Die Zeit ist
ein Onkel
von stud. & mag. omn.
Ralf Grötker
(al.
»Der rasende Ontologe«)
Vor einiger
Zeit kündigte ich in dieser Zeitschrift einen Aufsatz mit dem Titel
»Die Zeit ist ein Onkel« an. Und anstatt es mit diesem unbescheidenen
Versprechen sich bewenden zu lassen, stellte ich zudem in Aussicht, auch
ein Kapitelchen zu dem Thema »Wenn das Absolute ins Wasser fällt,
wird es zum Fisch« zu verfassen. Um mir, wenn schon nicht vollständige
Befreiung, so doch sozusagen Milderung vom steten Drängen meines
pflichtversessenen Gewissens zu verschaffen, werde ich mich heute darauf
konzentrieren, den Gedanken des Onkelseins der Zeit vor der geneigten
Leserschaft zu entfalten; die Angelegenheit der Fischverwandlung des Absoluten
wird weiter ihrer Bearbeitung harren müssen. One at a time.
Bevor ich die Untersuchung einleite, möchte
ich voranschicken, daß meine Gedanken zu Zeit und Onkel noch keineswegs
zu der Präzision und Klarheit herangereift sind, wie sie die Analyse
eines so gewichtigen Themas fordert; auch bin ich mir hinsichtlich der
Ergebnisse meiner Untersuchung noch nicht vollständig sicher. Schließlich
aber ist es die Forschung selber, die zum Thema »Die Zeit ist ein
Onkel« bislang noch keine nennenswerten Ergebnisse aufweisen konnte,
so daß ich darum bitten muß, den unfertigen Charakter meiner
Untersuchung im Hinblick darauf zu entschuldigen, daß die aufgegriffene
Fragestellung eine gänzlich jungfräuliche ist und eingehender
Erkundung durch die Wissenschaft erst noch bedarf. Meine Untersuchung
möchte keinen größeren Anspruch erheben, als erste Schritte
in diese Richtung zu leiten.
Die Rede von der Zeit als Onkel mag rätselhaft,
manchen vielleicht abstrus oder gar, um ein immer wieder gern benutztes
Wort anzubringen, verquast erscheinen. Was soll das bedeuten : die Zeit
ist ein Onkel ? Angenommen, die Zeit wäre ein Onkel, so wie die meisten
Onkel — oder soll ich Onkels sagen ? — Onkel, also Onkels
sind, nämlich Bruder einer Schwester oder eines weiteren Bruders,
in Bezug auf dessen oder deren Sohn oder Tochter, sprich Neffe oder Nichte,
besagte Onkel Onkel sind. Als Onkel unter Onkels stände
die Zeit dann neben Onkel Theodor, Onkel Karl, Onkel Fritz, Onkel Paul
— und wie sie immer heißen mögen. Nun denn : unsere
Zeit — so ein Onkel ? das klingt unglaubwürdig, wenn auch das
Gegenteil schwer zu beweisen ist. Zumindest ist dieser Gedanke unplausibel
: denn wäre die Zeit so ein Onkel, dann wäre sie zugleich
Bruder, Sohn und Schwager, so daß man sich über das speziell
Onkelhafte der Zeit keine besonderen Gedanken machen müßte.
Möglicherweise ist die Zeit auch Bruder und Schwager;
Thema dieser Untersuchung aber ist, warum sie vor allem Onkel
ist.
Wenn hier, dem Motto »Die Zeit ist
ein Onkel« auf der Spur, nun aber gerade das Onkelhafte der Zeit
und nicht das bloße Eingebundensein in den Familienzusammenhang
erörtert werden soll, dann ist davon auszugehen, daß die Zeit
in einem anderen als in wörtlichem Sinn ein Onkel ist, nämlich
in metaphorisch-symbolischem Sinn. Eine solche Form der Rede ist in Bezug
auf die Zeit nicht unüblich, sagt man doch, daß die Zeit ein
Fluß ist, weil sie fließt, welches Fließen wiederum
nichtwörtlich aufzufassen ist, andernfalls man die Zeit zu den Flüssigkeiten
zählen müßte. So kann man von der Zeit sagen, sie sei
ein Onkel, weil ihr metaphorisch bestimmte onkelhafte Eigenschaften angedichtet
werden können : sie steht gleichsam immer im Hintergrund, sie ist
ein komischer Kauz, man erwartet Großes von ihr, unverdiente Glücksfälle
— so wie vom Onkel das Erbe. Wie Onkels, ist auch die Zeit zuweilen
böse. Man spricht dann von einer »bösen Zeit« Aber
all dies überzeugt, wenngleich es einige Plausibilität hat,
wenig, aus dem alleinigen Grund, das es nicht üblich ist, direkt
von der Zeit als Onkel zu sprechen und wir deshalb in dieser Rede keinen
klaren und vielleicht sogar überhaupt keinen Sinn erkennen könnten.
Was an dieser Stelle einzig überzeugen wird, ist ein triftiger Grund,
weshalb wir, auch wenn wir bisher nicht von der Zeit als Onkel gesprochen
haben, dies dennoch in Zukunft besser tun sollten. Wird es gelingen, einen
solchen Grund ausfindig zu machen ?
So üblich wie die Benennung der Zeit
mit Kosenamen ist die metaphorisch-symbolisch oder zumindest nicht-normal-wörtliche
Rede von Familienverstrickungen, wie sie in der Gottesnomenklatur des
Christentums geläufig ist. Sollte man hiervon ausgehend meinen, daß
Gott also der Vater, Jesus der Sohn, Heiliger Geist der Geist und die
Zeit der Onkel sei ? Die Zeit als eine Art jedermanns Onkel, ausgestattet
nicht nur mit allen Attributen des Onkel-seins, sondern zugleich mit echter
Onkelschaft, zumindest in der Form, wie die christliche Religion meint,
daß Gott nicht nur in metaphorischem Sinne Vater und Jesus nicht
nur in metaphorischem Sinne Sohn sei ? Vater, Sohn, Heiliger Geist und
Onkel ? Praktizieren wir solch einen Gebrauch der Worte nicht schon längst
? Ich habe den bösen Onkel angeführt; es gibt aber
auch den lieben oder den guten Onkel, und ihn rufen wir um Hilfe
an, wenn uns Besonderes widerfährt : Ach du lieber Gott ! Ach
du liebe Zeit ! Unterschiedlos wird hier einmal Gott, ein anderes
Mal die Zeit angesprochen, und diese Tatsache beweist, das im Verständnis
des Volkes die Zeit ohnehin auf bisher ungeklärte Weise mit im Bunde
der heiligen Dreieinigkeit thront. Man muß nur zuendedenken, was
mit der Exklamation »Ach du liebe Zeit !« faktisch impliziert
ist, um darauf zu stoßen, daß die Überzeugung, daß
die Zeit Onkel ist, schon längst die ihr gebührende
Verbreitung gefunden hat. Zugegeben : es ist in »Ach du liebe Zeit
!« nicht logisch impliziert, daß die Zeit auch Onkel ist.
Aber es liegt zumindest innerhalb der abendländisch-monotheistischen
Religion doch nahe, daß die in »Ach du liebe Zeit !«
angerufene Zeit nichts anderes sein kann als Gott. Da ferner
die zu diesem Gott gehörige christliche Theologie sich auf Familienbeziehungen
beruft, um zu sagen, wie da einer zugleich einer und drei ist —
Vater und Sohn, konsubstantiell ! — kommt man nicht umhin davon
auszugehen, daß, wenn auch die Zeit Gott ist, auch die Zeit mit
zur Familie gehört. Schließlich ist es naheliegend und, hat
man diese Option erst einmal in Betracht gezogen, auch intuitiv plausibel,
daß die Zeit nicht Bruder oder Schwester oder Schwager oder sonst-irgendetwas,
sondern Onkel ist.
Ich sage nun (und modifiziere damit meine
Behauptung, daß die Rede von der Zeit als Onkel symbolisch-metaphorisch
zu verstehen sei) : die Zeit ist wirklich ein Onkel, und Onkel
ist nicht nur eine (neue) Metapher für die Zeit. Denn wäre Onkel
eine Metapher, dann würde sie für etwas stehen, so wie Drahtesel
für das Fahrrad. Für was aber steht Onkel
und für was steht Vater oder Sohn ?
So unwiderlegbar diese Beweisführung
auf den ersten Blick scheinen mag, so lückenhaft stellt sie sich
auf den zweiten dar. Die Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, betraf
die Suche nach einem Grund, weshalb wir, auch wenn wir bisher nicht von
der Zeit als Onkel gesprochen haben, dies dennoch in Zukunft besser tun
sollten, und zwar auf eine Weise, welche nicht jene der wörtlichen
Rede, aber auch nicht metaphorisch ist. Was das für eine Redeweise
ist, mußte bisher und wird auch weiterhin im Rahmen dieser Abhandlung
ungeklärt bleiben müssen1.
Was für Gründe konnten wir bisher anbieten ? 1) Wir konnten,
für jemanden und nur für jemanden, der die Rede von der Heiligen
Dreieinigkeit akzeptiert und gleichsam nicht konservativ im Gebrauch seines
Vokabulars ist, gute Gründe anführen, warum man besser nicht
nur von Gott-Vater, Jesus-Sohn und Geist-Geist, sondern auch von Onkel
Zeit sprechen sollte. 2) Die strukturelle Ähnlichkeit des volkstümlichen
»Ach du liebe Zeit !« und des »Ach du lieber Gott !«
gab uns Hinweise darauf, daß, wenn (!) volkstümliche Redewendungen
mit Tatsachenglauben in Verbindung zu bringen sind, das Onkelsein der
Zeit in der bloßen Parallelität der besagten zwei Redewendungen
irgendwie schon mitgedacht werden muß. 3) Keine zwingenden Gründe,
aber doch ganz plausible Argumente sprechen dafür, die Zeit nicht
als Bruder oder Schwester aufzufassen, sondern als Onkel. Ich erinnere
an ›Onkels Erbe‹, an das Kauzigsein der Zeit und das im Hintergrundstehen
der Zeit.
Nichts ist nun leichter, als meine Konzeption,
ausgehend von den in 1), 2) und 3) dargelegten Prämissen, zu kritisieren.
Man kann 1) die Theologie als Beweisgrundlage ganz verwerfen; 2) jede
Verbindung von volkstümlichen Redewendungen mit Tatsachenglauben
dementieren (und für eine nurso-dahergesagt-Theorie optieren) und
schließlich dafür argumentieren, daß der Begriff des
Onkels zu anthropomorph sei, um das Wesen der Zeit angemessen zum Ausdruck
bringen zu können. Während die Kritik die Punkte 1) und 2) in
einem Handstreich einnehmen kann, muß sie allerdings hinsichtlich
des dritten Punktes ihrerseits eine Auseinandersetzung um die Begründung
von Zeitkonzeptionen eingehen und darlegen, aus was für Gründen
ein nichtanthropomorpher Zeitbegriff oder auch nur ein anderer
unserem Onkel vorgezogen werden soll. Ich denke aber, daß
es möglich sein wird, die Onkelkonzeption der Zeit gegenüber
Vorwürfen, die den Punkt 3) betreffen, zu verteidigen.
Wie mag eine solche Verteidigung aussehen
? — Die Onkelkonzeption der Zeit aufgrund ihrer Anthropomorphität
zu verteidigen — also noch einmal für Gottvater, Jesussohn
als auch für Gestalten wie Mutter Erde und Gevatter Tod den Anwalt
zu spielen — erscheint mir ein wenig erfolgversprechendes Unternehmen.
Ich denke, wir können nur Schritt für Schritt den möglichen
Einwänden begegnen, und dann zeigen, daß und warum die Onkelkonzeption
der Zeit anderen Konzeptionen überlegen ist.
Ein Einwand, der aus dem empiristischen
Lager zu erwarten ist, wäre : ›Aber die Zeit kann man doch
messen ! Und wie will man Onkel messen ?‹ Hier entgegne ich : erstens
kann man Onkel messen — man kann ihn wiegen und seine Größe
messen — und zweitens kann man auch die Zeit nicht messen. Man kann
die Minuten zählen, die Sekunden und die Stunden. Aber keine noch
so große Menge von Minuten, Sekunden oder Stunden macht die
Zeit; und deshalb ist es auch nicht weiter problematisch, daß
keine noch so große Menge von Minuten, Sekunden oder Stunden Onkel
macht.
Von Seiten der Transzendentalphilosophen
wird der Einwand kommen, daß die Zeit eine apriorische Form unserer
Wahrnehmung sei, und dies sich schlecht mit dem Onkelsein der Zeit vereinen
ließe. Hier wäre entweder zu zeigen, warum Kant mit seiner
Idee falsch liegt, oder warum Kantens Idee doch mit der vorgeschlagenen
Onkelkonzeption vereinbar ist, beispielsweise in Hinsicht auf das genannte
›Stets-im-Hintergrund-sein‹ des Onkels.
Ich kann an dieser Stelle keine Auseinandersetzung
mit allen prominenten Theorien der Zeit führen. Aber ich habe doch
erste Schritte eingeleitet, indem ich gezeigt habe, welchen Weg eine solche
Auseinandersetzung nehmen könnte. Diese Auseinandersetzung wirklich
zu führen, wird Aufgabe der auf diesem Gebiet noch ausstehenden Forschung
sein.
Schließlich
sei daran erinnert : auch wenn sich das Onkelsein der Zeit als unbeweisbar
herausstellen könnte, so kann es dennoch wahr sein !
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1
Ich werde dieser (sprachphilosophischen) Frage in meiner Untersuchung
»Wenn das Absolute ins Wasser fällt, wird es zum Fisch«
nachgehen
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