Anatole France

über Verstand und Faulheit

     Verstand ist eine Heimsuchung, das schlimmste Geschenk, das der Weltschöpfer einem Erdenbürger verleihen kann. Er dient nur dazu, um uns unglücklich zu machen, denn er ist vor allem Begriffsvermögen. Begreifen heißt, unglücklich sein wollen; wir lernen dadurch viele und neue Arten des Leidens erkennen. Das Begriffsvermögen hat Grenzen, die wir rasch erreichen. Aber lägen diese auch in unendlicher Ferne — man sieht alsbald ein, daß das Geheimnis, dessen Lösung mit Leidenschaft erstrebt wird, niemals gelüftet werden kann. So schleppen wir die Last unserer nicht befriedigten Erkenntnis ohne Zweck und Vorteil mit uns weiter; stets sind wir von einem Wissensdurst gepeinigt, der doch immer ungestillt bleibt. Im Verkehr mit den Mitmenschen — der ohnehin genug Schwierigkeiten bietet — ist der Verstand weder eine Wohltat noch ein Glück. Da er nur ein seltenes Gut ist, wird man seinethalben beneidet, gefürchtet oder verachtet. Wenn ein Mensch nur einige Körnchen davon besitzt, unterscheiden sich seine Gedanken und deren Ausdrucksweise unliebsam von denen der anderen. Infolgedessen wird man verdächtigt und bald verwünscht. Das höchste Glück besteht darin, dumm, ehrlich dumm zu sein, was übrigens eine gewisse Geschicklichkeit keineswegs ausschließt. Denn man kann dumm und pfiffig zugleich sein, was sogar sehr oft der Fall ist. Dann erreicht man schöne Erfolge und dadurch die Wertschätzung seiner Nebenmenschen, die allerdings in Wahrheit nicht viel bedeutet. Vielleicht ist es besser, intelligent zu sein, aber man läuft dann Gefahr, für einen Narren gehalten zu werden.
     Wir vergrößern unsere Leiden und unseren Kummer durch Nachdenken und Überlegung. Hiedurch empfinden wir einen doppelten Schmerz, den wirklichen und zugleich dessen Widerspiel, das uns der Verstand zeigt. So habe auch ich einen Teil meines Lebens damit verbracht, meinen Schmerz zu verdoppeln; seitdem ich aber alt geworden bin, begnüge ich mich damit, einmal Leid zu empfinden.
     Die Arbeit ist etwas Unnatürliches. Darin hat die Bibel recht. Die alte morgenländische Fabel, welche die Nomaden Kleinasiens sowohl in heiteren als auch in traurigen Stunden bezauberte, hat das Peinvolle der Arbeit richtig erkannt. ›Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen ...‹ Das ist wahr, allzu wahr; denn es bedarf immer mehr des Schweißes, und das Brot wird immer härter. Die Faulheit allein ist göttlich — sie wurde von den Dichtern besungen. Sie ist die Schöpferin glücklicher Träume und lustvoller Gedanken. In der heutigen Zeit der Demokratie verzehrt uns die Gier nach Geld; dies nimmt uns immer mehr die Freude an der Faulheit. Bald wird sie ganz verschwinden — dann aber werden auch alle die herrlichen Dinge verschwinden, die uns entzückt haben. Wir haben verlernt, faul zu sein. Ohne den Einfluß der Frau A. von C. hätte ich niemals etwas gearbeitet. Man hat mich immer zur Arbeit zwingen müssen. Wenn ich ein unbeschriebenes Blatt Papier vor mir sehe, macht mich der Anblick krank.

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