Eine Renategeschichte
von Martin Jordan

     XVIII. Der Lebensbund (Teil 1)

     Die Renate ist reingekommen. Sie hat Faltenrock, Wollumhang und Mephistoschuhe angehabt und ihre Haare zu einem vernünftigen Zopf geflochten. »Ja Mensch Renate«, habe ich gesagt, weil, ich hab jetzt gelernt, daß man gleich eine kommunikative Atmosphäre schaffen kann, wenn man herzlich auf die Menschen zugeht und sich nicht erst lange beschnuppert, sondern gleich offen auf alle zugeht, »Ja Mensch Renate alte Nuß, wie siehst du denn aus ?«
     Renate hat mir einen mitleidigen Blick zugeworfen. Dann hat sie eine Flasche Sauerkrautsaft herausgeholt und einen Haufen Bücher und Broschüren. Dann hat sie gefragt, ob ich den Lebensbund kenne. Ich war immer noch lutig und habe gesagt, ja klar, den mit den drei Buchstaben aus den Kreuzworträtseln. Normalerweise wäre Renate ja jetzt schon in die Luft gegangen. Weil sie aber immer noch milde gelächelt hat, bin ich dann auch ernst geworden und habe gesagt : »Nee du, echt, das interessiert mich irgendwo wirklich total, erzähl doch mal, muß ja total toll sein irgendwie, oder ?« »Du brauchst nicht diese verquaste Alternativensprache zu benutzen. Das hat keine Tiefe. Also hör zu. Du kennst doch den Professor Hilmar Kurzbein aus Tübingen, der das Schulwesen um 1910 dahingehend reformieren wollte, daß es keine Unterscheidung mehr zwischen Lehrern und Schülern geben sollte, daß also alle voneinander lernen und miteinander leben sollten, viel mit biologischem Landbau, Freikörperkultur, Naturismus und so. Und der hat damals eben auch gesiedelt. Das war der Lebensbund. Den gibt es noch und ich will da hingehen« Ich bin total überrascht gewesen. Mir ist nämlich tatsächlich wieder eingefallen, wer der Professor Kurzbein gewesen ist. Der hatte die Jugendherbergen und die Schullandheime mit erfunden, war ein Freund von Rudolf Steiner gewesen, hatte in Tübingen und Freiburg Theologie und Biologie gelehrt und war schließlich 1934 wegen Paragraph 175 in den Knast gewandert, wo er sich dann aufgehängt hat. Vorher hat er aber sein Dorf Lebensbund Sigrune in eine Stiftung umgewandelt, die den Nazis dann auch nicht groß lästig geworden ist und die es deshalb immer noch gibt. »Ja, Renate, meinst du denn nicht, daß das reichlich verstaubte Blut- und Boden-Ideen sind, die dort vertreten werden ?« habe ich vorsichtig gefragt. »Wie kann das Gesetz der ätherisch-germanischen Überseele des Lichtes verstauben ?« hat die Renate gefragt. »Christus, Goethe und Kurzbein sind sehr, sehr alte Seelen, tiefverwurzelt im Licht und im Sein ihrer unsterblichen deutschen Wesenheit. Ich spüre, daß Lena, Basti und ich sehr, sehr eng verbunden sind mit diesen Lichterscheinungen« »Ja«, habe ich gesagt, »und was willst du mir jetzt vermitteln, was habe ich damit zu tun ?« Da hat die Renate gesagt, ich solle in ihre alte Wohnung gehen und alle Bücher rausräumen und zum Antiquariat bringen. Weil, wenn man viele Bücher hat, kommt eine schlechte Strahlung auf, weil die Seele all die Anfechtungen und Einflüsse, die selbst vom geschlossenen Buch ausgehen, nicht vertragen kann. Ein Raum müsse frei und licht sein. Und das Geld, das der Antiquar zahle, möglichst mindestens 2000 DM, müßte in ihrem Namen auf das Konto vom Lebensbund eingezahlt werden. Da wären doch wichtige soziologische und psychologische Werke dabei, da müßte doch so viel zu erzielen sein. Und sie wolle gleich los mit dem Saab Turbo, obwohl, Autos wären da nicht so gern gesehen.
     Ich bin sehr skeptisch gewesen und habe deshalb die Einladung zu dem Wintersonnenwendfest des Lebensbund gerne angenommen.

***