen, zu zahlen pflegen. Das Bellen und Heulen der Hunde zur Nachtzeit hinter den Verzäunungen der Bauplätze. Der merkwürdige, markerschütternde Schrei, den wir zuweilen vom Pferde hören, diesem rührenden »Caliban der Welt«, der so vieles willig trägt, weil er seiner überlegenen Kraft nicht bewusst ist. Das Schreien eingekäfigter Tiere in den Zoologischen Gärten und Menagerien. Der nächtliche Schrei der Katze, vor allem aber der Ton gefangener Stubenvögel, — das alles ist m e h r als der gewöhnliche menschliche Werktagslärm und Feiertagslärm. Denn es zieht uns in das Leben fühlender Wesen ein, die in diesen Lauten ihre einzige Sprache haben. Und dieses ganze Leben ist unserer Verantwortung oder Willkür ausgeliefert. D i e s e r Lärm ist unerträglich, weil er immer irgendwelches Leiden offenbart, dem man nicht beikommen und helfen kann, unerträglich, weil er uns aufrüttelt und zugleich unsere tatlose Ohnmacht offenbart. Wenn ich auf Vogelstimmen vor meinem Fenster achte, dann weiss ich genau, ob ein Vogel aus Angst schreit oder locken will, brütet oder wirbt, seine Jungen warnt oder um Futter ruft. Eben darum ist es schwer, sich gegen diese Stimmen abzustumpfen. Hammer- und Arbeitslärm belästigt die Ohren; die Tiere aber würden die ganze Seele in Anspruch nehmen, wenn wir nur genug Seele besässen. Dann aber wüssten wir auch, dass es vor diesem Lärm keine andere Zuflucht gibt, denn stärkeres Verantwortungsbedürfnis gegenüber der Tierwelt. Insbesondere ist das Heulen und Jammern der Hunde meist eine Anklage. Sie schreien so wenig ohne Grund, wie ein gutgehaltener, gesunder Säugling grundlos zu schreien pflegt. Dies gilt vor allem von den wahrhaft vornehmen Hunderassen, insbesondere von Terrier, Jagdhund, Bernhardiner, Pudel, Spitz, Dogge und Mops, denn diese Hunde sind durchaus nicht zudringlich lärmend, sondern in der Regel würdiger und von vornehmerem Charakter als durchschnittliche Menschen. Wenn man aber diese Tiere an die Kette legt oder in engen Räumen eingesperrt hält, so ist es vollkommen gerecht, dass sie Grausamkeit mit bösartigem, zwecklosem Gebelle vergelten. Die Vergewaltigung gutartiger Tiere hat das ungeheure Schuldkonto des Menschen unsühnbar belastet. Solch ein Tier kennt nicht seinen Schmerz, sondern ist Schmerz. Es ist, wenn es zu leiden gezwungen wird, nichts als ein Haufe hilfloser Qual, die sich in spontanen Ausdrucksbewegungen, so gut das Geschöpf eben vermag, entlastet. Dabei sind die domestizierten Tiere so harmlos, dass der Hund, wie ich es mehrfach gesehen habe, wenn er zu Vivisektionszwecken geknebelt und wehrlos auf einem Drahtgestell daliegt, seinem Peiniger sterbend, mit aufgeschnitztem Leibe, noch die Hand leckt, weil er nicht gleich uns an der Kette kausalen Vorstellens sich im Leiden o r i e n t i e r t und
somit auch nicht die E n t l a s t u n g vom Schmerz besitzt, die uns das W i s s e n leistet. — Überhaupt würde der Mensch das Lärmen und Schreien der Haustiere mit vollkommen a n d e r e m Ohre hören, wenn er verstehen könnte, wie viel Geplagtheit dahintersteckt. Es gibt nichts Zerquälteres und Unglücklicheres als das Tier, und das Gros der Tierwelt ist nur darum hässlich oder bösartig, weil es gehetzt und ewig auf der Lauer ist... Wenn ein kleiner Kanarienhahn im Käfig Tag und Nacht singt, wie haben wir doch so billig, poetische Redensarten zu machen von »Sangeslust und Kunstfreudigkeit der Vögel !« Nichts liegt dahinter als die gehemmte Aktivität seiner angeborenen Natur, des rascheren wärmeren Blutes, der an beständige Bewegung gewohnten verkümmernden oder doch geschwächten Schwinge. Nichts als Drang nach Fliegen, Sichwiegen in Sonne und Laub, unter Seinesgleichen. Das gibt sich nun in Tönen aus ! Wir würden sie a n d e r s bewerten, wenn an uns verfahren würde, wie wir ihnen tun... H o r a z hat in einer Ode geklagt über das Vogelgezwitscher, das in der Frühe seinen Schlummer zerstöre; Platen und andere Dichter haben diese Klage wiederholt. Mit gutem Recht ! Aber das sind nun einmal unvermeidliche Übel, denen jeder ausgesetzt ist, der in und mit der Natur lebt und die man tragen muss, wie die Welt u n s trägt und uns verbraucht, wie wir eben s i n d. Das Geschrei der gekäfigten Singvögel dagegen ist eine künstlich gezüchtete Exzentrizität, gleich jenen einseitigen Dressuren des Variété, die man durch endloses Leidenmachen mürbe gequälten Geschöpfen schliesslich einprügeln kann. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass in Parks und Gärten geräumige Volieren mit schönen, seltenen Vögeln angelegt werden.Es mag auch kleine Blumenstübchen geben, in denen der Kanarienvogel frei umherflattern darf, zur Freude eines Kindes oder eines einsamen Menschen. Auch hat es Verstand, eine »Hecke« anzulegen, in der der Vogel unter Seinesgleichen lebt. Aber nur um des Luxus willen, ohne Liebhaberei, ein Tier in das Bauer mit ein oder zwei Sprossen käfigen und zu sehnsüchtigem Geschrei aufstacheln, das ist roh und verrohend. Der Kanarienvogel aber gehört meist zum obligatorischen »Hausrat«. Er bekommt Körner und Wasser ohne viel Aufmerksamkeit. Er steht in irgend einem Winkel, eine unbeachtete, vereinsamte Existenz, und schreit und schreit, bis dem fühllosen Herrn etwa nicht mehr beliebt, es
mit anzuhören und das verschüchterte Tier mit Decken und Tüchern vom Lichte abgesperrt wird. — Ebenso ist das Geplärre der Papageien ganz unerträglich. Sie werden reineweg aus Modenarrheit gehalten; selten von Leuten, die sich wirklich mit Tieren abgeben wollen. Solch Papagei, der die selben mechanischen Sprachlaute viele Stunden lang unablässig wiederholt, kann einen arbeitenden Geist zu heller Verzweiflung bringen. Ein besonders unerträgliches Geräusch ferner ist das Gegacker des brütenden Huhnes und das Geschrei der Hähne in der ersten Morgenfrühe... Selbst wenn man sich auf dem Lande bemüht mit den Hühnern schlafen zu gehen, so ist doch die Legezeit der Hühner und das Schreien der Hähne so willkürlich, unberechenbar, dass man in jeder Stunde der Nacht darauf gefasst sein muss, dass ein Hahnenkonzert beginne; denn sobald der erste Hahn gleich nach Mitternacht kräht, fängt in der Runde der Wettkampf lärmender Stimmen an. Dies erwirkt einen fast fieberhaft angespannten Zwangsimpuls des Aufmerkenmüssens. Man erwacht um Mitternacht in der Erwartung : »Gleich wird es anfangen.« Und selbst wenn der Lärm für ein paar Stunden aufhören sollte, so kommt doch kein Schlaf mehr, weil man eben gezwungen ist, abzuwarten, ob die Störung nicht alsbald wieder einsetzen werde. So liegt man mit fieberhaft angespannten Nerven im Dunkel. Man hört jeden Laut auf Meilen im Umkreis. — Eine ähnliche Tortur wie das Lärmen des Haushahns verhängt auch die Nähe eines Unkenteiches oder der ununterbrochene Schrei röhrender Hirsche oder das Klagen des Uhus über nächtlich Wachende und Überwachte...In einer Reisebeschreibung finde ich ein Tal in den Walliser Alpen erwähnt, dessen Besuch der Gegenstand meiner Sehnsucht wäre, wenn der Berichterstatter wirklich die Wahrheit sagt : Im Val d’ Anniviers, dem Eifischtal, sollen überhaupt keine Haustiere, insbesondere keine Hunde gehalten werden und zudem sollen die Anniviarden keine Musik treiben, weil sie vollkommen unmusikalisch sind. Ist das Wahrheit, gibt es ein Alpental, wo sich kein Grammophon, kein Klavier befindet, dann will ich für seine Unberührtheit beten...
6. Die Herrn Leisetreter, die Herrn Superklug Jetzt aber will ich von einem Geräusche sprechen, das nicht so sehr um seiner eigenen Abscheulichkeit willen denunziert zu werden verdient, als darum, weil es Symptom von Missständen ist, mit denen sich kaum irgend eine andere Schädlichkeit unserer Wirtschaftsordnung vergleichen lässt. Von den Geräuschen der Hauswirtschaft soll die Rede sein; insbesondere von dem grauenhafte Gelärme des Teppich, Polster und Bettenklopfens....Man vergegenwärtige sich
ein grossstädtisches Wohnhaus ! Zehn, zwanzig, oft fünfzig Parteien wohnen unmittelbar neben- und übereinander. Keine Partei kennt die andere. Keiner kümmert sich um den Nachbarn. Keiner nimmt am Ergehen des andern teil. Man hockt nur zufällig unter dem selben seelenlosen Dache. Man fühlt sich in keiner Weise solidarisch, in nichts füreinander verantwortlich. Es bleibt auch vollkommen der Willkür anheimgegeben, wann und wie oft ein jeder Hausbewohner seine Bekleidungsstücke, Decken, Bettstücke, Matratzen, Teppiche und Polstermöbel ausstauben will. Er kann das tun, wo ihm beliebt, im Hofe, im Hausflur oder auch im Treppenhause. So kommt es, dass kein Tag, ja keine Stunde im Tage vorübergeht, ohne dass irgend ein Bewohner der Proletarierkaserne ein plötzliches grosses Reinemachen inszeniert. Irgendwo wird immer geklopft, ein Teppich gebürstet, ein Läufer bearbeitet, ein Wäschestück oder eine Matte geschüttelt. Sollte aber wirklich einmal auf ein paar Stunden Frieden im Hause walten, dann kann man gewiss sein, dass von Balkonen der Hinter- und Nachbarhäuser her, oder von der gegenüberliegenden Strassenseite, von irgendwo, aus übervölkerten, mit Elend vollgestopften Mietkasernen das furchtbare, unablässige, ruhelose Geklopf und Gedröhne in Staub- und Schmutzwolken herüberschallt. Nun aber ist diese kontinuierliche Kanonade sämtlicher Hausfrauen und Dienstmädchen noch nicht das Schlimmste am Übel. So sehr das Ohr unter den Klopfgeräuschen leidet, so schwer es für den mittellosen, auf Duldung der Menschen angewiesenen »Breadwinner« ist, unter diesen täglichen Einbussen geistig zu schaffen, so schwierig es in Grossstädten wird, sich vor Schlaflosigkeit zu wahren und nicht durch schlaflose Erschöpfung frühzeitig zugrunde zu gehen, so sind dies alles doch nicht die e i g e n t l i c h e n hygienischen Schäden, die mit dem Lärm der Hauswirtschaft verbunden sind.
Blicken wir auf die nicht genug zu preisenden Fortschritte, die die Hygiene des Städtelebens während der letzten zehn Jahre gemacht hat, dann ergreift uns Verwunderung darüber, dass d e n Seiten des täglichen Lebens, von denen ich jetzt sprechen will, nicht mehr Aufmerksamkeit zugewendet wurde. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich die Hälfte aller infektiösen Erkrankungen auf mangelhafte Hygiene der privaten Hauswirtschaft, insbesondere aber auf die gegenwärtige Reinigung der Polstermöbel und Betten zurückführe. Man stelle sich beispielsweise vor, welche Verbreitungschancen die Phthisis oder Tuberkulose in einem volkreichen Proletarierviertel besitzt. Wir wissen, dass die Zeit noch nicht fern liegt, wo jeder zweite Arbeiter vor dem dreissigsten Lebensjahre starb, wissen, dass man noch vor zwei Generationen in England und Deutschland voraussetzte, dass jeder siebente Mensch eine tuberkulöse Infektion zu erleiden habe. Man machte aber in der Regel die Erfahrung, dass die Infektion schon im frühen Kindesalter zu erfolgen pflegte. Vor allem schien das Alter zwischen drittem und siebentem Lebensjahr den Gefahren der Infektionskrankheiten hervorragend ausgesetzt zu sein... Man rufe sich das Bild unserer frühen Kindheit vor die Seele, dieser Kindheit, durch die wir uns unbegreiflicherweise hindurchrangen, als eines von Millionen überflüssiger Grossstadtkinder, zwischen Fabrikschloten und Maschinenlärm, in dem mit Menschen überfüllten Wohnhaus, mitten im Staub des Geschäftslebens, wo wir kein Himmelblau und keine Blume sahen und unsere ersten Welteindrücke empfingen. Wir krochen, unbehilflich, ohne dass jemand darauf achtete, auf dem Fussboden umher, auf Trottoiren und Treppenstiegen. Immer hatten wir schmutzige Händchen. Immer brachten wir sie mit allem in Berührung, was ins Bereich unserer ahnungslosen Neugierde kam. An allem wurde getastet, geleckt, gerochen. Und alles war überdeckt mit dem Auswurf und Staub kranker, leidender Leute. Überall schluckten die kleinen Organe grossstädtischen Schmutz; Schweiss und Dunst der Betten, die in dem ummauerten, gepflasterten Hofe auf unserem »Turnreck« geklopft wurden, während wir die klopfende Magd umspielten. Exkrete, Evaporationen ungesunder alter Menschen, die aus den zahllosen Teppichen, aus oft seit Jahren nicht gereinigten Polsterstücken hervorbrachen, die vor der Flurtür mitten im Treppenhause ausgestaubt wurden. Und wenn wir zum ersten Male die endlose Stiege hinaufkletterten und die kleinen Lungen von der Pein dieser Leistung keuchten, dann kam aus dem stets ungelüfteten Treppenhause ein mächtiger Staubschwaden in unsere Kehle, wurde niedergeschluckt und brachte vielleicht die Keime zu langem Siechtum in die kindliche Blutbahn...
Wie oft hat nicht die Morgenmilch oder die Mittagssuppe auf dem Küchenbalkon zum Abkühlen im offenen Topfe gestanden, während drunten auf dem Hof ein fremdes Bett geklopft wurde. Wie oft trocknete nicht unsere Kinderwäsche auf dem Balkon des Hinterhauses in der Sonne, während aus dem Fenster darüber ein Bettstück ausgeschüttelt wurde. Und wehe, wenn in dem Bettstück ein Krebskranker, ein Tuberkulöser, ein mit Diphtherie oder Masern behaftetes Nachbarkind gelegen hatte. Dann entstand wieder eine jener Infektionen, bei denen jeder sich verwunderte, wie nur der Junge, den man sorglich behütet und von dem Verkehr mit Nachbarkindern abgehalten hat, plötzlich eine Übertragungskrankheit ins Haus bringt. Diese ganze Absperrungshygiene nützt ja nichts. Wir sehen täglich, dass es einfachere Wege gibt, auf denen Infektionskrankheiten über Kinder kommen, durch die tausende dahingerafft, andere tausende mit unerklärlichem, dauernden Siechtum geschlagen werden. Mag der Magen auch imstande sein, täglich zahllose Krankheitserreger, die mit der Nahrung aufgenommen werden, zu vernichten, niemand soll darum wähnen, dass es für kleine zarte Organismen gleichgültig sei, wenn Stoffteilchen Krebskranker und Schwindsüchtiger in die Nahrungsmittel gelangen. Wir erfahren immer neu, dass unter der Herrschaft der allein seligmachenden Einfamilienwirtschaft ein einzelner Phthisiker in der Lage ist, den gesamten Umkreis seiner Angehörigen (trotz der sorgfältigsten Vorsichtsmassregeln) zu vergiften, dass jedes kleine Kind, dass den Stuhl seines Vaters umspielt, in ewiger Gefahr für seine gesunde Entwicklung schwebt. Denn das Kind, das die Fingerchen zum Munde führt, während es auf dem Boden herumspielt, scheulos und ohne die hemmende Berührungsangst des Erwachsenen, nimmt in dem widerstandsunfähigen Körper unvergleichlich mehr Krankheitskeime auf als der normale Erwachsene. Es verfällt daher in tuberkulöser Umgebung rettungslos der Infektion, von der es durch rechtzeitige Isolierung und energische Separation der Kranken bewahrt worden wäre, auch dann, wenn seine leiblichen Eltern, beide, Phthisiker sind. Denn die Tuberkulose (selbst wenn man die Tatsache »organischer Disposition« zugibt) wird nicht als s o l c h e im Mutterleibe erworben, sondern kann erst durch Infektion irgendwie »ausgelöst« werden. — Nun aber bedenke man auch, wie alle diese Betten und Polster, deren tosendes Ausklopfen uns beständig in den Ohren liegt, durch öffentliche Unreinlichkeit und das üble Ausspucken belastet sind. Überall, an den harmlosesten Orten, kann sich in Zeugstoffe virulenter Auswurf in Form getrockneten Staubes nisten. Bei der grauenhaf ten Rücksichtslosigkeit der meisten sogenannten Menschen schwebt ein solch armes schutzloses Kind, das nicht zufällig als Generalstochter oder Bankierssohn in die Welt tritt, und nicht von waadländischer Amme oder englischer Gouvernante behütet wird, fortdauernd in der Gefahr, bei harmlosen Spielen die ekelhaften Gifte unreinlicher Menschen in sich aufzuspeichern... Man überzeuge sich nur in den Pferdebahnen und elektrischen Bahnen, in Eisenbahnwaggons, von der untersten bis zur obersten Klasse, in Fluren öffentlicher Gebäude, Universitäten, Akademien von der naiven Unverfrorenheit und Selbstverständlichkeit, mit der diese Menschen, Männer und Weiber, überall hinspucken, ohne dass irgendwem einfällt, solche Lamas verantwortlich zu machen und ihre Unsittlichkeit zu verbieten... Ferner denke man auch an die vielen Menschen, die ihr Leben lang Treppen zu steigen haben, täglich, Haus an Haus, hinauf und wieder hinab, deren Leben sich recht eigentlich auf den Treppen und in der Hausflur der anderen abspielt; Briefboten, Geschäftsboten, Hausierer, Gerichtsvollzieher, Agenten, Ärzte, Privatlehrer. Ermisst man wohl die Infektionslast, die wir täglich durch diese Unarten der Hausreinigung zu paralysieren haben ? Da beim Treppensteigen Lunge und Herz heftiger arbeiten, so drängt sich der trockene Staub, den die ausgeklopften Möbel und Kleider in den lichtlosen, ungelüfteten Treppenhäuser hinterlassen, in die offenen Resapirationsorgane, wird niedergeschluckt, verarbeitet und in die Blutbahn gebracht... Welche Bedeutung dieser spezifischen Art von Möbelreinigung für die Gesundheitsstatistik zuzuschreiben ist, zeigt sich an dem folgenden Beispiel, das ich dem Bericht eines in Tunesien lebenden Arztes entnehme. Dieser legte über die Verbreitung von Infektionskrankheiten bei in bezug auf »Rassenanlage« ungleichen Bevölkerungsschichten Statistiken an. Ihre Ergebnisse wünschte er durch die angeborenen Unterschiede der »biologischen Konstitution«, auf Grund verschiedener »Rassenanlage« »genuiner Nosotropie« zu erklären. — Nun aber zeigte sich, dass unter den drei hauptsächlichen, ihrer Deszendenz nach verschiedenen Bevölkerungsschichten Tunesiens, der arabischen, europäischen und jüdischen Bevölkerung bestimmte Krankheitstypen in der Tat endemisch lokalisiert sind. Man findet insbesondere, dass der blondere, blassere europäische Typus den Erkrankungen des Blutkreislaufes, z. B. Anämie und Chlorose leichter ausgesetzt ist als der brünette Typ, dass bei den dunkel pigmentierten Individuen dagegen die nervösen Erkrankungen mannigfacher sind, ja dass man im groben von dem Typ des »Blutmenschen« und dem des »Nervenmenschen« reden könnte. In bezug nun auf die spezielle Verbreitung der Tuberkulose war auffallend, dass sie bei den tunesischen Juden nicht eben gross ist, obwohl diese zum grösseren Teil der allerärmsten Volksschicht zugehören. Die Sterblichkeit an Schwindsucht bei der arabischen, europäischen und jüdischen Bevölkerung Tunesiens verhält sich konstant wie 12 : 6 : 1. Da nun aber die »Nosotropie« der arabischen und jüdischen Bevölkerung sich im übrigen als fast gleichartig erweist, so muss hinter dieser Ausnahmestellung des Juden zur
Tuberkulose noch ein b e s o n d e r e r Faktor zu suchen sein. Das Rätsel löst sich aufs allereinfachste. Der Jude darf in Bethäusern und Versammlungshäusern keinerlei Polster, Teppiche und Zeugstoffe verwenden. Er benutzt sie auch in den Privatwohnungen nicht und hängt sogar nur ausnahmsweise Vorhänge an die Fenster. Da er somit ausschliesslich Holzmöbel benutzt, so kennt er auch nicht die europäische Art der Wohnungsreinigung mit trockenen Besen, sondern er gebraucht feuchte Lappen, mit denen alle Gebrauchsgegenstände mehrmals am Tage abgestaubt werden. Damit ist eine zwar primitive aber ganz rationelle Hygiene der Hausreinigung gegeben. Denn es ist keine Frage, dass der viele trockene Staub bei der Hausreinigung (der so oft einfach unter die Schränke gefegt wird), dass ferner das gebräuchliche Daunenbett, dessen Schütteln und Klopfen auf Balkons und in Höfen die Luft mit Krankheitsstoffen erfüllt, und dass endlich das primitive Ausklopfen der Polstermöbel an dem Entstehen von Epidemien in Städten wesentlich beteiligt sind.
Haben wir dies alles erkannt, so wissen wir, was wir von dieser heimtückischen, gemeinsten Lärmart künftig zu halten haben. Die Gefahren der Polstermöbel sind längst gewürdigt. Aber man hat darum noch keineswegs die für das öffentliche Wohl notwendigen Massregeln getroffen. Man sollte bei der Einrichtung öffentlicher Gebäude, wie Gerichtssäle, Bibliotheken, Schulen, Banken, Galerien, Museen, Vergnügungs- und Speiselokalitäten niemals Polstermöbel und Sessel verwenden. Die üblichen roten Plüschsessel in den grossstädtischen Cafés, an denen jedermann sein Haupt scheuert, sind gar widerwärtig. Man besuche eine grosse moderne Privatbank oder die Bureaux moderner Grosskaufleute oder Industrieller, man überzeuge sich, wie geschmackvoll und solide, bequem und schön grosse Räume mit behaglichen Holzmöbeln oder Ledermöbeln ausgestattet werden können, ohne Stoffe, Plüsche, Portièren, schwere Teppiche. Man bedecke die Wände mit leichtem Farbenfirnis oder waschbarer Lincrustatapete, den Boden mit sauberem, häufig mit Karbollösung gereinigtem Linoleum; man verwende keine Ripps-, Samet- und Plüschstoffe, wohl aber festes waschbares Leder. Es ist eine Erfahrung, die jeder Reisende bestätigt, dass man mit der dritten Wagenklasse gesunder und gefahrloser in Bäder und Kurorte reist, als auf den bedrohlichen Polstern der beiden oberen Klassen 1) ...
* * * Es wäre nun aber zu erfragen, wie
denn die schrecklichen Begleiterscheinungen der Hausreinigung vermieden
werden können ? Man darf wahrlich nicht erwarten, dass in jeder kleinen
Familie die einzige geplagte Dienstmagd oder die arme Hausfrau (etwa auf
Handkarren) Bettstücke Treppenläufer, Matten und Teppiche auf
ein vor der Stadt gelegenes vorgeschriebenes Klopfterrain hinausfahre,
um dort fern von beleidigten Ohren nach Herzenslust zu lärmen. —
Wohl aber wäre es ein Leichtes, das Geschäft der Hausreinigung
zunächst wenigstens teilweise zu zentralisieren.
Diese Abgabe des Betten, Polster und Teppichklopfens
würde Gesundheit und Arbeitskraft vieler arbeitender Frauen ersparen.
Der Unternehmer könnte einen guten Gewinn erzielen, selbst wenn er
für jedes geklopfte Stück nur ein paar Pfennige erhielte. Endlich
wird sich zeigen, ob etwa die Reinigung der Polster durch hydraulisch
komprimierte Luft, wie sie gegenwärtig an einigen Orten eingeführt
wird, schliesslich zu allgemeiner Anwendung kommen kann. * * *
Steckt denn nicht unbeschreibliche, grauenhafte Vergeudung von Menschenleben, von unwiderbringlichen Seelen und GeistesKräften dahinter ? Familienhäuser mit zehn, zwanzig, hundert Parteien !
Eine jede kocht tagtäglich auf dem eigenen Herde die selbe Suppe. Aus einem Kellerverschlage wird jeder Eimer Kohlen einzeln die Treppen heraufgeschleppt. Jedes Geschirr, jeder Teller wird einzeln gespült und getrocknet; und das in Tagen, wo eine »kraftsparende Arbeitsmaschine« in ein paar Minuten mehrere hundert Teller selbsttätig spülen und trocknen, in ein paar Minuten die ganze Arbeit erledigen kann, zu der hunderttausende Frauen dauernd ihren halben Arbeitstag verwenden. Und jedes Pfund Zucker, Kakao oder Reis wird drüben, vom Kleinhändler einzeln »eingeholt«. Die Bereitung eines Koteletts benötigt ein halbes Dutzend Gänge, Verhandlungen und Übereinkünfte. Alles aber stöhnt über Müdigkeit und Überbürdung; alles lebt nur in suspenso, ewig überhetzt, beschäftigt und nicht bei sich selber. Und überall kommt die Schönheit, kommt die Würde zu kurz. Unsere Frauen altern und verblühn, leisten eine Arbeitsmenge, die kein Mann zu leisten vermöchte und erreichen doch nichts, als dass alle dieses, Kochwirtschaft, Hauswirtschaft, Kinderpflege ganz unrationell, unzweckmässig und dilettantisch geübt wird, als dass sie mit all ihrer undifferenzierten, planlosen Wirtschafterei sich und andern das Leben vergällen. Zumal der Vormittag und der frühe Morgen in den Familienhaushalten der »weniger Bemittelten« ist eine kleine Privathölle. Ein ewiges Schruppen, Kratzen, Bohnern, Umkramen und Umräumen. Ein Tollhaus knarrender, kreischender, wetzender Geräusche. Dazwischen Zurufe und Menschenstimmen. Wenn dann schliesslich die rasselnden Privatmaschinen der Familienhaushalte leidlich in Gang kamen, wenn genug geklopft, gewischt, gerückt und geschruppt ist, dann ist der halbe Tag herum. Die Sonne steht in Mittag; die Arbeitskraft ist verbraucht, die Seele müde und stumpf. Und neunzig Prozent aller Lebenden widmet sich doch ausschliesslich diesem Lebensziele, Kochtöpfe und Kleider in guter Ordnung zu halten, um erträglich essen und schlafen zu können. Die kleine Schar der Übrigen, der »Überflüssigen«, die inmitten dieser Wirtschaftshöllen nutzlosen »Idealen« nachgehen, wird rücksichtslos niedergestampft... * * *
Wäre denn nun wirklich die Individualität bedroht, wenn man den Konsum unifizierte ?
Wenn man den Zucker, Reis, Kaffee, Tee, Kakao, mit Vermeidung alles Zwischenhandels und ungeheuerlicher indirekter Steuern, in grossen Quantitäten vom Orte der Produktion bezöge ? Wäre denn wirklich euer »ideales Familienleben« in Gefahr, wenn ein Wohnhaus von 25 Parteien nicht 25 Badestuben, sondern einen e i n z i g e n grossen Baderaum mit allen nur möglichen Apparaten der häuslichen Hygiene und Gesundheitspflege aufwiese ? ... 25 Familien, die ein grossstädtisches Proletarierhaus in der Stadt Krähwinkel bewohnen, halten sämtlich das »Krähwinkler Intelligenzblatt« und beziehen aus ihm ihre Geistesnahrung. gesetzt, sie vereinten sich, einen luftigen Parterreraum ihres Proletarierhauses zum Lese und Bibliothekszimmer herzurichten, so könnten dort täglich 25 verschiedene
Zeitungen ausliegen und von jedem eingesehen
werden, und es würde nicht mehr kosten als heute ein jeder für
das »Krähwinkler Intelligenzblatt« bezahlt. Die Verbilligung
und Verbequemlichung, der Gewinn an individueller Freiheit, Unabhängigkeit
und Musse, der in kleinen und dürftigen Verhältnissen aus der
Sozialisierung der äusseren Wirtschaft erblüht, ist so sonnenklar,
dass ich nicht begreife, warum überhaupt noch nötig ist, diese
Selbstverständlichkeiten zu wiederholen. Selbstverständlichkeiten
freilich nur für bedürftige und kämpfende Menschen; nicht
für jene, die in separierten Familienvillen mit dem Aufwande grosser
Dienerschaft leben können und im Grunde alle Funktionen der Hauswirtschaft,
ja sogar die Wartung und Pflege, und die ganze Erziehung und Bildung ihrer
Kinder auf d i e n e n d e Kräfte abgewälzt haben. Die Bevölkerungsschicht
der Aktionäre aber ist in der Wirtschaftsreform schlechterdings nicht
massgebend; wer sich das Leben ohnehin einrichten kann, wie er w i l l
, hat kein Verständnis und hat in der Regel auch kein G e f ü
h l für das, was dem Leben n o t w e n d i g ist.
Ich will euch verraten, w a s in Wahrheit hinter dieser Willkür und Zufälligkeit verborgen liegt. Disziplinlosigkeit, Primitivität und rüpelhafte Unkultur des durchschnittlichen M a n n e s. Es soll alles nach L a u n e gehen. Ihr möchtet euch eben gehen lassen. Ihr habt weder echten Patriotismus noch echten Bürgerstolz; ihr habt nicht ein einziges Ideal, für das ihr im Tageskampf euch das geringste O p f e r auferlegtet. Wofür würdet ihr denn wohl das Schafott besteigen ? »Behaglichkeit« ist eure einzige Göttin. Ihr seid nicht eigenartig, nicht »individuell« genug, um nicht f ü r c h t e n zu müssen, dass mit der Willkürlichkeit der Lebens f o r m e n auch die Einkehr und Abgeschlossenheit eures W e s e n s dahinfällt. Ihr b e s i t z t euch gar nicht selber; sondern ihr müsst euch erst abgrenzen und vermauern, um zu dem Gefühl zu gelangen, eine »Persönlichkeit« zu sein. »Individualismus« aber nennt ihr die Erlaubnis, nach Herzenslust spektakeln zu dürfen. Jede gesellschaftliche Schutzmassregel gegen das Gegacker jener lauten Narren, jener grossen Schreier, jener frechen Schwätzer, die ihr eure »starken Persönlichkeiten« nennt, erscheint euch als »staatliches Nivellement«, als ein Eingriff der Bureaukratie in die heiligen Rechte des »Individualismus«. Ihr schwatzt gar viel von Liberalismus und Freiheit; aber gibt man euch die Freiheit sittlich zu s e i n , dann ersehnt ihr nur die Freiheit v o n aller Sitte. Zufall und Chaos beherrschen euer Leben. Zufall und Chaos gebieten, welche Art Menschen in den Mauerlöchern, unter den roten Dächern der Steinverliesse zusammengewürfelt werden, sich lieben, hassen, Kinder zeugen und zu Tode quälen. Zufall und Chaos allein schweben um die Gestalten eurer Hausmütter und Hausfrauen. Alles, was in der praktischen Wirtschaftsarbeit am wichtigsten ist, Ernährung und Küche, Hausreinigung, Hygiene, Erziehung, Kinderpflege wird o h n e inneren Beruf und Begabung, o h n e Selbstdisziplin, Einsicht und Ehrfurcht, o h n e Arbeitsteilung und spezialistische Vorbildung betrieben; die Frau kocht, wäscht, reinigt, lärmt und erzieht kraft ihrer »Vorbestimmung« und ihres Geschlechtes, heute genauso wie es ihre Grossmütter zur Zeit der Naturalwirtschaft getan haben. Kaum vermag der denkende Geist ohne Verzweiflung zu fassen, wie diese Milliarden dahin leben, Milliarden, die ihr armes, kurzes, unwiederbringliches Leben nur dazu bekommen haben, um sich in zahllosen kleinen Privathöllen zwischen viele überflüssige geschmacklose und hässliche Dinge einzusperren und ihre Ehre, ihre gesamte Lebenskraft darein zu setzen, nur ja korrekte Gesinnungen und korrekte Kleider zu tragen. Ach, so vorsichtig, so mittelmässig, beschämt, bequem und unselbständig. Und in aller Feigheit und Sehnsuchtlosigkeit so laut und ohne Ehrfurcht ! * * *
7.
Wir sind ein Ohrenvolk, aller Anschaulichkeit und Sichtbarkeit bar. Aber wenn der Anblick unseres Lebens übertrieben, formlos, hässlich oder gar komisch sich ausnimmt, so besitzen wir doch auf e i n e m Schaffensgebiete einen tröstenden Vorzug : im Reich der T ö n e sind wir tief innerliche Empfinder und Träumer. Die Musik ist die bestimmende Macht unserer Volksseele, der unbestreitbare Stolz deutscher Kultur. Das ist ein Vorzug, ist auch ein Nachteil. Denn wir sind dem entzückenden Teufel so vollkommen ausgeliefert, dass deutsche Kultur an musikalischer Elephantiasis schliesslich zugrunde geht... Kann man sich denn in Deutschland irgendwo unter Menschen getrauen, ohne auf Stunden dem Gesang oder Instrumentalspiel eines Dilettanten ausgeliefert zu werden ? Gibt es irgendwo Wälder und Parke, wo man sicher ist vor dem Potpourri, vor dem Promenadenkonzert und der Militärkapelle ? —
Ich rede hier nicht von grosser Kunst. Rede nicht von den wenigen, die Musik als ernstes Studium und Arbeit treiben. Diese werden mich schon verstehen denn ihre ernste Freude hat nichts zu schaffen mit den Vergnügungen aller der Hunderttausende, für die Musik ein gelegentlicher Zeitvertreib, eine Abladestelle billiger, flacher Gefühle, eine Salpeterplantage müssiger, spielerischer, exzitierender Erregungen ist. Ich wünsche nichts zu ungunsten allgemeineren Verständnisses der Musik zu sagen. Wer imstande ist, Partituren und Klavierauszüge der grössten Orchesterwerke, die Werke Bachs und die Lieder mancher neueren Meister im stillen Zimmer zu studieren, besitzt einen Reichtum, der ihn über alle Welt und alle Not der Welt hinaushebt. Aber was hat dies zu schaffen mit dem Zeitvertreib all der Müssiggeher, die sentimentale Melodien auf der Geige kratzen, Salonstücke und Tänze vortragen oder gar stolz darauf sind, dass sie Zither schlagen, auf der Guitarre die Zeit vertrödeln und allerlei Niedlichkeiten und Allerweltslieder vorführen können ? Gewiss, wo tiefes, ernstes Leben entgegentritt, da besinn ich mich gern auf einen Spruch, mit dem Theodor Storm uns über Störungen durch unzeitige, unberufene Musik getröstet hat :
Soll aber nun jeder müssig herumlungernde, das Leben vertuende und vertändelnde Mensch, jeder Backfisch, jeder Student, dem die Musik nichts als gute Unterhaltung und angenehme Gefühlswallung zu bieten vermag, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht das Recht haben, in ernste, strenge Arbeit einzubrechen ? Sollen sie mit ihren Fingerübungen und Etuden uns martern dürfen oder gar mit stundenlangen Solfeggien und platten lauten Gefühlsergüssen unser ganzes Tagewerk zerstören ? Man klagt über die Unnatur unserer Lebensführung, bespöttelt und kritisiert den zunehmenden Hang der Gehirnkulis zu nächtlichem Schaffen. Aber dann gebt doch den Armen Lebensbedingungen, unter denen sie e x i s t i e r e n können, unter denen ein nur auf die Kraft seiner Feder und die Gesundheit seines gemarterten Hirns angewiesener, beständig von der Gefahr des Hungerns oder des geistigen Zusammenbruches umlauerter Mensch noch zu schaffen und zu denken v e r m a g... Ich weiss nicht, w i e sich feine, zarte, empfindsame Gedanken in diesem Tagesleben
erheben und halten sollen, wo man doch
beständig von jeder Art Lärm und Geräusch umbrandet wird
und wo zu alledem musikalische Aufregungen einwirken, die gerade den für
Musik empfänglichen und reizbaren Menschen notwendig in ihr Interesse
ziehen und Stimmungen, Dispositionen auf ihn übertragen, die er für
seine Arbeit nicht ausnutzen kann, die ihn vielmehr nur zersplittern und
ungenützt seine Seelenkräfte absorbieren. —
Nur eines könnte vor der gänzlichen Umkehrung der Tageszeiten schützen : energische Zwangsmassregeln zur Unterdrückung des Lärmes und des Geräusches des Tages. Für die »Hausmusik« aber, gegen deren Missbrauch bisher noch nicht der mindeste Rechtsschutz geschaffen wurde, scheint mir das zu alleroberst nötig zu sein. Man besteuere endlich das Luxusklavier, besteuere musikalische Lustbarkeiten und Vergnügungen (nicht aber etwa belehrende Vorträge und bildende Veranstaltungen); man besteuere die Geige und die viel gemissbrauchte Guitarre. Man besteuere Spieldosen, Drehorgeln und Mu sikautomaten und übe diese Steuer rücksichtslos in alle den Fällen, wo nicht die Notwendigkeit der Musikinstrumente zu Studienzwecken oder zu selbsttätig ausgeübtem Erwerbe nachgewiesen werden kann, sondern wo Musik zu Unterhaltung und Zeitvertreib müssig gehender begüterter Kreise getrieben wird. Keine Luxussteuer wäre so berechtigt, keine besser angebracht...Sodann aber schaffe man feste Vorschriften, unter deren Befolgung allein, Musikinstrumente in Privathäusern gehalten werden dürfen. Man schaffe sie zunächst etwa in Form von Spezifikationen zum GrobeUnfugParagraphen (360, 11, R.St.G.B.), dessen gründliche Neubearbeitung ja doch in der allernächsten Zeit unausbleiblich ist. Dieser alberne Paragraph ist vortrefflich dehnbar. Überflüssiges Klavierspiel aber ist unbedingt als gröbster Unfug zu betrachten. Man sehe endlich auch im Polizeistrafgesetzbuch strenge Strafvorschriften vor, gegen willkürliche Ruhestörung durch Musiklärm. Man setze fest, erstens, dass in Privathäusern (ohne Gewerbeschein oder event. polizeiliche Dispensation) zu bestimmten Ruhestunden vor allem auch am Sonntag und Feiertagsvormittag überhaupt nicht musiziert werden darf; zweitens, dass für die Dauer des Übens auf weithin tönenden Instrumenten die Fenster der Privatwohnungen zu schliessen sind; widrigenfalls stehe Geldstrafe, Haft und Konfiskation des benutzten Instrumentes zu erwarten. Ferner sollen sich die Hauswirte dahin einigen, dass sämtlichen Mietern in Häusern, die nicht von e i n e r Partei bewohnt werden, nach 9 Uhr abends und vor 9 Uhr morgens das Musizieren schlechterdings verboten wird. Die Sonntagvormittage aber, die für Hunderttausende eine kurze Erholungsfrist bieten, sollten nimmermehr durch das Gelärm der Frühschoppenkonzerte, Biermusiken und Privatklaviere ihrem Zwecke, Sammlung und Ruhe zu gewähren, entzogen werden. Wie die gröberen Organe unseres Leibes durch die staatliche Autorität geschützt werden, wie man die Bevölkerung vor schlechten, verdorbenen oder verfälschten Nahrungsmitteln zu behüten versucht, so sollte auch das zarteste wichtigste Organ, das Ohr, zumal aber das Ohr der Schuljugend vor dem schlechten, verfälschenden, den Geschmack verpöbelnden Musiklärm geschützt werden. Göthe lässt im Wilhelm Meister diejenigen, welche sich der Musik widmen, eine gesonderte »pädagogische Provinz« bilden, möglichst abgelegen und entfernt von allen anderen. Und in der Tat, es ist nicht einzusehen, warum nicht jede Stadt und jedes Stadtviertel eigene Gebäude für musikalische Studienzwecke, für Klavier und Gesangsübung besitzen sollte, so wie man in Sanatorien und Kurorten abgelegene Musikzimmer herstellt, wohin sich diejenigen, die singen und spielen oder dem Spiel und Gesang zuhören wollen, zurückziehen mögen... * * * »Musik wird oft nicht schön gefunden, Eine grauenhafte Unsitte grassiert in ganz Deutschland : das allgemeine Restaurant und Kaffeehauskonzert. Wer auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen
angewiesen ist, musikalische Ohren besitzt und sich nicht »aus dem Erwerbsleben zurückziehen« kann, der wird durch Musik, in der alle Welt ihre Nöte und Sorgen übertäubt, fast zu Tode gemetzgert. Jede Arbeit in Fabrikhöllen und Schwitzschachten wird von rhythmisiertem Lärme begleitet. Aber auch alle Erholungsstätten sind von schlechter Musik überfüllt. Der jeweilige Gassenhauer, heute das »Lied von der Holzauktion«, morgen die Matschiche, verfolgt uns bis in die Träume der Nacht. Die allgemeine Musikwut übt auf die Kultur des Ohres die selbe Wirkung, die das illustrierte Journal, das »Witzblatt« und die kitschige Reproduktion auf die Kultur des Auges übt. Man lebt im Hören und Sehen gleich wüst und unkultiviert... Was aber nützt es dagegen streiten, bald in Mitleid, bald in Ekel ? — Rücksicht heisst Schwäche. Güte heisst Ohnmacht. Der eine über schreit immer den andern. Mit nichts pflegt der Normalmensch verschwenderischer umzugehen, als mit der Aufmerksamkeit und Zeit seiner Mitmenschen. Wenn man zu einem Besuche, einer Gesellschaft mich veranlasst, bei der man mir nichts vorzusetzen hat als Nervengifte, die meine Fähigkeiten lähmen, Speisen, die ich nicht vertrage, Gespräche und Unterhaltungen, die Zeit und Aufmerksamkeit rauben, ohne mich im mindesten zu erfreuen und zu fördern, begeht man da nicht an meinem Lebenswerk ein Verbrechen ?
Wie edel könnte doch Geselligkeit sein, wenn Menschen sich doch nur füreinander v e r a n t w o r t l i c h fühlten, wenn es sich um etwas Besseres handelte, als um die Übereinkunft, den grösseren Teil des Lebens müssig, bequem und ohne Anstrengung miteinander zu vertrödeln. Sobald man aber beisammen sitzt und der übliche Klatsch und Tratsch erschöpft ist, stürzt irgendjemand ans Klavier, ohne zu fragen, ob man Musik hören mag, ob man s e i n e Musik hören mag. Man sollte jedem geselligen Zusammensein, sollte auch allem Musizieren einen positiven, methodischen Inhalt geben. — Hat uns aber einer durchaus und ganz und gar nichts mitzuteilen, was fördern und erfreuen kann, dann soll er wenigstens zuzuhören und zu lernen verstehn... Von Kant, Fechner, Lotze, Darwin wird uns ausdrücklich berichtet, dass sie tief schweigsame Naturen waren. Wer aber kann sich wundern, dass Lebewesen, die gar nichts in der Seele tragen als spezifische Futtertrog und Familieninteressen wie die Mühlen klappern, dass sie im Lärme leben wie der Fisch im Wasser und selbst die hehre Musik zur »Unterhaltung« entweihten, sie, die keine Stubentür schweigend zu schliessen vermögen... * * * Alle der widerwärtige Musiklärm bewährt nun einen eigentümlichen Untergrund. Er verbirgt eine merkwürdige Beziehung zu des Menschen erotischen Erfahrungen. — Zunächst scheint mir, dass die Produktivität in der Musik ebenso in der aktiven Geschlechtlichkeit verwurzelt ist, wie das verfeinerte V e r s t ä n d n i s für Musik einer Transformierung und instinktiven Gebundenheit erotischer Impulse zu entsprechen pflegt. Man darf getrost behaupten, dass hinter einem grossen Teile des Musiklärms, der täglich vollführt wird, ganz wie hinter dem Gesange der Vögel, erotische Verwebungen und Verwickelungen, das Einandersuchen und Fliehen der Geschlechter im Verborgenen lauert. Diesen Gesichtspunkt müssen wir zunächst für die Erklärung der ungleichen musikalischen Anlagen von Mann und Frau wohl im Auge behalten. Die oft betonte Unfähigkeit der Frauen zur Komposition, d.h. zur »Produktivität« in der Musik und ihre doch gleichzeitig wirksame, ganz ungewöhnliche musikalische Empfänglichkeit und Verständnisfähigkeit für interpretatorische, reproduktive Aufgaben, — sie erklären sich aus einer tiefen Gebundenheit des Trieblebens. Die Frau ist nicht aktiv, nicht spontan. Sie ist immer und überall »rationaler« als der Mann. In ihr dokumentiert sich jene überlegene Rationalisierung des Trieblebens, die der Mensch ausschliesslich der Schule der Not, nur langem, geschlechterlangem Leiden und Drucke verdanken kann... Das gleiche Verhältnis der musikalischen Anlage, das zwischen Frau und Mann besteht, fndet sich wieder in den Begabungen »primitiver« und »später« Kulturen, d.h. im Verhältnis der noch ungebundenen, rohen und der schon rationell geschulten und durch Überlegung gehemmten Kulturvölker. — Je intellektuell vergeistigter und disziplinierter der Volksschlag wird, um so auffallender pflegt die musikalische Schöpferkraft hinter hinter rezeptiven Musikanlagen zurückzutreten. Man denke an die musikalische Veranlagung der Engländer. Sie sind die intellektuellste und geistigste aller Nationen; aber sie sind musikalisch fast vollkommen unschöpferisch und doch zugleich von einer Zuneigung und Begeisterung für Musik, die oft lächerliche, exzentrische Formen annimmt ...Betrachten wir nun aber die grossstädtische Musikwütigkeit unter dieser physiologischen Perspektive, dann könnte man bei dem Klavierspiel und Gesang seines Nachbarn und seiner Nachbarin oft auf allerlei besser zu verschweigende Gedanken kommen. * * * Eine einzige Bemerkung will ich mir zum Schluss nicht versagen : Man beachte, welch eigentümliches, noch unentdecktes gesetzliches Verhältnis obwaltet zwischen dem allgemeinen Klavierspiel und Gesangsbetriebe einerseits und dem Geschrei von Wickelkindern und Säuglingen andererseits. Wenn man dem einen Geräusche glücklich entronnen ist, dann gerät man mit Sicherheit in das andere hinein. Wo die eigentlichen »Proletarier« wohnen, in den Fabrikvierteln, im Osten und Norden der Städte, da ebbt in der Tat die Klavierpest und Gesangsseuche ganz beträchtlich ab. Dafür aber wird man dort von früh bis spät durch rasendes Kindergeschrei dafür abgestraft, dass man auch selber einige Monate seines Lebens so geschrieen hat. Wohnt man dagegen in den Westvierteln, unter den sogenannt »besser Bemittelten«, dann findet man, dass der Kinderlärm im ganzen dort freilich beträchtlich geringer ist, dafür aber übt der noch unbesteuerte Emotionskasten, das »Piano« oder »Leiserchen« eine kaum zu beschreibende Tyrannei aus. Richtige subumbilikale Anfälle, stundenweiser Musikraptus, Ovarialklänge links, Testalklänge rechts. Sämtliche müssiggehende und gelangweilte Damen der Umgegend, alle Hagestolze die nichts zu tun und zu verantworten brauchen, haben sich verschworen, zu singen, zu spielen, zu flöten und zu girren, meist aus keinem anderen vertretbaren Grunde als dem, woraus auch der Auerhahn balzt, tanzt, kapriolt und musiziert, Stunden und Tage lang; alle psychophysischen Spannungszustände entäussernd und der Umwelt mitteilend, bis dann schliesslich das erwünschte Nest und Eier da sind und die jungen Kücken, worauf es mit dem Kunsttrieb und der Kunstbegeisterung plötzlich ein Ende hat. Gott beschütze meine Ohren und verhelfe euch baldigst zu einem — Umzug in das Nordviertel. Ich aber stehe auf Leichen und Trümmerstätten grausam gemordeter Gedankenkinder und habe nichts als den Stossseufzer des Dichters :
*** ______________________________________________________ 1) Auf den böhmischen Bahnen fand ich in den Kupees folgende Verfügung in deutscher und böhmischer Sprache aushängen : »Das freie Ausspucken ist strengstens verboten. Zuwiderhandelnde werden nach der Ministerialverordnung vom 30. September 1857 R.G.Bl. 198 mit Geldstrafen von 2 bis 200 Kronen oder mit Arrest von 6 Stunden bis 14 Tagen bestraft.« — Diese Strafe ist viel zu niedrig. Ähnliche Verordnungen aber sollten im Hinblick auf die Tuberkulosegefahr für alle Bahnen gelten, nicht bloss in Böhmen. — In bezug auf die Gefahren durch Polstermöbel möchte ich noch folgendes bemerken : Es gibt kein anderes Land, in dem eine edle Tradition so sehr der Hygiene im Wege steht, wie in Deutschland. Gerade in der beesten Kulturgesellschaft, insbesondere auf den Schlössern des Adels ist der Hausrat mehr oder minder »historisch«. Man erschrickt, wenn man die Stillosigkeit berühmter Paläste betrachtet. Zwischen Ahnenbildern in vergoldeten Rokkokorahmen hängt das Telephon; hohe Säle voll unpraktischer Meubels; Säle, in denen alte Vitrinen und ungeheuere Kachelöfen stehn, durch Dampfheizung erwärmt, die heimlich hinter den alten Gobelins und Draperien der Wände verborgen liegt. Ein Parvenü in Nordamerika ist komfortabler, stilvoller und vor allem hygienischer eingerichtet als unsere vornehmsten Adelsgeschlechter in Ostpreussen, Brandenburg, Böhmen oder Ungarn. Sie leben mehr in einem Museum als in Arbeits- und Wohnräumen, als Diener ihrer Geschichte, als Diener der Ehrfurcht gegen tote Jahrhunderte. |