Didi Meisenkeiser
Ich hoffe, ihr Spinner
fallt nicht vom Glauben ab
Hinterhalt
auf einem Bahnsteig im fernen Delmenhorst : der in den Bahnhof einfahrende
Pendlerzug tötet einen fliegenden Händler.
Ich stehe unweit von dieser Orgie technischen
oder menschlichen Versagens und blättere in einem von Dr. Anne Schnitzer
verfaßten, betont bösartig und klug geschriebenem Werk über
die Sitten und Gebräuche im Jenseits.
Was hat mich nach hierher verschlagen ? —
Nun, ich suche Zuflucht vor unangenehmen Verfolgern. Außerdem mag
ich den Bahnhof von Delmenhorst : er ist so voller lautem, zischenden
Leben.
Und besonders lockt das Bahnhofsrestaurant
mit seiner Spezialität : Kalbsleber im Schilfnest (frisch aus der
Delme) mit einem superben Algendressing (auch frisch aus der Delme).
Mein Gott ! Wenn ich noch daran denke, wie
ich nach Delmenhorst gekommen bin : einen Tag ohne Positionsbestimmung
gepaddelt, direkt weg von den ganzen Vollidioten Bremens.
Ich war wirklich auf der Flucht : Bremen
schickte Häscher nach mir aus : hinterhältige Damen mit recht
chicen Gesichtern, also die gesamte CIA-Crew himmlischer Seligkeit.
Einsam ruderte ich einen mir unbekannten
Fluß entlang. So einsam, daß ich fortwährend Getränkebestellungen
an ihn richtete. Ein Fluß ohne Wiederkehr. Doch sein Name war nicht
Styx, sondern Delme.
Nach Stunden einsamen Ruderns tauchten plötzlich
Menschen am Ufer auf. Es waren Jäger, die mir zuriefen : »Was
machst du denn hier ?«
Und ich rief zurück : »Also ich
weiß auch nicht, was eigentlich los ist«
Vom Ufer her vernahm ich jetzt andächtiges
Geraune : »Er ist es. Der Messias aus dem Norden«
So zog ich im Triumph in Delmenhorst ein.
Der Bürgermeister persönlich empfing mich, sich vor Ergriffenheit
in ein weißes Taschentuch schneuzend, und überreichte mir die
Insignien meiner Würde : ein Bolzenschußgerät und einen
schwarzen Filzhut, der sich herrlich geschmeidig meiner Kopfform anpaßte.
Dann fragte er mit zitternder Stimme : »Sie sind doch der Messias,
oder ? Sie sind nicht irgend so ein Verirrter von einem der vielen umliegenden
Campingplätze ?«
Statt einer Antwort drückte ich ihm
ein Heftchen Streichhölzer in die Hand. Dann standen wir uns eine
halbe Ewigkeit lang in völligem Schweigen gegenüber. Instinktiv
wußte ich, worauf es ankam. Es handelte sich hier um eine rituelle
Machtprobe zwischen dem Materiellen und Spirituellen.
Ich konnte sehr viel besser und länger
starren als der Bürgermeister. So zwang ich ihn in meine Dienerschaft.
Daß er unter meiner Knute stand, war mir in dem Moment klar, als
er mit einem verlegenen Räuspern mein Streichholzheftchen in die
Brusttasche seines schwarzen Anzugs steckte.
Der Bürgermeister erwies sich immerhin
als ein guter Verlierer. Er zuckte mit den Achseln. »Scheiße
! Verloren. War aber ´ne geile Show«
So kann´s kommen : da taucht man als
Flüchtling in so einem Kaff auf, und prompt hat man den ganzen Laden
unter sich.
Die Delmenhorster genießen ja in der
weiteren Umgebung den Ruf, ihre Knarren offen zu tragen, und das mit einer
sehr bestimmten Selbstverständlichkeit. Damals wurde ein Delmenhorster
von den Bewohnern der umliegenden Gebiete mit vor Schrecken aufgerissenen
Karpfenmäulern angestarrt.
Mittlerweile hat sich diese Einstellung
geändert. Wenn jetzt irgendwo ein schwerbewaffneter Delmenhorster
auftritt, brüllen die Leute : »Was soll das ? Wollt ihr einen
Aufstand provozieren ?«
Langsam wird mir klar, daß man mich
nur unter dem Vorwand, ein Messias zu sein, integriert hat. In Wirklichkeit
suchen sie nur einen Vollidioten, dem sie alles in die Schuhe schieben
können.
Und jetzt betteln ungehemmt irgendwelche
Penner auf dem Bahnhof um Almosen, die wenig gebildet — wie Enten
in Erwartung eines großen Bröckchens — an einem hochschauen.
Ich blicke von meiner Lektüre auf und sehe Leute in der exquisiten
Kluft der Rettungsmannschaften aus einem am Bahnsteig parkenden Krankenwagen
springen. Ihre Beine, die sich besonders in der Bewegung wie majestätische
Gewächse in ihrem Totenweiß ausnehmen, ver göttern das
Strömen des Todes. Die Männer rennen an einem beschämt,
aber auch irgendwie interessiert dreinblickenden Jungen vorbei. Und dann
beugen sie sich über das Süßeste, was man auf einem Bahngleis
überhaupt finden kann.
Einige gespenstisch aussehende Typen scharen
sich um den Unglücksort wie bei einer sportlichen Veranstaltung und
geben dieser Szenerie des Todes und des Entsetzens ein billiges Flair.
Sie alle schauen hinunter auf die Schienen wie in ein Bassin, wo ein einst
grauer Hummer in seinem Blut schwimmt; durch die magische Berührung
mit der Technik in einem dunkelroten Orgasmus aufblühend. —
Sein letzter greifbarer Triumph.
Ich schaue die Gleise entlang, die in den
Bahnhof herein- und wieder herausführen. Gediegen verarbeitete Zeitfäden,
die mit zunehmender Entfernung immer fragiler aussehen.
Mittlerweile wimmelt es um mich herum vor diesen farblosen Typen. Ich
stelle mir die Frage : was mache ich hier eigentlich ?
Der Marsch
zurück erweist sich als besonders strapaziös. Viel lieber hätte
ich mich mit meinem Kanu aus dem Staub gemacht. Zu meinem Bedauern mußte
ich allerdings feststellen, daß es von der dortigen Polizei beschlagnahmt
worden war.
Mit dem Zug aus Delmenhorst zu fliehen,
wäre zwar vorzüglich gewesen, aber in jedem Abteil waren Petzen
postiert. Meine Flucht wäre ziemlich schnell zu Ende gewesen.
Ich nehme an, daß man mich nach meiner
Ergreifung an eines der umliegenden Dörfer verkauft hätte. Die
untersetzten Schwätzer, die einen Großteil der dortigen Bevölkerung
ausmachen, würden mir ein »Verdammter Scheißmessias«
hinterherrufen und auch sonst so tun, als wäre ich ihnen ein Dorn
im Auge.
Ich laufe mir die Füße wund.
Die Gegend um mich herum muß ein Naturschutzgebiet sein. —
Viel kriege ich davon aber nicht mit.
Ich laufe weiter, immer weiter. Stöhne
unter den Strapazen. Der Weg ist so weit.
Ich stolpere dahin wie ein fertiger Penner.
— Gehetzt blicke ich mich um.
Und dann sehe ich sie : meine Jäger.
Sie sind alle zu Pferde. Die berittenen
Verfolger bilden einen großen Bogen, um mich einzukesseln.
O Gott ! Aus ihrem Zentrum brechen Jeeps
hervor. Schießen auf mich zu wie die Fangarme eines ehernen Tintenfisches.
Zehn Meter vor mir bremsen sie ab, um dann in einer geschmeidigen Kehrtwendung
wieder ins Zentrum meiner Bedrohung zurück zu brausen. Ein Beifahrer
winkt mir noch einen letzten Gruß zu.
Als ich nach links und rechts sehe, bemerke
ich, wie die Reiterschar, die mich einzukesseln droht, sich zurückzieht.
Elegant, wie von einer unsichtbaren Kette gezogen, rücken meine Verfolger
— Teil für Teil — zurück.
Und dann sehe ich sie, weit entfernt von
mir, zusammengeballt stehen in der geschlossenen Formation eines Gehirns.
Ich sehe nicht das Schild, das an einem in der Dämmerung silbrig
schimmernden Pfosten angebracht, ihnen drohend HUCHTING entgegenwirft.
Die Verfolger machen kehrt.
Ich schaue hinterher, wie die Silhouette
eines Gehirns gen Süden verläuft.
***
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