Anatole France
über Verstand und Faulheit Verstand
ist eine Heimsuchung, das schlimmste Geschenk, das der Weltschöpfer
einem Erdenbürger verleihen kann. Er dient nur dazu, um uns unglücklich
zu machen, denn er ist vor allem Begriffsvermögen. Begreifen heißt,
unglücklich sein wollen; wir lernen dadurch viele und neue Arten
des Leidens erkennen. Das Begriffsvermögen hat Grenzen, die wir rasch
erreichen. Aber lägen diese auch in unendlicher Ferne — man
sieht alsbald ein, daß das Geheimnis, dessen Lösung mit Leidenschaft
erstrebt wird, niemals gelüftet werden kann. So schleppen wir die
Last unserer nicht befriedigten Erkenntnis ohne Zweck und Vorteil mit
uns weiter; stets sind wir von einem Wissensdurst gepeinigt, der doch
immer ungestillt bleibt. Im Verkehr mit den Mitmenschen — der ohnehin
genug Schwierigkeiten bietet — ist der Verstand weder eine Wohltat
noch ein Glück. Da er nur ein seltenes Gut ist, wird man seinethalben
beneidet, gefürchtet oder verachtet. Wenn ein Mensch nur einige Körnchen
davon besitzt, unterscheiden sich seine Gedanken und deren Ausdrucksweise
unliebsam von denen der anderen. Infolgedessen wird man verdächtigt
und bald verwünscht. Das höchste Glück besteht darin, dumm,
ehrlich dumm zu sein, was übrigens eine gewisse Geschicklichkeit
keineswegs ausschließt. Denn man kann dumm und pfiffig zugleich
sein, was sogar sehr oft der Fall ist. Dann erreicht man schöne Erfolge
und dadurch die Wertschätzung seiner Nebenmenschen, die allerdings
in Wahrheit nicht viel bedeutet. Vielleicht ist es besser, intelligent
zu sein, aber man läuft dann Gefahr, für einen Narren gehalten
zu werden. *** |