Waldemar Koslowski
321 Jahre Delmespringen
— 321 Jahre Freude,
Enttäuschung und sonstiges
ein Fragment aus den
Heimatgeschichtlichen Studien
bekanntgemacht
von Prof. Giambatista Raffaello Giotto, Bologna
Knapp
hundertfünfzig Jahre, nachdem der ewige Unruhestifter Graf
Gerd von Oldenburg, genannt der Mutige, den Ruf Delmenhorsts
als ausgesprochenes Raubnest begründete und sich erst nach
drei Monaten Belagerung den bischöflichen Truppen Heinrichs
von Münster ergab, keine hundert Jahre, nachdem die Oldenburger
dank eines kühnen Handstreiches, vollführt von Graf
Anton I. von Oldenburg, den Leumund Delmenhorsts wiederherstellten,
indem sie die Stadt erneut nahmen und mit der Kontrolle der Strecke
Huchting-Haselünne abermals die wichtige Handelsroute Flämische
Straße, die von Lübeck über Bremen nach Brügge
führte, beherrschten, fünfzig Jahre, nachdem Graf Johann
von Oldenburg, genannt der Deichbauer, eine der prunkvollsten
Hochzeiten des Frühbarock mit Prinzessin Elisabeth von Schwarzburg
feierte : wütete der Schwede in Delmenhorst und wilde Landsknechte
ohne Gewissen, aber mit um so stärkerem Besitz- und Geschlechtsdrang
fielen her über Volk und Vieh und verteidigten den bedrohten
Protestantismus — und ist die Stadt um eine weitere Tradition
reicher.
Die Legende berichtet, am 28. August
1631, dem künftigen Geburtstag Götes, sei der damals
19jährige Bauerssohn Lüer Gindt, der vier Jahr alt war,
als Shakespeare starb, vor einer Rotte von Hakkapeliten geflüchtet,
die ihn entweder schänden oder als Söldner keilen wollten.
Weil er keine Lust hatte, die militärische
Laufbahn einzuschlagen, gab Lüer Gindt Fersengeld und setzte
im Verlaufe einer spektakulären Jagd mit einem einzigen riesigen
Sprung über die reißende Delme. Leider hatte er übersehen,
daß am anderen Ufer bereits eine johlende Rotte von Landsknechten
wartete, angeführt von einem gemütlich aussehenden feisten
Offizier, der eine bauchige Bouteille mit Rotwein schwenkte. Kaum,
daß diese warm lächelnde Gestalt Lüer Gindts Willen
brach und mit festem Griff seinen Interessen requirierte, entfuhren
Lüer Gindt a) ein Leibeswind und b) eine in Delmenhorst historisch
gewordene Redewendung : Alter Schwede ! Lüer trat
also tatsächlich in schwedische Dienste und stieg als Proselyt
innerhalb weniger Wochen bis in den vertrauten Kreis um Gustav
Adolf auf — man war dort gar nicht so. Hier kann jeder
nach meiner Fasson fröhlich werden, lautete der Wahlspruch
des königlichen Hofes. Lüer wurde Gast in den Kaschemmen
Stockholms. Dort übte er sich im Bouteilleschwenken, Bouillabaissebereiten
und Tarockspiel. Abend um Abend gab er sich die Kante, machte
seinem Necknamen Gula gula alle Ehre, zog Privatsteuern
ein, beschützte Geschäftsleute und eröffnete dann,
solcherart mit einer Kapitaldecke versehen, einen schwunghaften
Gebrauchtkarossenhandel. Als der junge schwedische Monarch, der
als ausgewiesener Liebling der Götter so verdammt alt nun
auch nicht mehr werden sollte, einmal den jungen Delmenhorster
im Mondlicht beim Zündeln vor einer Imkerei erwischte, nahm
er Lüer beiseite, führte ihn in den königlichen
Lustgarten, stellte sein 6jähriges Töchterlein Christine
vor, die damals schon designierte Regentin war, und erläuterte
ihm : Ich bin nicht unbedingt Ihrer Meinung, aber ich gäbe
mein Leben, daß Sie Ihre Meinung tun dürfen. Lüer,
nun schon 20, wurde der Ken der Prinzessin. Seine Unschuld jedoch
erlangte er nie wieder.
Vom Erlös all seines Treibens
sponserte Lüer ein relativ erfolgloses Knaben-Völkerball-Team
in der stockholmer Vorstadt Ladugårdsgärdet und stiftete
einen Preis von 1000 Goldkronen dem jungen delmenhorster Ackerbürger,
der es ihm im Springen gleichtun könne — Lüer
war, wie alle Norddeutschen, sentimental und eitel. So niemand
einen Satz tun könne, der dem von Lüer gliche, solle
der Betrag nicht etwa verfallen, sondern festverzinslich bei der
schwedischen Nationalbank deponiert und, bis einer es vollbrächte,
jedes Jahr neu ausgesetzt werden samt Zins.
Die Verantwortlichen in Delmenhorst
nahmen sich des geistigen Vermächtnisses Lüer Gindts
bereits zu dessen Lebzeiten an. Nach achtzehn Jahren Beratung
organisierte eine Runde Ratsherren am 30. Januar 1650 das erste
Delmespringen, an die Heldentat des großen Sohnes der Stadt
zu gemahnen. Das Datum, der erste Jahrestag der Enthauptung Karls
I. unter Cromwell, war eine verborgene Invektive gegen die Monarchie,
eine Hommage an Olli. Dieser Ausdruck delmenhorster Widerstands
und streng republikanischer Gesinnung blieb zum Glück allen
verborgen. Das Volk sah nur ein gesellschaftliches Ereignis ersten
Ranges, dem Lüer als Ehrengast beiwohnte, begleitet von Königin
Christine und René ›Cogito‹ Descartes, bei
welcher Gelegenheit, als Lüer einem Kandidaten mit der historisch
gewordenen Bemerkung Das hab ich damals auch gehabt einen
Sack Kartoffeln auf den Rücken binden wollte, Christine Einhalt
erflehte mit den gleichfalls historisch gewordenen Worten : Sire,
geben Sie Gedankenfreiheit ! Daraufhin beschäftigte
sie sich wieder mit ihren Lieblingsideen, dem Katholizismus zuzusagen
und den bremer Pfeffersäcken die Bibliotheken der Hansestadt
als Tribut zu entführen. Lüer aber schnürte den
Zentner Erdäpfel nur noch solider.
René hingegen, heißt
es, habe das rückhaltlose Scheitern der ausgezehrten Dorfjugend
nur schwer verkraftet. Er selbst hatte ja eifrig Erfahrungen gesammelt,
1617 als Freiwilliger im Heer des Prinzen Moritz von Nassau in
Holland und später nochmal, 1628 anläßlich der
Belagerung von La Rochelle. Aber, ganz überspannter Philosoph
der er war, soll er sein Gähnen gewinnbringend gewendet und
wertvollste Anregungen zu einer um noch mehr Einwände und
noch mehr Erwiderungen erweiterten dritten Auflage seiner Meditationes
de prima philosophia, die jedoch nicht mehr zur Niederlegung,
geschweige denn zum Druck befördert wurde, empfangen haben.
Dazwischen kam weniger sein Tod am elften Februar, sondern vielmehr
im Auftrag Christines das Ballettlibretto La naissance de
la paix, das er noch vollenden mußte, dem Geburtstag
der Königin samt Westfälischem Frieden zu lobhudeln.
Dann erst erlag René in Stockholm einer unklaren Krankheit.
Hofschranzen munkelten : keine Lungenentzündung, kein pflanzliches
Toxin, kein durch Geschlechtausüben übertragenes Gebrechen
und keines Eifersüchigen Stilett. Vielmehr habe der Philosoph
in Delmenhorst vom Gift der Langeweile genommen.
Zumal er keine Delmenhorsterin gesehen
hatte, die seiner geschlechtlichen Vorliebe bekömmlich gewesen
wäre. Denn in Delmenhorst schielt man nicht.
Lüer Gindt jedoch starb irgendwann
durstig und unzufrieden. Was an Genugtuung einem Delmenhorster
auf Erden zuteil werden kann, ward ihm zuteil.
Es ist aber nicht so sehr Traditionsbewußtsein,
sondern vielmehr die Gier nach den Goldkronen im mittlerweile
Wert eines Opel Records, daß immer noch jedes Jahr ein Großteil
der männlichen Jungdelmenhorster das Wagnis eingeht, in der
Delme zu ertrinken. Tatsächlich ertrinken auch die meisten,
denn das penible Reglement aus rund 300 Einzelbestimmungen verbietet
es strikt, dem Probanden aus dem Wasser zu helfen. Erlaubt ist
hingegen, dem jeweiligen jungen Mann auf die Hände zu treten,
wenn er versucht, das Ufer zu erklimmen, ja, zum feierlichen Weiheritus
des Delmespringens gehört, daß die Uferböschung
mit Gleitcreme extra glitschig gemacht wird. Eine gewisse Nachlässigkeit,
von der Wohlmeinende behaupten, es sei Nonchalance, führt
regelmäßig einen Tag nach dem Delmespringen zu einem
erweiterten Blutzoll, dem sogenannten Delmenhorster Blutopfer,
denn nie finden sich genügend Freiwillige, die Gleitcreme
wieder aufzuwischen, so daß die Sonderschüler der Lessingschule,
die in ihrer Freizeit an der Delme spielen, Steine schmeißen
nach Fröschen und Blumen rupfen für niemanden, gerne
mal hier verunglücken.
Anläßlich des 595. Stadtjubiläums
war es so weit : der schönen Agglomeration an der Delme war
ein Bürgermeistertöchterchen erwachsen, das stand in
seines Maiens Blüte und war sehr schön und es war klug
wie die Königin Christine und hatte wie die einen Uterusprolaps.
Und ihr Name war Ina Gerken. Als sie einen Auswuchs am Genitale
bemerkte, meinte sie, ihr Geschlecht wechsle, und erfreut, endlich
Mann zu werden, ließ sie sich in Helm und Waffen malen.
Doch fehlte ihr nur der rechte Kerl, ein Bärentöter,
sie von ihrem Lesbentum zu heilen. Unter seiner Anleitung und
in ihrer Eigenschaft als amtierender U-21-Kreismeister im Weitsprung
schaffte es Ina, bis zum Anschlag vollgepumpt mit Red Bull-Originalimporten1,
die 4,60 m breite Delme zu überspringen und alles Volk und
die Innung der Gebrauchtwagenhändler jubelte und am Abend
danach, als schon die ersten Sonderschulleichen trieben im Fluß,
war ihnen — Ina und ihr Trainer promenierten engumschlungen
auf dem Fahrradweg an der Delme, die Honda Dax an der Hand —,
als stiege der Geist Lüer Gindts im Laternenlicht aus den
Nebeln, die auf der Delme lagen, und winke und segne Bund und
Kreis, die sich da schlossen.
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Just dieser Einschub stimmt die Redaktion kritisch, was die Provenienz
des Textes anlangt. Wir erinnern uns, Koslowski verstarb 1974.
Da gabs noch kein Red-Bull. Ein Fake aus Bologna ?
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