Nikolai Punin
Das Denkmal der III. Internationale
Ein Projekt des Künstlers W. J. Tatlin
1919 beauftragte
die Abteilung Bildende Künste des Volkskommissariats für Bildungswesen
den Künstler W. J. Tatlin, einen Entwurf für das Denkmal der
Dritten Internationale anzufertigen. Der Künstler Tatlin begann unverzüglich
mit der Arbeit und fertigte den Entwurf an. Dann führten die Künstler
W. J. Tatlin, J. A. Meierson, M. P. Winogradow und T. M. Schapiro, die
sich zu einem »Schöpferischen Kollektiv« zusammengeschlossen
hatten, den Entwurf im Detail aus und bauten das Modell.
Die Grundidee des Denkmals ging von einer
organischen Synthese der Prinzipien in der Architektur, Bildhauerei und
Malerei aus, es sollte einen neuen Typ der Monumentalbauten liefern, der
die rein künstlerische Form mit der utilitären Form vereint.
In Übereinstimmung mit dieser Idee besteht der Entwurf des Denkmals
aus drei großen gläsernen Räumen, die an einem komplizierten
System vertikaler Achsen und Spiralen aufgehängt sind. Diese Räume
sind übereinander angeordnet und besitzen verschiedene, miteinander
harmonisierende Formen. Mit Hilfe eines speziellen Mechanismus sollen
sie sich unterschiedlich schnell bewegen. Der untere Raum (A), der die
Form eines Würfels hat, dreht sich einmal im Jahr um seine Achse
und ist für die Legislative bestimmt. Hier können die Kongresse
der Internationale, internationale Konferenzen und andere wichtige gesetzgebende
Versammlungen stattfinden. Der nächste Raum (B), in Form einer Pyramide,
dreht sich einmal im Monat um seine Achse und ist für die Exekutive
bestimmt (das Exekutivkomitee der Internationale, das Sekretariat und
andere administrative Vollzugsorgane). Der obere Zylinder (C) schließlich,
der einmal am Tag eine Umdrehung ausführt, trägt den Charakter
eines Informationszentrums : Informationsbüro, Presse, die Herausgabe
von Proklamationen, Broschüren und Manifesten, kurzum eine Vielfalt
umfassender Informationsmittel des internationalen Proletariats, insbesondere
die Telegraphie, Projektionsapparate für eine große Leinwand,
die über die Achse der Halbkugel (a1-b3) gespannt ist, und ein Rundfunksender,
dessen Antennen über dem Denkmal aufragen. Es ist nicht notwendig,
auf die gewaltigen Möglichkeiten der Ausstattung und Organisation
aller Räume hinzuweisen; der Entwurf zieht keine Details in Betracht,
sie können bei der weiteren Innenraumgestaltung des Denkmals besprochen
und ausgearbeitet werden. Unbedingt sei noch darauf hingewiesen, daß
nach den Vorstellungen des Künstlers Tatlin die gläsernen Räume
mit doppelten Vakuum-Zwischenwänden (Thermos) projektiert sind, wodurch
die Temperatur im Innern der Räume leicht zu erhalten sein wird.
Die verschiedenen Teile des Denkmals wie auch alle Räume werden mit
der Erde und untereinander ausschließlich durch kompliziert konstruierte
elektrische Fahrstühle verbunden sein, die sich der unterschiedlichen
Drehgeschwindigkeit der Räume anpassen. Das sind die technischen
Grundlagen des Projektes.
Die künstlerische Bedeutung
des Projektes
Eine soziale
Revolution an sich verändert nicht die künstlerischen Formen,
aber sie schafft die Grundlage, die allmählich die Formen der Kunst
verändert. Die Idee der Monumentalpropaganda hat die Skulpturen und
die Bildhauer nicht verändert, aber sie stürzte das in der bürgerlichen
Welt dominierende Prinzip der plastischen Ausdrucksweise. Die Traditionen
der Renaissance konnten in der Plastik als zeitgemäß erscheinen,
solange die feudalbürgerlichen Wurzeln der kapitalistischen Staaten
nicht zerstört waren. Die Renaissance ist verglüht, doch erst
jetzt wird die Brandstätte Europas gesäubert.
Zwar werden sich die kommunistischen Regierungen
noch eine Zeitlang der figürlichen Denkmäler der griechisch-römischen
Klassik als Mittel der Monumentalpropaganda bedienen, doch nur, weil sie
dazu gezwungen sind, ebenso wie sie gezwungen sind, die Fachkräfte
der vorrevolutionären Schulen einzusetzen. Die figürlichen (griechisch-römischen)
Denkmäler stehen in doppeltem Widerspruch zur Gegenwart. Sie kultivieren
den individuellen Heroismus und verfälschen die Geschichte : Die
Torsi und Köpfe der Helden (und Gö-ter) entsprechen nicht dem
derzeitigen Geschichtsverständnis. Sie sind zu individuell in der
Form im Vergleich zu den unübersehbaren Reihen des Proletariats;
im besten Fall bringen sie den Charakter, die Gefühle und Gedanken
des Helden zum Ausdruck, aber wer bringt die emotionellen und geistigen
Spannungen von Tausenden zum Ausdruck ? Der Typus ? Aber der Typus konkretisiert,
schränkt ein und nivelliert die Masse. Sie ist viel reicher, sie
ist viel lebendiger, vielgestaltiger und organischer.
Doch selbst, wenn es ein Typus wäre,
die figürlichen Denkmäler stehen durch ihre eingeschränkten
Ausdrucksmittel und ihren statischen Charakter in noch größerem
Widerspruch zur heutigen Zeit. Die agitatorische Wirkung solcher Denkmäler
ist außerordentlich gering inmitten heutigen Lärms, der Bewegung
und der Dimensionen. Die meditierenden Gestalten auf Granitsockeln sehen
möglicherweise sehr viel, aber sie werden nicht gesehen. Sie sind
in der Form erstarrt, welche sich in der Blütezeit der Loggien, der
Maultierkarawanen und der steinernen Kanonenkugeln herausgebildet hatte.
Die Telefonleitung der Kriegszeit schlägt den Helden aus dem Feld;
der Leitungsmast der Straßenbahn wird dem Obelisken vorgezogen;
die Städter werden täglich öfter in den Bibliotheken auf
Buchrücken und durch Zeitungsüberschriften an Lassalle erinnert,
als wenn sie an seinem stolzen Haupt vorübergehen. Lassalle steht
dort, seit sein Denkmal enthüllt wurde, ungesehen und unnütz
...
Das Denkmal muß im sozial-staatlichen
Gefüge der Stadt leben, und die Stadt muß in ihm lebendig sein.
Es muß notwendig und dynamisch sein, dann wird es zeitgemäß
sein. Die Formen der modernen agitatorischen Plastik gehen über die
Darstellung des einzelnen Menschen hinaus. Finden wird sie derjenige Künstler,
der von den feudalbürgerlichen Traditionen der Renaissance nicht
verkrüppelt ist und wie ein Arbeiter an drei Grundeinheiten des modernen
plastischen Schaffens wirkt : dem Material, der Konstruktion und dem Raum.
Tatlin, der sich mit dem Material, der Konstruktion und den Raum befaßt,
schuf eine neue Form innerhalb der monumentalen Kunst. Diese Form ist
das Denkmal der Dritten Internationale.
Bereits im vorigen
Jahr wurde der beste Künstler des Arbeiter-und-Bauern-Rußlands,
dessen Leben Beweis dafür ist, daß er die werktätigen
Massen kennt, damit beauftragt, den Entwurf für das Denkmal der III.
Internationale auszuarbeiten. Der Entwurf ist nicht nur von großem
Wert als ein Werk des modernen künstlerischen Lebens, sondern kann
auch als ein entscheidender Ausbruch aus dem Zauberkreis der überreifen,
verfallenden Kunst unserer Zeit aufgefaßt werden. Die Kunst, die
in das 20. Jahrhundert eingetreten ist, markiert die Abschnitte der Entwicklung
des gesamten Wirkens auf diesem Gebiet. Da ich mich in Fragen der Kunst
in gewissem Maße für kompetent halte, bewerte ich diesen Entwurf
als ein internationales Ereignis innerhalb der Welt der Kunst.
Vor unseren Augen wird eine der kompliziertesten
Fragen der Kultur gelöst : Die utilitäre Form erscheint als
reine künstlerische Form. Aufs neue wird der Klassizismus tragbar,
nicht als Wiedergeburt, sondern als Erfindung. Die Ideologen der internationalen
Arbeiterbewegung suchten schon seit langem nach dem klassischen Inhalt
der sozialistischen Kultur. Nun, hier ist er im Kommen. Wir unterstreichen,
daß der vorliegende Entwurf das erste revolutionäre Kunstwerk
ist, das wir nach Europa entsenden können und entsenden werden.
Dem Entwurf nach beruht die Form auf zwei
Achsen (aa1 und bb3),
die sich einander gegenüber befinden. In der Richtung von a zu a1
entwickelt sich eine Bewegung nach oben, die in jedem Punkt der Bewegung
von Spiralen von b, b1, b2,
b3 zur Linie aa1
unterbrochen wird. Der Zusammenstoß dieser beiden Bewegungen, die
sich ihrer Natur nach wechselseitig widersprechen, muß einen Bruch
ergeben (der für den schon weit entschwundenen »Kubismus«
so charakteristisch war) und die utilitäre Idee zerstören, doch
die entgegenkommenden Spiralen übernehmen die Bewegung von aa1
(und bb3) und leiten sie über die
Bewegung des Hauptstützbalkens (Traggerüst aa1)
nach oben, wodurch ein dynamisches Gebilde entsteht, das von der gewaltigen
Spannung der sich ständig bewegenden und aufeinanderstoßenden
Achsen erfüllt ist. Alle Formen schwingen wie eine Stahlschlange,
die von einer einzigen gemeinsamen Bewegung aller Teile beherrscht und
organisiert wird — von dem Sicherheben über die Erde. Die Form
will über Materie und Gravitation triumphieren; der Widerstand ist
gewaltig und schwierig; angespannt sucht die Form einen Ausweg über
die elastischsten und schnellsten Linien, die es nur gibt, die Spiralen.
Sie sind erfüllt von Bewegung, Schwung und Lauf, und sie spannen
sich wie der Wille des Schöpfers, wie die Muskeln des Arbeiters mit
dem Hammer.
Die Verwendung und Organisation der Spirale
in der modernen Form ist schon an sich eine Bereicherung der Komposition.
Ähnlich wie in der Renaissance die Proportion der Teile am besten
durch das Dreieck ausgedrückt wurde, kommt der Geist unserer Zeit
am besten durch die Spirale zum Ausdruck. Die Wechselwirkung von Schwerkraft
und Stützpfeiler ist die reinste (klassische) Form der Statik; die
klassische Form der Dynamik ist die Spirale. Die Gesellschaftsformen der
Klassengegensätze kämpften um den Besitz von Grund und Boden,
ihre Bewegungslinie ist horiontal; die Spirale ist die Bewegungslinie
des befreiten Menschen. Die Spirale ist der ideale Ausdruck der Befreiung;
indem sich ihr Fuß in die Erde stemmt, bewegt sich dieselbe und
wird gleichsam zum Symbol für die Befreiung von allen tierischen,
irdischen und unterwürfigen Interessen.
Die kleinbürgerlichen Gesellschaften
entfalteten gern ein tierisches Leben auf Erden, sie bearbeiteten die
Erdoberfläche und errichteten darauf Kaufhäuser, Passagen und
Banken; das bürgerliche Leben — ein Leben auf öffentlichen
Plätzen, spielte mit Äußerlichkeiten und dem bloßen
Schein. Die schöpferische Menschheit lenkte ihre tierische Lebensform
in die Erde : Man sieht nicht, wo die Genossenschaften arbeiten; der Platz
ist der Ort der Agitation, der Spiele und der Feste; das befreite Leben
erhebt sich über die Erde und die rohen irdischen Materialien. Das
Haus — Wohnstatt und Schauplatz des gesellschaftlichen Lebens, wird
in die überirdische Schicht verlegt — es ist Ausdruck der Gegenwart
und des Inhalts heutigen Lebens. Zugleich ist dies der Inhalt der großen
künstlerischen Form.
Jeglicher Inhalt der Form ist utilitär
verwendbar und bestimmbar, denn die Utilität der Formen ist nichts
anderes als die Organisation ihres Inhalts. Die Formen, die keine praktische
Funktion haben — wie die meisten der bis heute existierenden künstlerischen
Formen — sind schlechthin nicht organisierte Formen. Vielleicht
wird das Prinzip der Organisation zum erstenmal in der Kunst tatsächlich
verwirklicht. Das Denkmal ist auf die Konzentration der Tätigkeiten
von Legislative (Raum A), Exekutive (Raum B) und der Information (Raum
C) ausgerichtet, wobei diese Räume, entsprechend dem Prinzip, die
Gegenwart zum Ausdruck zu bringen, in den obersten Regionen des Raumes
liegen. Dadurch, ebenso wie durch das Material (Glas), ist die Reinheit
der Tätigkeiten, ihre von materieller Bürde befreiten Merkmale,
ihre Idealität gekennzeichnet. Die Kunst, die des schöpferischen
Idealismus entbehrt, vor allem eines, der den Inhalt der Intuition bildet
— ist eine Kunst der unsauberen Rhythmen. Es ist bis heute nicht
gelungen, die Rhythmen in die Elemente der Materialkultur zu zerlegen,
bestimmen letztere das Wachstum und die Bedingungen des Daseins, das Dasein
selbst aber besteht aus Rhythmen. In Einklang mit ihnen strömt die
Intuition. Reinheit und Vollständigkeit der Rhythmen bestimmen den
Grad der Begabung, ich aber kenne keine reineren und vollständigeren
Rhythmen als die Rhythmen in den Werken Tatlins. Er besitzt in der Beziehung
zum Material einen höchst empfindlichen Blick, und gerade durch die
Gegenüberstellung der Materialien bestimmt er die Grenzen der rhythmischen
Wellen. Als Grundlage für die Einheit des Rhythmus nehmen wir einen
Wellenabschnitt, der eingeschlossen ist zwischen den Eigenschaften des
Glases und des Eisens. So wie die Maßeinheit des Schalls die Schwingungszahl
der Wellenlänge ist, ist das Verhältnis zwischen Glas und Eisen
das Maß für den Rhythmus des Materials. Was für eine Strenge
und disziplinierte Schlichtheit verbirgt sich in der Gegenüberstellung
dieser beiden elemenaren Materialien, die gleichermaßen durch das
Feuer entstanden sind. Diese Materialien sind Elemente der modernen Kunst.
Die durch ihre Gegenüberstellung bestimmte Form bringt Rhythmen von
solch weiten und gewaltigen Schwingungen hervor, daß es wie die
Geburt des Ozeans anmutet.
Die Verwirklichung dieser Form bedeutet
die Verkörperung der Dynamik mit solch unübertroffener Größe,
mit der die Statik der Pyramiden verkörpert wurde. Wir unterstreichen
: Nur ein mit der Macht von Millionen Proletariern erfülltes Bewußtsein
konnte der Welt die Idee einer solchen DenkmalForm bringen; sie muß
von der Muskelkraft dieser Macht realisiert werden, denn wir besitzen
den idealen, lebendigen und klassischen Ausdruck in der reinen und schöpferischen
Form der internationalen Vereinigung der Arbeiter des Erdballs.
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