Ja, soll ich singen?
Wolfgang Koeppen
im Gespräch mit
André Müller, 27. Oktober 1991
Ihr letzter Roman,
»Der Tod in Rom«, ist 1954 erschienen. Danach ist Ihnen das
einzigartige Kunststück gelungen, Ihr Schweigen in den Rang einer
literarischen Leistung zu heben.
Das ist nicht mir gelungen. Das haben andere
getan.
Ich zitiere : »Wolfgang Koeppen
ist einer unserer größten Schriftsteller. Er ist es auch, weil
er so lange geschwiegen hat und vielleicht lange noch schweigen wird.«
Haben Sie das geschrieben ?
Nein, die »Frankfurter Rundschau«.
Gott, es hat viele Schriftsteller gegeben,
die jahrelang nichts veröffentlicht haben, oder sie waren klug genug,
im rechten Zeitpunkt zu sterben. Es bereitet mir Unbehagen, daß
Leute fragen : Wann kommt der nächste Roman ? Aber Tatsache ist,
daß ich gerade an einem sitze. Er heißt »Das Schiff«.
Leider gefällt er mir nicht. Ich hätte ihn längst aufgegeben,
wenn Siegfried Unseld, mein Verleger, ihn nicht unbedingt haben wollte.
Ich hatte eine Schiffsreise gemacht und Unseld, als ich zurückkam,
erzählt, was mir alles passiert war. Er hat sich halb totgelacht.
Angekündigt haben Sie schon viele
Romane, auch Titel bekanntgegeben, »In Staub mit allen Freunden
Brandenburgs«, »Tasso«, »Ein Maskenball«
...
Ja.
1970 wollten Sie den Untergang Europas
beschreiben.
Daran kann ich mich nicht erinnern.
Finden Sie keinen Sinn mehr in der literarischen
Arbeit ?
Das wäre kein Grund, damit aufzuhören,
denn sinnlos ist alles. Würde ich ein normales Leben führen
mit einem normalen Beruf, fände ich das nicht weniger sinnlos. Einen
Sinn erwarte ich nicht. Das Schreiben ist gelegentlich ein Rettungsboot
im Meer der Sinnlosigkeit.
Ertragen Sie es zu leben, ohne zu schreiben
?
Sehr gut sogar. Es gibt Tage der Melancholie,
aber die können auch schön sein. Ich müßte es machen
wie Thomas Mann, der sich jeden Morgen um acht an den Schreibtisch setzte,
auch wenn er keine Lust und keine Einfälle hatte. Dazu fehlt mir
die Disziplin. Ich halte Arbeit für einen Fluch im biblischen Sinne.
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen. Es
ist eine uns aufgebürdete Last. Damit müssen wir fertig werden.
Ihr Verleger zahlt Ihnen monatlich eine
gewisse Summe, die das, was durch Ihre Bücher hereinkommt, weit übersteigt.
Das ist richtig.
Haben Sie kein schlechtes Gewissen ?
Nicht im geringsten.
Wissen Sie, wie Ihr Verleger darüber
denkt ?
Ich habe mit ihm nie darüber gesprochen,
er auch nicht mit mir.
In der Zeitung stand, er erwarte von
Ihnen den deutschen »Ulysses«.
Um Gottes willen, reden Sie ihm das bloß
nicht ein.
Nach den Gesetzen der Marktwirtschaft
sind Sie für ihn ein Verlustgeschäft.
Was geht mich die Marktwirtschaft an ? Manche
Schriftsteller haben das Geldproblem schon mit der Geburt gelöst.
Flaubert, Proust, Gide waren Erben. Das gibt es auch. Musil war in einer
ähnlichen Lage wie ich. Dem ging es sogar noch schlechter. Rowohlt
jammerte dauernd, was Unseld nicht tut, daß er Herrn Musil sein
Leben lang finanzieren müsse. Ein Autor ist für einen Verleger
eine Investition va banque. Irgendwann kommt das Geld wieder herein, in
manchen Fällen erst nach dem Tode. Aber so viel bekomme ich gar nicht.
Ich hätte gern mehr Geld zur Verfügung. Ich möchte zum
Beispiel, wann immer ich will, nach New York fliegen können.
Dazu müßten Sie Ihren Roman
fertigschreiben.
Das sehe ich eben nicht ein.
Wie viele Seiten haben Sie schon ?
Ungefähr hundertfünfzig.
Das reicht doch ! Jetzt lassen Sie das
Schiff einfach untergehen, und Unseld ist selig.
Sie haben recht. Das habe ich mir auch überlegt.
Stimmt es, daß Sie in jungen Jahren
darauf versessen waren, besonders dicke Bücher zu schreiben ?
Ja, das war kindisch. Ich war Redakteur
beim Berliner Börsen Courier und hatte ein Buch begonnen, »Memoiren
eines Neunzigjährigen«. Das Manuskript ist im Krieg leider
verbrannt. Meine Vorstellung war, mich morgens wie ein Sklave an die Arbeit
zu setzen und nachmittags das Leben eines Bohemiens zu genießen.
Mein erster Roman, »Eine unglückliche Liebe«, ist so
entstanden. Das war 1933, in diesem entsetzlichen Unglücksjahr, in
dem aber noch ziemliche Freiheit herrschte. Die meisten glaubten, daß
alles nicht so schlimm werden würde. Ich glaubte das nicht. Ich wußte
sofort, daß Hitler Krieg machen würde.
Haben Sie das geschrieben ?
Das war nicht mehr möglich. 1934 bin
ich nach Holland in die Emigration gegangen. Der Lektor meines damaligen
Verlegers Cassirer, Max Tau, kam zu mir und bedrängte mich, einen
zweiten Roman zu schreiben. Daraus wurde »Die Mauer schwankt«.
Das Buch beginnt mit einer Schilderung tyrannischer Zustände in einem
Balkanland. Also, das war schon deutlich.
Trotzdem haben es die Nazis geduldet.
Weil es keiner gelesen hat.
Das stimmt nicht. Es wurde sogar neu
aufgelegt.
Ja, weil Cassirer Jude war und sein Verlag
aufgelöst wurde. 1939 kam das Buch unter dem blöden Titel »Die
Pflicht« neu heraus. Mir war das nicht recht. Aber was hätte
ich tun sollen ?
Warum sind Sie 1938 nach Deutschland
zurückgekehrt ?
Aus finanziellen Gründen. Die Einnahmen
aus meinen Büchern durften nicht ausgeführt werden, und in Holland
verdiente ich nichts. Später hat man behauptet, ich sei bei Kriegsausbruch
freiwillig zu den Fahnen geeilt. Aber ich war nicht einen einzigen Tag
Soldat. Also, das ist eine glatte Lüge. Ich habe mich wie andere
Autoren beim Film untergestellt und Drehbücher geschrieben. 1944,
als man verlangte, ich solle einen Filmstoff auf Parteilinie trimmen,
bin ich untergetaucht. Das letzte Kriegsjahr habe ich illegal in einem
Keller verbracht.
1982 schrieb Karl Prümm in der
Literaturzeitung »Schreibheft« : »Die Unerbittlichkeit,
mit der Koeppen bis heute die Verleugnung und Verharmlosung der Nazivergangenheit
bekämpft, ist gewiß entscheidend geprägt durch die schmerzhafte
Erkenntnis, wie nahe die eigenen Wunschbilder an die verführerische
Seite des Nationalsozialismus herangerückt waren«.
Verzeihen Sie, aber dieser Mann ist ein
Idiot.
Er meint, Sie seien der »Faszination
des Faschismus« erlegen. Ihr Roman »Die Mauer schwankt«
enthalte »nationalistische Phrasen«.
Das ist eine grobe Verleumdung. Keine Zeile
in diesem Buch rechtfertigt eine solche Behauptung.
Zum Beweis wird folgende Stelle zitiert
: »Draußen geschahen die Kämpfe. Aus den Kämpfen
würden die Werte kommen. Und mit den Werten vielleicht das lebenswertere
Leben.«
Ja, so denkt meine Romanfigur. Aber die
ist von mir durchaus kritisch gesehen. In Heinrich Manns »Untertan«
wimmelt es von nationalistischen Phrasen, aber die spricht nicht Heinrich
Mann, sondern die Figur, die er erfunden hat. Solche Vorwürfe sind
lächerlich. Kästner hat man vorgeworfen, er sei unter den Nazis
am Kurfürstendamm gesessen und habe Sekt getrunken. Dabei war Kästner
durch sein Gedicht »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten...«
der in Deutschland am meisten gefährdete Mensch. Die Nazis wollten
ihn hängen. Daß er trotzdem blieb, ist eine besonders mutige
Haltung.
Haben Sie je daran gedacht, daß
Regime aktiv zu bekämpfen ?
Sollte ich Bomben legen ?
Zum Beispiel.
Das ist nicht meine Art. Ich kann mit Bomben
nicht umgehen. Außerdem halte ich Attentate für sinnlos, weil
sie den Gang der Geschichte nicht ändern können. Mein Widerstand
war, charakterlich bedingt, passiv. Ich habe nichts für die Nazis
getan, und ich habe vieles nicht getan, was von einem deutschen Bürger
damals erwartet wurde.
Haben Sie jemals Schuld empfunden ?
Ja, in einer bestimmten Situation in meinem
privaten Leben.
Ihrer Frau gegenüber ?
Ja.
Sie war Alkoholikerin.
Ja, sie konnte zuletzt nicht mehr auf den
Beinen stehen. Da habe ich sie in eine Klinik einweisen lassen. Ich habe
sie weggegeben. Das machte mir Schuldgefühle.
Aber es war die einzige Möglichkeit.
Trotzdem. 1985 ist sie gestorben.
Wissen Sie, warum sie getrunken hat
?
Das habe ich nie erfahren. Sie trank bereits,
als ich sie kennenlernte. Sie war sechzehn Jahre alt. Ich traf sie kurz
nach dem Krieg. Wir feierten ihren Geburtstag. Damals fand ich ihr Trinken
noch lustig. Ich wußte nicht, daß es ein Leiden war, eine
Krankheit.
Hat die Trinksucht Ihrer Frau Sie am
Schreiben gehindert ?
Diese Frage beantworte ich eigentlich nicht.
Ich liebte diese Frau. Natürlich gab es rein praktisch Verhinderungen.
Manchmal habe ich mir ein Zimmer in einem Hotel genommen, wenn ich in
der Wohnung nicht schreiben konnte. »Das Treibhaus« ist zum
größten Teil im Bunkerhotel unter dem Stuttgarter Marktplatz
entstanden.
In diesem Buch gibt es eine Frau, die
trinkt, weil sie den Gedanken an die Schrecken des Krieges nicht aushält.
Das war bei meiner Frau nicht der Fall.
Wie lenken Sie sich von der Verzweiflung
ab ?
Ich lenke mich überhaupt nicht ab.
Das will ich nicht. Ich würde niemals zur Flasche greifen, um mich
von einer Weltfurcht, einer realen oder eingebildeten, abzulenken. Ich
trinke, weil es mir schmeckt, hauptsächlich Whisky. Aber ich bin
nicht süchtig. Ich halte mich auch nicht für einen Gescheiterten,
wie manchmal zu lesen ist. Warum auch ? Das Scheitern ist ein Thema in
meinen Romanen. Auf mich ist das nicht übertragbar.
Es gibt Äußerungen von Ihnen,
die einen anderen Eindruck erwecken.
Man sagt so viel im Laufe der Jahre.
In einem Gespräch mit Christian
Linder haben Sie von »tiefen Depressionen« gesprochen, von
der »Unfähigkeit, mit dem Leben fertig zu werden«.
Mag sein. Man hat auch geschrieben, daß
man sich um mich kümmmern müsse. Das hat mich geärgert.
Sie wollen kein Mitleid.
Nein, absolut nicht.
1961 erschien Marcel Reich-Ranickis
berühmter Artikel »Der Fall Wolfgang Koeppen«, in dem
er schlechte Kritiken für Ihr Verstummen verantwortlich machte.
Ja, aber so schlecht waren die Kritiken
gar nicht. Das ist eine Legende. Ich war, als dieser Artikel erschien,
in Athen und kaufte mir dort die Zeitung. Als ich die Überschrift
sah, dachte ich, was hat er denn jetzt entdeckt ? Habe ich vielleicht
silberne Löffel gestohlen ?
Sie haben andere Gründe für
Ihr Nicht-Schreiben angegeben.
Ja.
Die Überflutung durch Schreckensberichte,
die aus dem Fernsehen kommen.
Unter anderem.
»Die immerwährende Information,
die Public Relations des Todes, das Fernauge im Bett läßt den
Erzähler verstummen ... Im Meer der unerhörten Ereignisse ertrinken
Autor und Leser.«
Ja. Ich sehe mir täglich die Sieben-Uhr-Nachrichten
an.
Peter Handke hält das für
einen Fehler. Er ist stolz darauf, sein Schreiben zu retten, indem er
die Weltereignisse draußen läßt.
Das ist die Sache von Peter Handke.
Ist Literatur so wichtig, daß
man sie auf diese Art schützen muß ?
Ich bewerte das nicht. Ich würde, wenn
ich nicht fernsähe, aus den Zeitungen wissen, was vor sich geht.
Aber Sie machen es nicht zum Stoff Ihrer
Bücher.
Nein, doch täte ich es, wäre das
sich eine warnende Stimme. Ich würde schreiben, daß sich die
Greuel, die gerade in Jugoslawien geschehen, nicht wiederholen dürfen.
Was würde das ändern ?
Nichts.
Das Böse ist nicht aus der Welt
zu schaffen.
Nein.
Hegel hat es als nötige Durchgangsstation
zum Guten bezeichnet.
Das gefällt mir sehr gut. Aber selbst
in diesem Satz verbirgt sich ein Vorwurf. Ich halte das Schreiben für
eine Tätigkeit, zu der auch Moral gehört. Das heißt nicht,
daß man sich positiv äußern muß. Man kann auch
etwas Pessimistisches schreiben. Die Moral, die ich meine, ist heimlich,
eine ganz kleine Giftpille, kein Kaiserdenkmal.
Das sind jetzt Worte.
Ja, soll ich singen ?
In Ihrem Roman »Der Tod in Rom«
vergleichen Sie den Menschen mit einem Esel. Sie schreiben : »Zum
Glück hat man ihm Scheuklappen angelegt, damit er nicht merkt, daß
es nie voran, sondern immer im Kreise geht, daß er keinen Wagen,
sondern ein Karussell bewegt, und vielleicht sind wir eine Belustigung
auf dem Festplatz der Götter.«
Eine gelungene Stelle.
Ja, aber was drückt sie aus ?
Ich sehe darin ein gewisses Mitgefühl
mit dem Esel.
Nicht auch eine Anklage gegen die Götter,
die sich an seinen Qualen erfreuen ?
Nicht unbedingt. Ich sage nicht, Gott ist
schuld. Die Frage, ob Gott recht tut, ist offen. Vielleicht kommt er gegen
das Entsetzliche, das er geschaffen hat, nicht mehr an. Vielleicht ist
er bestürzt über die eigene Schöpfung. Die Freude ist ihm
vergangen. Aber das Karussell dreht sich weiter.
Wer so denkt, ohne sich abzulenken,
der wird verrückt.
Ich riskiere den Wahnsinn.
In einer Wiener Zeitung war kürzlich
zu lesen, Sie hätten sich in ein neunzehnjähriges Mädchen
verliebt, das Sie heiraten möchten.
Darauf gehe ich ungern ein.
Trotzdem die Frage : Ist Liebe nicht
auch eine Ablenkung im höchsten Sinne ?
Dazu muß ich leider sagen, daß
mich dieses Mädchen zeitlich nicht sehr in Anspruch nimmt. Ich treffe
es manchmal. Aber eigentlich ist die Geschichte schon wieder vorbei. Mir
wäre lieber, wenn Sie das weglassen könnten. Von einem Mann
in meinem Alter wird erwartet, daß er seine Gedanken auf anderes
richtet.
Auf den Tod.
Ja.
Wollen Sie lange leben ?
So lange wie möglich.
In einer kurzen Erzählung, die
1960 erschien, beschreiben Sie, was Sie im Jenseits erwarten.
Im Grab, nicht im Jenseits.
Da heißt es : »Nichts wird
sein, kein Schmerz, keine Angst ... Keine Engel. Kein Teufel. Nichts.
Nur daß du es weißt.«
Ja, grausig. Der Tod ist ein Nichts, aber
dieses Nichts wird uns bewußt sein.
Woher wissen Sie das ?
Ich weiß es nicht. Es ist mir eingefallen.
Es muß ja nicht stimmen.
Haben Sie es geträumt ?
Nein.
Seltsam.
Ja, ich finde, ein Schriftsteller muß
etwas geheimnisvoll bleiben. Ich war einmal zu Besuch bei meinem ersten
Verleger, Bruno Cassirer, der später nur noch der Jude Cassirer war.
Der hatte ein Traberpferd, und da ich mit Pferden gut stehe, sprach ich
es an. Cassirer stand daneben und sagte : Sie haben mit meinem Pferd gesprochen.
Sonst schweigen Sie immer, ich weiß gar nichts von Ihnen, aber mit
meinem Pferd sprechen Sie. Auf diese Weise kam es zu einem Vertragsabschluß,
worüber ich natürlich sehr glücklich war.
Schriftsteller zu sein, war von Kind
auf Ihr Wunsch.
Ja, als kleiner Junge habe ich ein Schild an meine Tür gehängt.
Darauf stand : Herr Tod, Literat.
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