Nachtrag aus den Jahrbüchern der Einsamkeit
XXX
Eine handvoll Tode wellensitticht
an fetten Antennenfingern und weidet vor den Terrinen für Sputniksignale.
Ein Tod und eine Todin — sehr jung das Pärchen wohl noch und
fruchtbar — lugen aus dem Taubenschlag der aufgemotzten Kate Baltrumer
Weg. Deutlich ausgewachsen hingegen und behende krallt ein anderer Tod
zwischen Mönchen und Nonnen, und lochschwarz ist sein Nachbar, der
auf dem Parkdeck von Aldi plustert. Hätten sie Namen und ich wüßte
die, ich würd vielleicht einen Finger krümmen und sie rufen
zu einem frommen tête-à-tête.
Doch ich hab kaum den Namen für mich
selbst.
Die Gargouilles, alle wie sie da warten
und stumm zum Sterben animieren, werfen gelangweilt traurige Blicke ins
Rund.
Ist schon frühlinghaft heiter, so hoch
oben, direkt unter lauter knatternden blauen Bändern zu wohnen und
die Welt als Spuknapf zu betrachten.
Ich sag nicht nein
Ich sag nie nein Insprinc
haptbandun ! inuar uigandun !
Der 13. Frimaire des Jahres VIII ! Dann
am 20. Mai 1875 die pariser Konvention, verabschiedet von Ingenieuren
des Wissens ! Hingebungsvoll — wie alles, was zum Scheitern verurteilt
ist — liebe ich die Idee des système métrique décimal,
daß nämlich jedes Stoffliche urbar zu machen sei. Was sind
verschrobene Maße auf skurrilen Inseln, vigesimal zählende
Azteken oder zwölffingrige Regenwaldbarbaren gegen ein anständiges
Countdown ?
Vor meinen Füßen album graecum
und zerkokelt kullert das Plastikflaschenwrack rinnsteinern, eine kunststoffgeronnene
Miniatur der seligen Challenger, die es einst in einer Skorpionwolke verblühte.
Der Hauseingang hingegen, durch den es mich vor Jahresfrist noch in die
Wohnung Bergers führte, hat den abendlichen Brandanschlag rußversehrt
überlebt. Die kleine Zündelei war, weil Fortuna Düsseldorf
ihrer samstäglichen Gewohnheit nachgegangen ist und verloren hat.
In sich schlüssig. Wär aber auch gewesen, hätte Fortuna
gewonnen.
Das war ein Freund.
Ich hatte mit Freund, der konsequenten Kreatur,
letzten Monat erstmals das Vergnügen, als wir an den Postbeulen um
die frische Bremer Nachrichten, die ein mit Mutter auf 50 Quadratmetern
der Symbiose pflegender Finanzbeamter starrsinnig als einziger im Beinhaus
hält, rangelten — Kreatur des Sportteils halber, ich halber
der Kurse der Bremer Wollkämmerei und der endlich publizierten Sparkassenbilanz.
Wie dann zutage trat, begehrte Kreatur mit freundlicher Unterstützung
von Schlagring und Krommbacher das Blatt, weil von Kindesbeinen an gewohnt,
und ich, weil von kleinauf den Kurier, die marktbeherrschende
Alternative. Variatio delectat. Das zwar, aber ich sah kindisch die kindische
Wirklichkeit, gab nach und nahm, nach kurzem Wägen, den gegnerischen
Standpunkt ein und Stenderhoffs Kurier. Kreatur wars zufrieden, zeigte
zwei intakte Zahnleisten und stellte sich vor : »Kein Problem alles
gut« Wir plauschten dann Speichelfäden : »Kein Problem
alles gut« und ich : »Kein Problem. Alles gut« Privat
wirkt K. P. Allesgut zwei über Parterre, ziert sich mit extravagantem
Meckischnitt schon seit lange bevor es Tatoos gab und mindestens einem
Glasauge, nennt mir Meister und scheint mich eine typische Erscheinung
für zweite Stockwerke und Ligen. Ausgang seiner Jugend rüstete
Substitut K. P. Allesgut im Dienste der Bremer Lagerhausgesellschaft Gabelstaplern
zu. Seither träumt er davon, mal den Hauseingang abzufackeln,
den er eigentlich meint, den nämlich des Schweins von Vorarbeiter.
Solange darfer aba hier wohnn von Stütze. Fehln tun ihm noch Kinderwagn,
Rassl und Frau. Da isser im Moment noch nich so für. Ersdas Horn
abstoßn, harhar. »Also ich sach ma : kein Problem alles gut«
So sei es.
Meinen Vorwurf muß ich mir gefallen
lassen : ich benehme mich wie eine wandelnde Kontaktanzeige : sprech-
und hörsüchtig. Dabei kure ich grad : Clemens ist dieser Tage
nicht verfügbar. Der Arme hat sein Leben verwirkt und arbeitet rechtswirksam
gewordene Tagessätze ab auf den Gütern seiner Großtante
in der Grafschaft Hoya. Erster Senat und Geschworene mit beinah bestandener
Nichtabiturientenprüfung befanden ihn schuldig des unberechtigten
und wiederholten Herumhängens in Teestuben. Noch die Nacht vor der
Verhandlung hatten wir einen feinen Rettungsplan ausgeklügelt, aber
mich, den Hauptzeugen der Anklage, ließ der Gerichtsdiener nicht
in den Saal, hatte ich doch kein Bargeld in der Tasche. Das ist eine Eigenart
nackter Männer.
Wo sind sie hin, die anderthalb Liter brauner
Limonade ? Ich strafe das mißratene Behältnis mit einem ausgefeilten
Tritt. Gleich neben den stummen Resten der fanaligen Tat Allesguts ein
Folgeschaden im Werden : meine Lieblingsstraßenlaterne plinkt eine
Messerklinge an. Höhe des Nabels der Leuchte die Scheitel komprimierter
Gesellen aus Nahost. Die gedrungenen Libanesen lehnen selbdritt an ihr
herum und projektieren die nächste Schutzgelderpressung. Ich drehe
ab — bei mir ist nichts zu holen. Ich stehe nicht zur Verfügung.
Ich weiß noch was, wo nichts zur Verfügung
steht — da steh dann nächsten Tag : ich, ein unbarmherziger
Paparazzi :
XXXI
am Hillmannplatz am Bargeldautomaten
: ein Desparater lungert und fummelt und tut als lägs an allem Möglichen,
daß sich kein Geld aus der Wand spuckt, nur daran nicht, daß
ihm keins zukommt. He, Kerl, gib auf, laß dein Herz voll werden
mit Dankbarkeit, daß dein Vater verzichtet, seine Wünsche ins
Wirkliche zu setzen. Leicht wärs ihm, auf Wolken der Welt zu künden
: KEINE APANAGE MEHR FÜR DEN DA
, ÜBERGEORDNETE MÄCHTE SIND SEINER
UND SEINER
NUTZLOSIGKEIT MÜDE GEWORDEN. MEIN
HOFTROSS HAT SICH BESCHWERT : ER WOLLTE ENTRÜMPELT
WERDEN. UND ICH WILLFUHR DEN NIEDRIGSTEN
DER GESELLEN. ODER HAB ICH DEN DA
SCHLICHTWEG VERGESSEN ? VIELLEICHT NUR DIESMAL ?
VIELLEICHT GAR BEREUE ICH SCHON LÄNGST ? IHR
VÖLKER UND BAHNHOFSVORPLATZPASSANTEN,
LEST DIE SCHRIFT VON JÖRG
JEREMIAS : DIE REUE
GOTTES — ASPEKTE ALTTESTAMENTLICHER
GOTTESVORSTELLUNG. Hei, wie lustigs Närrlein
am Ohrring zupft. Füße tappt. Knöchel wilde Rhythmen an
Gürtelschnallen trommeln läßt. Und es spielend Gleichgewicht
hält während es lässig das Standbein wechselt und Schuppen
kratzt, Augen reibt, Stirnfalten nachzieht. Und nun Gelassenheit, sehr
gut, Fäuste ins Gehüft gestemmt : das ganze Repertoire. Frißt
der Robot die Karte nicht, was ? Glasfaserleitung nach Hamburg gestört,
wie ? Geheimnummer entfallen ? Ja, und wo sind die denn hin, die goldenen
Brücken der Esel ? Oder will ein neuer Gipfel der Hintertriebenheit
den Anschein erwecken, das Publikum werde hinters Licht geführt,
erliege der Feldstudie eines Soziologen ? Psychologen ? Eines Empirischen
Kulturwissenschaftlers gar ? Aut vel : deutet der Ohrring auf Mittäterschaft
in einer der schmerzbereitendsten und grauenmachendsten kriminellen Vereinigungen,
die — neben der katholischen Kirche — nur ausdenkbar : einer
Freien Theatergruppe ?
Ich mag nichts entscheiden.
Im Appendix vom Kasper sammelt sich Entsatz.
Heut ist der weder blind noch sonstwie behindert, sondern zweifelsfrei
der offizielle Gesandte der Gilde der Betretenen, ein Revenant, der Stillverzweifelte
von vorgestern. Vielleicht auch gestern. Da war ich aber nicht dagewesen.
Demütig sieht er zu Füßen des verebbenden Gerieres, mit
dem Kasper langsam das öffentliche Eingeständnis der Vergeblichkeit
seiner Bemühungen einleitet. Dann endlich steht Herr Revenant da,
eilig selbst zu scheitern, ein flüchtiger Gast geneigten Genicks
an den Stätten der Entscheidung. Verweile doch, du bist so schön.
Ums Eck Verwandte : deutsch Rasierte kauern
beim prima Würfelspiel. Menschen, so viele Falschnamen wie Narben
auf der Backe. Da jucken sich welche Keimdrüsen und kräuseln
das schwarze Haupthaar. Haldol, frisches Haldol. Welche auch
bespucken leidenschaftlich Fußwege. Ich guck ungerührt das
graue Treiben an. Mein Führungsoffizier wird heut eh nichts kaufen
wollen.
Später wird selbst mir ein Regen zu
indezent. Zersplittert liegen Wasser in den Wallanlagen und sind bösartig.
Es ist so laut, daß kein Schrei von Verzweiflung und Widerstand
hörbar wär. Ausgesprochenes Wetter mag ich nicht. Keines. Zufall
ist der Schnittpunkt eines Ereignisses.
XXXII
Überall Versehrte
und senile Halskrausenträger, paar Kilo lose Quergeschnittenes zugebaut
und befestigt von Teilen, die ein zauberhaftes elektronenzirpendes Zusammenspiel
entfalten — und dann bewegt sich was. Schwieriger, als verwucherte
Papamobile zu erdenken, muß deren Taufe sein. Teufel, wie heißt
sowas ? Ich steh, Mandelmagnum unter die linke Achsel geklemmt, an der
Kasse, versuche Akronyme zu lesen aus den Zigarettenmarken, deren Etiketten
auf einem stahlummantelten Kasten kleben. Dieser Markt ist fortschrittlich,
speerspitzlich : Ausgabe nur noch über einen Knopf unter Hoheit des
Kassiers. Schließlich suche ich Schatzkarten in der Maserung des
Bodens, damit mein Auge das Defilee batteriebetriebener Siechthümer
vor mir nicht abnehmen muß. Das Volksvermögen befindet sich
in den Händen nicht der oberen Zehntausend, sondern der Gehhilfewesen.
Mal eines, ja gut, aber in Häufung ? Und Krüppelbetriebsausflug
zur Ladenkasse ?
Nachbarschaftshilfe find ich gut. Lieber
aber noch als gute Freundschaft hab ich strenge Rechnung. Drei abgelaufene
Joghurts aus drei verschiedenen Börsen bezahlt, Typus marasmus senilis,
gebadet mit schlesischem Odeur und begabt mit der jettatura : eine Unzahl
Münzen plörrt aufs Laufband — das Portjuchhe bleibt am
Leib. Das sind die, die erschlagen aus hafa-Zelten treten, die Zäune
basteln, selbst wenn man ihnen nicht sagt : Mach Zaun. Und dann
die Bons, umständliche Dokumente der Redlichkeit in erregungslos
zitternden Händen.
Bei den Gurken deutet der einbeinige SS-Offizier
gichtig lachend auf das inoperable Wanderschrapnell in seinem Rücken
und keckert : »Sportverletzung« Mit viel Zeit zum Überlegen
disponiere ich kurzfristig um, stehl eine Slipeinlage und zahle das Eis.
Dann Kastenwagen Elektro-Jansen, BMW mit
Schnauzbart in feinem Tuch, Autos auf Bürgersteigen. Ein Fahrrad
marodiert, buckelt Expressgut, schneidiger Stil, halbeierner Sturzhelm.
Einzelhändler klagen und grüßen in Bauchschürzen,
nochmal Autos : nun stoßen die aus Einbahnstraßen und blocken
meinen Gang, grimmig-dumme Bremsen in Kniescheibenhöhe, scheuchen
lassen die sich nicht, dafür leuchtraketen Kippen glühend aufs
Trottoir. Eine eisige Faust, die an einem längstvergessenen Gesicht
hängt, eine Rama-Ausgeburt mit Interesse an bildender Kunst und ständig
wehen Weisheitszähnen, packt mich von hinten und ich schweige : Ah,
wenn man vom Teufel spricht
XXXIII
Guten Morgen Meßmer
! spiralt ein Gesang und erklärt näher : Gibt jeden
Tag Gründe, sich neu zu freun und zu hause zu sein
Nennet mir einen, ihr, die ich zuschanden
gemacht zu wissen begehre.
Wer hier zapft, der weiß bescheid,
kennt sein Handwerk, nimmt sich Zeit ... wer hier schenkt, der liebt das
Beste, Land und Leute seine Gäste ... wer hier einkehrt, kennt sich
aus, ist willkommen, ist zu haus ... Wir führen Gutes im Schilde
Die eklig schmeichelnde Stimme gehört auch nur einem Wurm, der sich
sein Frühstück verdienen will. Aber womöglich will ers
im eigenen Garten nehmen ? Ich bin nicht mehr motiviert, nachsichtig zu
sein.
Nämlich habe ich eine Allianz mit dem
Hunger geschlossen. Und bin zufrieden. Er ist ein mächtiger Verbündeter.
Beim ersten Schritt in den jungen Morgen bin ich umgeknickt und hab mir
den Knöchel verstaucht. Vorräte Nahrung hatte ich nie. Ich schleppe
mich aufs Dach zu den Pechnasen, peter-hillehaft mein Bart, ein großer
Lump schreitet durch die Himmel
Wie stehts draußen ? ... als ob die
Erdachse pulst und schwillt und hitzewallt die Luft ... immer noch die
Tode von gestern. Einer klammerafft jetzt an Bergers Regenrohr und sitzt
vor seinem Aas, treibt schwunghaften Schacher mit Gott, schiebt Schicksaljetons
hin und her und denkt sich : ihr werdet sterben, genau wie die Gesunden.
Dann schmeißt er Bonschen. Ich pflücke einen
Es immer nur zu Anfängen bringen, elenden
Anfängen und irgendwann zur Summe ziehen. Schopenhauer nörgelt
im Quartanten, 1826 : »Die Träume, von denen Hamlet redet,
welche im Todesschlaf kommen möchten, — wollt ihr sie kennen
lernen ? — Blickt um euch ! unsre jetzige Existenz, diese Welt,
dieses Leben; das sind jene Träume«
Wenn ich mir was wünschen dürfte,
ich wünschte mir einen kleinen Willen
XXXIV
ich laufe durchs Leben, als malte ich Pro-Schuschnigg-Parolen
Allerlei fällt in
meine Zahn- und Gedächtnislücken : TikTaks, dritte Lieben —
und so manche Leerstelle selbst. Stumpf ist, was in meinem Kopf spielt,
und doch schmecke ich täglich aus dem brachen Denk- und Empfindungsalete
etwas Beißendes — unbarmherzig, unverklärt. Unerklärt.
Meine Artgenossen erhöht oder erniedrigt, was ihnen vor die Flinte
ihrer Wahrnehmung kommt, zu einer Form des Lebendigen : mir sinds lauter
betätigte Space-Tasten, Vakanzen, überzogen mit dem Natreen
des Tatsächlichen. Soll immer Schlagsahne im Haus sein, TollImPreis
soll sie sein und bei Comet zu haben, 69 Pfennige kosten, ultrahocherhitzt
bei 30 % Fett : für den Fall, daß du doch noch einmal zu mir
findest. Aberwitzige Zeit pflege ich diese Narretei. Inzwischen lebe ich
ohne Kühlschrank. Zumindest ohne einen, der kühlt. Manchmal
kniee ich nachts vor dem offenen Fenster, betaste den kalten Heizkörper,
vergesse die Namen der Sterne und erkundige mich besorgt bei der Dose
Bärenmarke, die auf dem ausgemergelten Torf eines vergessenen Blumenkastens
nistet, nach dem werten Befinden. Na Süßer, wieder ein
Jahr vorbei ? fragt sie und deutet mir mein Elend aus : Ce que
femme veut, Dieu le veut. Die wichtigen Seiten im Buch des Lebens
haben alle eine Eigenschaft : sie fehlen.
Dritter September 1343 a.u.c. — varronische
Rechnung —, 58 Jahre, nachdem der Scythiaminore Dionysius Exiguus
in seiner römischen Klause aufschrak ... nämlich erblickte das
Mönchlein in der Finsternis ein bläulich blinkendes Desiderat,
das rief es und hieß es Erbsen zählen. Spontan verfiel Dionysius
ins Ostertafelerrechnen, entdeckte dabei die christliche Zeit und haute
nur um vier fünf Jahre daneben ... dritter September 1343 a.u.c.,
ein knappes Menschenalter später : Gregors Jungfernpredigt als Papst,
eine Leichenrede auf Rom :
Unser Herr will uns bereit finden und zeigt uns das Elend der ergrauten
Welt, damit wir uns von der Liebe zu ihr abwenden. Ihr sahet, wie viele
Stürme ihrem nahen Untergange vorausgegangen sind; wenn wir Gott
nicht in Ruhe schauen wollen, so sollen wir sein nahendes Gericht unter
schrecklichen Plagen fürchten lernen. Dem Abschnitt des Evangeliums,
den ihr eben höret, hat der Herr dies vorangeschickt : ein Volk wird
sich über das andere erheben, und ein Reich über das andere,
und es werden Erdbeben, Hungersnot und Pest, Schrecknisse und große
Zeichen vom Himmel geschehen. Von all diesemsehen wir einiges bereits
eingetroffen, und das Herannahen des andern fürchten wir. Denn daß
Volk über Volk aufsteigt und die Länder mit Angst bezwingt,
davon haben wir wohl mehr in unseren Zeiten gesehen, als in der Schrift
zu lesen ist. Daß Erdbeben unzählige Städte vertilgen,
habt ihr aus anderen Weltteilen zu oft vernommen; wir aber leiden Pestilenz
ohne Ende. Freilich Zeichen an Sonne, Mond und Sternen erkennen wir noch
nicht, aber daß auch diese nahe sind, schließen wir aus der
Veränderung der Luft. Auch sahen wir ja, ehe Italien dem Schwert
der Langobarden überantwortet wurde, feurige Schwerter am Himmel,
die vom Blut des Menschengeschlechts gerötet waren, welches gleich
darauf verströmt worden ist. Wachet fleißig ob der Abwehr;
wer Gott liebt, soll über der Welt Ende jauchzen; die darum trauern,
sind solche, welche mit dem Herzen in der Liebe zu ihr wurzeln und weder
nach dem künftigen Leben verlangen, noch dieses ahnen. Alle Tage
wird die Welt von neuen Plagen heimgesucht; ihr seht, wie wenige von jenem
zahllosen Volk übriggeblieben sind, und doch geißeln uns täglich
neue Leiden, und werfen uns unvorhergesehene Schläge zu Boden. Die
Welt wird alt und grau und durch ein Meer des Jammers zum nahen Tode gleichsam
hingedrängt
XXXV
Hintergrunds röchelt
ein Film verockerte Farben, ~ 1970, die Raumschiff-Orion-Generation, Dekor
im Versandhausfutur, Phototapeten, was man sich reicht, wonach man fragt
: sind Drinks — in dickkubistischem Kristall, die Hosen mit Schlag,
darüber Monika-Peitsch-Gesichter; röche es, es röche deklariert
abgestanden, miefig und ungewaschen, wie die fiesen speedigen Orgelklänge
Filmmusik. Es hebt an die Feier von Clemensens Wiederkehr bei zweimal
anderthalb Litern Cola — die Absurdität des Volumens hatte
dann doch überzeugt. Clemens versucht auch gleich, die Kuh vom Eis
zu holen :
»Guck mal, schicke Autos ! Und da, das Pummel,
der realistische Drogenabhängige, der schreit Mach mich tot !,
Mach mich tot ! Mach mich tot — der hat Nerven, was ?«
Nun fällt aus einer Talkshow ein schöner Satz : »Wir
sollten ja eigentlich ... aber das ist ja auch unwichtig«
Ein Täter huscht über eine Landesgrenze,
eine Kamera helikoppt über ihm und ich verhafte die üblichen
Verdächtigen. Jean Paul sagt, Verzweiflung sei der einzig echte Atheismus.
Oder sagte er : Junge, mach es wie der da : Rasur überprüfen
und n Offroader gewinnen ?
Kirchenlehrer, Heiliger, erster Mönch
auf dem STUHL. Auch wenn Mommsen, wie jeder Gebildete, was gegen Gregor
hatte — er nannte ihn einen recht kleinen großen Mann : Gregor
war schon o.k. Mein Schutzpatron.
Rom am Tiefpunkt hatte in Gregor den angemessenen
Papst, einen albernen und schriftstellernden Gemeinplatzborn, der stolz
keinerlei Spur antiker Bildung mehr aufwies und mit dem Hinweis, der heilige
Geist sei nicht an die Regeln der Grammatik gebunden, den korrekten Gebrauch
sprachlicher Systeme ablehnte. Die Kaiserliche Bibliothek des Palatin
hat Gregor zündeln lassen, wie der unverdächtige Zeuge Johannes
von Salisbury berichtet, so daß wir heute von den 142 Büchern
des Titus Livius nur knapp ein Viertel lesen können. Eine Vorabparaphrase
des Epigonen Omar, der erst 80 Jahre später seinen Satz zum Thema
hat sagen dürfen. Ich revidiere meine Schmähung der Securitate.
Gregor, ehmals Erster Beamter der Stadt
Rom, flehte zum Vater seiner Patenkinder, dem oströmischen Kaiser
hin, der möge seine Wahl zum Apostolat nicht bestätigen. Doch
findige Römer fingen den Boten ab. Ja, sie kannten ihren Gregor und
besetzten die Stadttore mit Wachen. Nicht faul, versteckte sich Gregor
in einem Weidenkorb und ließ sich von Kaufleuten aus der Stadt schmuggeln.
So eitel, nichtsnutz er auch war — Papst wollte er wohl wirklich
nicht werden. Geschickt hielt Gregor sich zwar verborgen und in der duftenden
Erde des Waldes begraben, doch ist das garnichts gegen die Kraft dreitägigen
Gebets und Fastens seitens Ganzroms und eines unergründlichen Ratschlusses
seitens Ganzgottes. Vollstreckend sirrte irgendwo eine Taube, winselte
ein verzücktes Wildschwein oder wankte eine Lichtsäule oder
eine Roulade mit Flügeln denunzierte pausbäckig : und das stumpfe
Kirchenvolk ertrüffelte Gregor und trug ihn im Triumph auf den Papststuhl
zurück, wo er sich der drohenden Weihe zum Haupt der Freunde des
ans Holz Geschlagenen nicht mehr entziehen konnte.
Ich hingegen saß am Bahndamm und weinte
— wie Clemens behauptete, als er mich fand — ruminierend,
wie er meinte. Dabei lernte ich nur Gregors Auslegung des Evangelisten
Lucas Einundzwanzigzehn auswendig. Welcher Natur mag das Licht gewesen
sein, das Clemens leitete ? Das Licht verbrennender Schuldscheine ?
Diese Gemeinheit, die einen Vers zuvor steht
: Aber das Ende kommt noch nicht sofort. Ätschmann.
XXXVI
Gregor entbetete Trajan
der Hölle und bekam die Auflage, sowas nur ja nie wieder zu tun.
Patzig preßte er einen zweiten Verdammten frei. Strafe muß
sein. Das wissen kränkelnde Gelübdebrecher, Posträuber
in Lateinamerika, renitente Gottessöhne. Gregor durfte wählen
: zwei Tage Fegefeuer oder ein Leben in Gebrechen und Schmerz. Gregor
wählte letzteres. Was eitel ! was süffisant ! denn damit liegt
mehr vor als mit der wunderhübschen Davidperikope, die hauptsächlich
besticht wegen der Parallelüberlieferung, dank derer erst die Anstifter,
das Hanni-Nanni-Gespann des Alten Bundes, Jahwe und Satan, austauschbar
werden. Für seine Volkszählung hatte David zu entrichten in
bar : entweder sieben Jahre Hungersnot im Land, drei Monate persönliche
Flucht vor persönlichen Widersachern oder drei Tage Pest für
alle. Und David wählte königlich das Kostenintensivste. Siebzigtausend
Fromme starben; erst als die Seuche vor Jerusalem auftauchte, sprach Jahwe
Bedauern aus und übte Schonung. Seine geliebte Stadt. Ein Gott, wie
wir ihn mögen. Na was solls. Ich wähle ein Leben in Tran.
Ein Kumpel Gregors erweckte versehentlich
Tote — vorsätzlich wärs ihm unmöglich gewesen, übergroßer
Demut halber. Seltsame Blüten der grünen Blume des Neides. Daß
nur mich niemand weckt.
Mein Knöchel schwillt
ab, ich genese. Weichet von mir, Wasserspeier !
Ich könnt gut sterben jetzt, etwa in
der Lloyd-Passage, unter Leuten, die Schläfe an ein Stahlgerüst
oder Urinal gelehnt. Loslassen muß sein wie Wasserlassen.
Ich, im Traum, ausgestattet mit Uzzi und
Veteranenstatus, appliziere Genickschüsse Hundehabern, Flötern,
Mücken und allen Menschen mit Sprachfehler. Dann schreit irgendwo
ein Wecker um sein Leben und die Wirklichkeit betreibt wieder ihre verfluchte
Appeasment-Politik.
Plaudite amici, comoedia finita est
***