ALMATASTR.
—
HYPERION

I

unheimlich ... meine Laune singt, die Quecksilbersäule steigt
     Clemens tat gestern eine dumme Bemerkung. Ohne daß er uns galt, war bereits vor Tagen stickluftig der anonyme Zuruf — hey, schau da vorbei, das lohnt sich — aus der mitternachtoffenen Tür des ›Römer‹ ergangen. Wir waren überhaupt nur vor der Danaidenstätte herumgelungert, weil ich Clemens das kleine Impromptu hatte zeigen wollen, das meiner Erinnerung nach bauchnabeläugend an der Frontscheibe hing und dessen Möglichkeit Clemens mit den Worten Glaub ich nicht bestritten hatte. Glaubs nur, sei nicht dumm, sowas erfinde ich nicht ...
     Primatenherden auf dem Zug zur nächsten Tränke ... am Eck humpelten Brautwerber hin und her und Händler trieben um in Sachen Baldrian und Bibergeil ... Bombergejack und anatolische Rosen, Tattoos und Pizzabringdienst, ein Nasenring, ein Kurzhaar und Geruch nach Mann, lederwesten faule Zähne, nackte Arme schauten heraus und eine Milchbar an und einen Laden für original alte Filmplakate, Fehrfeld/Römerstraße, das einganglose Tempelchen mit den zwei Säulenstumpen, ein Hartmut-Engler-Affiche backte frech über öden Smilies und schlampig gesprayten Kurznotaten und immer noch wußte kein Sterblicher, was es darstellt ... ›wer sagen die Leute, daß ich sei ?‹ ›Tempelchen, die einen sagen, du warst mal ein Pissoir, andere, du bist ein verflittertes Trafohäuschen und stehst in Fron der Stadtwerke und anteilig des Winterstreudienstes, dritte, du seiest eine abgesägte Pagode. Auch habe ich gehört von dir als steinwordener Verlegenheit oder mißratenem Novaliszitat. Ganz Unhöfliche nennen dich beim Namen : nichts.‹ ›Gut gut, was aber sagst du, wer ich sei ?‹ ›Ich sage ...‹
     Ich hielt mich da raus. Satan gab mir nichts ein. Dann meine Genugtuung :
     Isses nicht schade ?
     Verdammt, sie machen in der Tat vor nichts mehr halt
     — treulich blich kneipeninnern der von mir behauptete Aushang vor sich hin, fünf Lachen Kugelschreibersekret an den Schwierigstellen, die der flotte Skribent auf der doppelten Suche — nach dem Urwort und wie denn die Lettern am unbeholfensten zu malen seien — ohne den Kuli abzusetzen ins Stocken geraten war : FLASCHEN TRINKEN UND DANN ZERSCHEPPERN IST SUPERFIES. AUCH TIERE (KATZEN, HUNDE, VÖGEL) VERLETZEN SICH.
     Sicher war dem so und die Magenhöhe in schönen Walsangunterstellungen gewählt ... o herrliche Intention ... quod licet dem Schimpansen, quod licet dem Kakadu, licet ebenso niederen Säugern und den Eilegern in ihrer Gesamtheit. Und immer mit Betonung auf AUCH. Aber es war nicht die ganze Wahrheit — denn die hatte ich und war vorbereitet, ergänzte mit einem präparierten Papier und Resten Tesa und gab dem Extempore der ballenwunden Wirtin, die immer noch meinen zu müssen meint, sommers studentisch barfuß laufen zu können, einen Nachbarn auf der Außenseite des Fensterglases : GENAU. UND OBERFIES : KATZEN FRESSEN VÖGEL.
     Aus unerfindlichen Gründen machte Clemens Front :
     Hast du eigentlich schon mal die moderne Katze betrachtet ? Oder den modernen Vogel ? Seien wir ehrlich : die Katze von heute ist verblödet, verzogen und verwurmt. Das eine, das sie noch kann : sie krallt sich den Kleinvogel, der an natürlichem Altersstarsinn abgegangen ist und schon lange tot war, als er vom Baum fiel. Den legt sie in die gekachelte Küche, brüstet sich und schleicht bettelnd um die ungeöffnete Büchse Rindfleisch mit Huhnaroma. Ich nenne das verweichlicht
     Das ist deine Meinung
     Das ist mehr als meine Meinung : das ist auch noch so. Und darum finde ich deine Invektive nicht gut, da kannst du so viel recht gehabt haben, wie du willst. Glaube mir, ich halte Katzen
     Immerhin, Clemens hatte Dienst geschoben in Djibouti, drei Sommer, das haben nicht viele, und immerhin halb freiwillig — das haben noch weniger. Als wesentliches Mitbringsel vom Äquator will Clemens von den Winden der Wüste die Gunst erwirkt haben, während des Marschierens schlafen zu können. Vorgeführt hat Clemens mir diese Gnadengabe zwar nicht, aber ich hab ja auch nie die Katze den Vogel reißen sehen. Was ich aber schon beobachten durfte : Clemens, wie er Kippen von der Lippe spie und ohne die Miene zu verziehen mit hinreißender Selbstverständlichkeit und dem blanken großen Zeh austippte. Dieser unmerkliche Sidestep wird getragen gewesen sein von der Liebe zu absurder Ordnung, der Liebe, die ein Legionär in der Wüste aufbringen muß, wenn er denn am Leben hängt.
     Wir waren dann gestern aber doch am imperialen Hapag-Lloyd-Gebäude vorbeigestreunt — das Seitenportal lag wie verheißen eingetreten, Holzplanken schlugen Kreuze, Messinglatten verkeilt : im zweiten Geschoß nächtigen der Sage nach gefährliche Treber, Drogenbesteck und halbverhungerte Hunde inmitten köstlicher Hehlerware, mühsam herbeigekobert und aufwendig gelagert ... Wintervorsorge, Rentenkürzung, Inflationsausgleich, was nicht alles werden will —, da sprach Clemens unaufgefordert davon, daß er bis ungefähr zu seinem Einschulungstest hatte Seemann werden wollen. Auf einem Schoner. Oder einem Kabeljaukutter. Entweder oder, da hätte er nichts gekannt, das sei sein autaut gewesen. Ich überlegte noch den Grad der Unreife dieses Berufswunsches und warum Clemens vom Test redete und nicht von der Einschulung selbst
     Und du ?
     Wie ?
     Na, und du ? Was wolltest du mal werden ?
     Bitte ? Aber da war doch gar nichts gewesen.
     Nein, da war einfach nichts. Ich hätte Clemens sagen können, wie die tote Motte in das Doppelglasfenster des honorigen Fachgeschäfts ›Korsett Friedel‹ — immerhin seit 1903 — geraten war, oder ihm grob schätzen, wie alt das Fett in der Fritteuse des Wurstpavillon Iburg — nun auch schon seit 1985 — : aber ich kann doch nichts sagen, wenn da nichts war.
     Nichts
     Nie wollte ich etwas werden. Kein Lukas, kein Düsenjägerpilot, Astronaut nicht, Detektiv nicht und auch nicht Arzt. Nicht mal in Lambarene. Nicht mal Tierbändiger. Schon als Kind waren mir Vorstellungen von dem, was ich später einmal tun sollte, unmöglich, und kaum, daß mir dabei mulmig war oder ich mich als Remittende begriff. Und siehe, die Schlange hatte nicht gelogen : es ist später, ich tue nichts. Ja, schon mir Knaben schien es absonderlich, ich könnte eine Fertigkeit entwickeln, die auszuüben mir andere Leute Geld gäben. Oder Zuneigung. Oder einen Bissen Brot. Und also verdiene ich nichts. Gott gab, daß ich ihn früh roch, den innigen Zusammenhang zwischen Geben und Geben.
     Noch früher aber wird er mir bereits ausgesprochen zuwider gewesen sein, ein Miasmus, der menschliche Gesten umwölkt, ein weltverschwörerischer Affront gegen die Regeln der Ästhetik, soweit sie mir damals bekannt gewesen waren. Und wenn ich seitdem auch viel vergessen hab, an meiner Verlaufskurve, einem Graphen bedeutend ansteigenden Niedergangs kaum was zu deuteln ist, erinnre ich noch : nicht den Hauch einer Anstrengung unternahm ich, vom Pentagramm des Nützlichen zurückzutreten und armüberkopf ängstlich kauernd vor den Geistern süßlockender Regsamkeit in einem Winkel zu dauern. Man will von mir ? Bitte. An mir ist kein Funke Reaktanz. Wer verweigert, stimmt zu — eine feingute Beobachtung, erfunden von den Zeugen Jehovas.
     ... möcht wohl auch so zinnenhoch stehn und dahinter. Stattdeß belagre ich Nichts, allein ...
     Ich wuchs schlicht nie in das, was die Gesellschaft zusammenhält, hinein, muß mich organisch unbegabt für Macht heißen und darauf bestehen : meine Lebensleistung liegt allein darin, diesen wie auch anderen Mangel an Talent mit den fünf Worten ich habe nichts dafür übrig verschönern zu können.
     Meine Tugenden aber tragen die Namen Mut und Trotz.
     Und die wollen nichts unternehmen. Die wollen nichts betreiben. Die begehren in Frieden gelassen zu werden und ehrenvoll regungslos zu sterben. Nie wollte ich etwas werden. Und wär sie nicht eh ungeboren und schmorte im Spiritus allesdenkender Phantasie : jede Versuchung, Ehrgeiz zu simulieren, Ziele ins Visier zu nehmen und schäbiggeschäftig Dinge zu tun, läg abgetan, seit das kleinbrüstige metaphysicon so schnell aus meinem Leben verschwand, wie es unerwartet darin aufgeblinkt war.
     viel mehr Malheur kommt vom Unaufgeforderten als vom Eingeklagten
     Meinetwegen Tierfänger, aber ohne Beruf geht gar nichts, kannst sagen was du willst
     Aber ich sag ja nichts.
     einen Einwand gegen Worte zusammentragen ... : daß sie etwas bedeuten können ...                                                                                                                                        das sind schon zwei
     Ich jedenfalls war irgendwann bereit, die Seefahrt aufzugeben
     na schön

II

     Ich verlange nichts. Ich verlange
     Mit den Augen Piranesis : in einer Mulde das Wohn, in dem ich hause, eingepflanzt, hingesittet und von braungestrichenen Garagen umkränzt. Rasene Steigung aufs Straßenniveau, dort ein E-Häuschen, davor das Lager der Campagnemacher, in Schneuzweite die Wellblechställe. Zwei Werktätige legen die Schippe nieder. Anschließend entblößen sie Brot mit Schmand und daily mail. Ausgrabung einer römischen Siedlung, Megagullis, vergitterte Eingänge zu unbegangenen Katakomben ragen freigelegt und umgekehrt u-förmige Rohre kolben verendet aus Flächen Grün. Ein Werktätiger hat zusätzlich Brand.
     Das ist der Grund.
     Das ist das Grundstück Almatastraße 18, der Ort, wohin es die verschlägt, die es nirgendwohin mehr verschlägt, die alles bereits gesehen und nichts gestanden haben. Und gepflockt in deren Rückgrat ist des Stadtteils Hochhaus, das eine, achtzehn prächtige Stock, ungezählte, viele Wohnungen. Mindestens mehr als zwölf, als Finger an der Hand. Und wenn auch Indiana-Jones die Regierungen der freien Welt beredete, ihre Haushalte totaliter in Spatenstiche zu pumpen, so wird sich doch in ganz Ras Schamra kein Zeugnis almatastraßengleich finden, nichts, was die Fragen der Zeit an die Theologie blendend-plausibler beantwortete, Fragen, wie sintemal der ›Internationale Frühschoppen‹ sie zerblies : was tat Gott als Kind ? Sie zerblies unter Zaubermäusen, die geräuschlos Getränk nachschenkten, feenhaft, vogesengeboren auch sie, Fragen, wie sie wuchtigen Unterkörpern hornbebrillt und havannabeißend aus churchilligen Totenschädeln mit welkweißem Schläfenhaar entströmten : Daniel Degan, Mann von Ha-Aräz, wo Sie schon noch da sind, Sie müssens doch wissen, Sie waren doch so gut wie dabei : wie wurde Jung-Gott damit fertig, daß ihn die Gefährtin seiner frühen Jugend, die Lust am Schöpfen verließ ? Das gibts heut ja alles nicht mehr.
     das ist der Lauf der Welt ... daß es irgendwann einmal etwas nicht mehr gibt ... immer hätte alles gut sein können oder immer ist alles nur fast gut
     alles geschieht, in einen Satz gefangen zu werden. Der dann nicht gesagt wird
     ... tausend Meisterwerke der Kunst : Pastorale mit Hochhaus, im Vordergrund tösende Daglöhner, brotzeitend, pressevertieft, ein Bauwagen, ein Dixi-Klo, ein Campingtisch ohne Klappstuhl mit Thermoskanne ... da Bragettos, oder nein, der Betrachter sieht sich durch die geschickte Formgebung für den Moment getäuscht, erst näheres Hinschauen belehrt ihn eines Besseren. Und kein Geheimnis ist verplaudert, wenn die Behauptung sich wagt, in höherem Sinne gilt : die unter den Wampen moderner Flaneure hängenden Genitalbörsen sind kultur-, sozial- und sittengeschichtlich natürlich späte Nachfahren der Schamkapseln spanischer Granden, die bekanntlich je üppiger ihr Gemächte staffierten, je mehr sie der treibenden Leidenschaft vorgaben Herr zu sein ...
     gleich, gleich tranen die hermeshutenen Schäfer heran, breitkrempige ,           ... aber : schiebt schräg aus dem Hintergrund auf der geröteten Chromhaut ihres Kleintransporters die Firma ›Pracht-Pumpen‹ das irritierende Werbwort Enteisenungsanlagen ins Bild ... Glut
     Kopfschmerz. Als scharrten Hufe hinter meiner Stirn, als schrammten Hocker Tode übers Ganglienparkett und nähme Platz das Konzil sämtlicher Wüstenväter sämtlicher Zeiten, schnaubte ein eisernes Lächeln und wär weise : jede Antwort, Sohn, gebiert neue Fragen. Jede Frage übrigens auch. Darum laß es. Beides. Aber ja doch.
     Die Welt ist ein unvollendetes Kolumbarium, der Bau stillgelegt vor Frosteinbruch : und, wenn überhaupt etwas noch aussieht, nachdem Gott-der-Knabe die Legos, derer er überdrüssig war, in die Ecke gepfeffert hat, dann wie hier.
     Das geht dann doch über meine Kraft
     Wochenendticket ? Wochenendticket ? Im Vorüber : ein barettener Bundesgrenzer beschnurrt seinen uniformierten Kompagnon Komm, laß uns eine Maßnahme treffen und patrouillieren sich auf eine Nobeldestille zu, hörlich ihr Gefallen am Stiefelabsatzklack auf Gußbeton und respektvoll-neidisch die Blicke derer, die sich verdingen würden um ein Geringes — den Bunneskanßler erschießn, oder Brigidde Mira, dasis leicht, jawoll, das wird gemachd, das er ledign wir soford, unßwa mid Schmagges. Mid Schmagges ! — ja genau, so sprechen die Verweser einer Biashabe ... Ausgang Nord, Hauptbahnhof, hier, wo das obdachlose Personal dosenklöternd in einer Wagenburg aus braunem Packpapier residiert und omnia mea mecum porto mantrat : mittendrin, windschief, seidenwurmzüchtergesichtig, wacker und halkyon : der greise Kerl, der so gern mitmachen möcht beim Tribunal Jehovas, in Dauerstellung vor dem Bureau de Tabac und dem verschlängelten Fuhrpark Kofferkulis. Was er nicht weiß : ehe ihm sein Großer Tag gerät, muß der kommen, an dem ich ihm huldvoll zunicke. Mal sehn. Neben der Krücke, deren Knauf er krallt, daran er sich abstemmt vom Erdmittelpunkt und zusätzlich der Wachtturm gezimmert wurde, ist an ihm ein freier Arm. Halbgelähmt ? Immerhin hing der stets dorr rechts ab, segnete matt den Staub zu seinen Füßen und touchierte unscheinbar sanft die baumelnde Kette, die unter Münzapplikation einen Kofferkuli freigibt. Und ich hatte mich doch schon gefragt, was außerdem er damit treibt — per Handschlag zu grüßen hat er ja keinen und Jehova zu dienen unter Einsatz des ganzen Leibes ist ein Versehrter noch lang nicht enthoben. Oder ?
     Gehts um nichts, wird Ausdauer belohnt, denn wer nur unentwegt würfelt, macht seinen Pasch — wie es im Buch ›Weisheit leiblicher Väter‹ heißt. Herrgottfrüh, eine Idee Clemens´ testend, setzte ich ganz auf die Hast der Pendler. Ich hatte mich vor den Automaten für Kurzstreckentickets verschanzt und observierte aus schwierigem Winkel. Und siehe : Gottes Geck zückt mit rechts einen braunmelierten Plastikkamm aus der Gesäßtasche. Das paßt : Jahwe scheitelte einst ein ganzes Meer — wenn auch ein kleineres —, da ist es nur billig, wenn sein Pergamingeschöpf in imitatio dei mächtig durchs dünngrause Haarnest schabt und ungefragt umgehend hinfällige Ordnung hersortiert. Das ist der Mensch : von den Wirbeln des Herbstes umfangen fegt er das Laub, in denen des Winters schippt er Schnee, frühlingsbeweht steht er im Garten und sprüht Raumspray. Sommers aber taugt er rein gar nichts. Doch nein, interessant, der Mann hat mehr als ich dachte, mehr als nur Demiurg und Stock und den einen Anzug für jede Jahreszeit, der hat wirklich, woran er sich hält, wenn auch nur eine Vorstellung von gescheitem Aussehen. Sehr interessant, sehr bedenklich, ein Kamm, das ist vielleicht gar nicht so dumm.
     Hintergründig und meinem Rücken wußte wer was von kostengünstig, ein fortflatternder Bariton drang entweder in sich selbst oder einen schweigsamen Begleiter das mußt du machen, die zeitgleich schrille Frauenstimme war in bedeutender Eile, kannte aber dennoch ihre Pappenheimer, jemand stieß mir den Ellbogen ripphin : Sießu, daßu Land gewinnsd, ich drehte mich gegen meine Gewohnheit um, sah das heisere Stimmband, die ligaturenverliebte Aussprache, karomusterne Fetzen, eine massigenergische Auffassung und deren narbiges Kinn, das unrasiert in schnapsschwüler Luft hing und über dem kakifarbenen Kaffeebecher. Zerschwollen, verwachsen-hornhäutig und schwarznaglig klammerte ein Daumen am geriffelten Kelch — geriffelt, daß den Becher jede Bewußtseinstrübung noch halten kann. Ein Pomme-Frites-Spießchen hatte mindestens Milch verrührt und stak lässig in der Brühe. Ich gedachte Poseidons Dreizack, nickte und ging. Hinter mir : Miljö, wenn ich daschon höre, da schnapp ich mir doch meine Brauning. Wieder hatte ich nichts gesagt.
     Könnte mir vorstellen, zu gern etwas über signifikante Unterschiede der Populationen Ausgang Nord und Süd wissen zu wollen. Und ob bereits für die einzelnen Kindheiten Prädispositionen nachweisbar wären. Vater Trinker ? — Ausgang Nord. Mutter Avon ? Süd. Auch die Spontanentmischung folgt Gesetzen. Und irgendwie glaub ich nicht, daß der Browningdrohling von hier, von Nord gewesen war, der war doch von Süd gewesen. Hier trinkt doch keiner Kaffee. Mit Clemens besprechen — vielleicht können wirs einem arglosen Studentlein als Thema verkaufen.
     Ein Kamm, das ist wirklich nicht dumm. Ich sollte einen Kamm haben.
     Resultat eines Tages.
     kein Rückgeld in den Automaten das ist der Titel,
nach dem ich gesucht habe, der Titel meines nächsten Long- und Bestsellers :

               de spe ignorantia .... VON DER TÖRICHTEN HOFFNUNG
                         oder : KEIN RÜCKGELD                ausgezeichnet
     Andererseits : ist schon komisch, was Leute annehmen, das ein Gott als gemäß oder gar schön betrachten sollte

III

war schlaflos, verbrachte die starrende Nacht mit schwitzfingriger Suche nach dem verschollenen Streifenende auf der Tesarolle, legte mich hin gegen halb fünf und hörte den Beginn gezielten Vögelgekreischs ... die Horste, die Wipfel, in denen die sich schälten, sind noch nicht ausgespäht ... dann, ein kurzer Kampf, ein kurzer Schmauch, ergab ich mich dem Traum und neurotisierte Sätze herbei, die ich von irgendwo kannte. Aber ich fragte nicht nach, war ganz in Anspruch genommen von der Genugtuung, mit der ich die unverhohlene Wunscherfüllung zur Kenntnis nahm. Kann der träumende Konrad erröten ? Ist das je untersucht worden ? Tritt das Über-Ich die Herrschaft über die Kapillare an, wenn das Ich versinkt in eigener Nacht ? Ich jedenfalls hätte erröten sollen, denn Schamloses ließ ich beschlossen liegen im Dialog mit dem metaphysicon : ich, ganz Anwurf, genebeltamorph : Also hattest du mich vergessen ? Und sie stand Rede und saß beinschlenkernd auf dem unverputzten Mauervorsprung an der alten Freibank, roter Sandstein hatte an ihre sahnetütenen Schenkel geschmiert, übersteuerte, dissipative Gestalt, die ihre midas-reichen Pixel gar nicht alle bei sich halten konnte, ein brennendes, streuendes Bild, das sprach : Vergessen ? Nein. Aber du schliefst in meinem Herzen, und ich hatte nicht gewagt, dich zu wecken.
     Ah ja ?
     Hab ich nicht gewußt. Aber einen Verdacht : der Geschmack der Kirsche ist der Geschmack der Lüge. Wie auch immer : pochend aufgewacht mit Kirschgeschmack im Mund. Woher auch immer. Kurz nach sechs. Was an Obst mit der Welt am wenigsten gemein hat (denn die Welt ist wahr ... die Welt ist wahr — nie vergessen), ist zweifelsfrei die Kirsche, ihr Geschmack ist von Jenseits von Thule und da ist kein Vergleich.
     Später Vormittag, auf den Weg zum Wochenmarkt, Früchte mit Druckstellen abstauben                                         Birnen vielleicht
     Von fern ... ein schlaffer Derwisch, eine Skizze Mensch, ein Umriß von Bewegung, savannenschlau hantiert sie eine Verlängerung der oberen Extremitäten ... ich hingegen, ich passiere, flüggeleicht, und höre und seh es ist eine Vettel klopft übergewichtig und beidhändig einen ›Hallo‹-bestickten Fußabtreter. Lobt sie ihn, den dickfasrig vorm Eingang zu einem Sechsparteien-Wohnblock über eingelassene Schlegel Gebreiteten ? Es knallt, es laut und mischt mit von weit denen, die ein durstiger Altglascontainer macht. Prügelt sie ? Ist die Unschuldsvermutung erledigt ? Oder ist sie Caligula, die den Ärmelkanal drischt, nimmersatte Afrikanerin, die ihre Götze peitscht, weil die Ernte abermals unausgewogen ausfiel ? Aus dem Küchenfenster unterm First weht eine Filtertüte auf das bauernkühn getragene Haar der ebenerdigen Vollstreckerin und verbleibt eselmützig, eine ondulierte Nachbarin weht gleichfalls vorbei und fragt nach dem werten Befinden : Mähnsch, wie geiht di dat ? und Vettel wird zur Jesuina, greift sich ins Kreuz, melittabekront, und spricht : o, mutt ja, nä ?
     Wochenmarkt dann und kein Ende der Belehrung. Vorm Käse prallen zwei attachte Pimpfe aneinander und prahlen, wie lang sie den Abend zuvor aufbleiben durften. Der Sieger hatte einen Krimi gesehen, ›Die Männer vom K3‹, auf N3, eigntlich nur Scheißfilme piepst er, zappelt sich mutterfrei und springt fuchtelnd vor den Duftkerzenstand. Der ist heute so unbelagert wie immer, trotz daß stets und geistreich zwei selbstgedrehte Kerzen ein Loch in den Tag brennen, diogenestechnisch, ich suche Menschen und so. Kenn ich gut. Aber mehr als Student der Silberblickkunde und Freund des Verkennens der Kausalität. Mit mein Lieblingsstand. Im ergänzenden Angebot : Messingarmreife aus eigener Herstellung mit lecker Mayasymbolik. Standbetreiberin ist, aus dem Land der Nielächelnden, Königin . Die Monarchin sucht spindeldürr und langhaarig gelockt aus Überzeugung den Rosmarinhandel ihres Reiches nach vorn zu bringen. Im Kern wartet sie auf mit Stehen, Schielen und einer Art verlangsamten Hütchenspiels, das im Verschieben ihrer Kinkerlitzchen besteht, doch heute anders, heut beäugt sie ängstlich-indigniert das Treiben des Knaben, der angedeutet Deckung nimmt unter ihrem Tapeziertisch und die obligate Verhaftung nachstellt. Da sind wohl Hamburg, der Hafen, um eine Lagerhalle eine Nacht, dunkle Geschäfte, finstre Gesinnung und Flammen Scheinwerfer : all das wächst wildgestlig mit überschlagendem Ton zur kommissarischen Aufforderung : Nehmen Sie die Hände über den Kopf und kommen Sie auf das Licht zu. Eine Schulter des Siegers, der nun den hervorkriechenden Gestellten gibt, stößt den Tisch an, gleichmütig brennen die Kerzen weiter, das Verliererkind weint und nüchtern trompetet die eine Mutter Komm da wech, hier tuts nach Patschuli stinkn und die andere Du tus die Tante störn, wech da jätz. Auserdem isdas gefährlich. Einige Gewißheiten : die wachsdamene heißt Rose-Marie oder Inka; ihr Shirt ist gehalten frühreifaprikos; sie selbst besteht aus Frausein — unter geringen Beigaben von Brillenträgertum und Dünnlippenmund. Den sie aber auch nur mit Haselnußcreme füttern will. Obwohl ... genauer : mit ›Samba‹ von Rapunzel und Palmöl statt Lecithin. Nicht aber ›Salabim‹. Das wäre zwar eigentlich auch ein feiner Brotaufstrich, was sie aber nicht mag, sind Bruno Fischers beigepackte Bibelsprüche : ›Der Herr hält seine Versprechen und liebt, die ihre Versprechen halten‹. Als ob dem nicht so wäre ! Einige Fragen aber auch : hatte der Matz ein Tunnelerlebnis ? Durfte er wirklich bis halb elf aufbleiben ? Wer schrieb Gott das Drehbuch ? Lief hier in Wiederholung, geschmuggelt ins Öffentlich-Rechtliche, die Sonderoffenbarung fürs XX. Jahrhundert, der langentbehrte geminale Trinitätsbeweis, zubereitet unseren medialen Bräuchen ? Die Mütter dazu dann, die ewigen, mit Taschen mit Fleisch mit Kohl :
Wohin fliegn Sie dänn, Altarja oder woanners ?
Jo, wir, ä, Altarja, nä
Un wann ?
Hä ?
Un wär is wir ?
Mein Mann, mein Sohn un ich
Jo, innie Sonne, wa ?
Jo
Hier is ja nich schön, um diese Zeit, näch ?
Nä, schön is das hier nich, aba inner Türkei, da soll das schön sein
Genau, wir warn ja auch da
     Will mit                                    muß mehr fernsehn
     In der Bahnhofshalle, das Zwitschern der Dinge, die kein anständiges Wesen Gedanken zu nennen wagen würde, füllt wieder die Sommerluft, unablässige Äußerung des Lebendigen, Niesen, Schneuzen, Silben, Schlucken ... woher nur meine Duldsamkeit und daß ich, ehe ich die Ballungen Zumutung mit einer Mauser entfernte, eher daran dächte, mich selbst endgültig zu absentieren ? Aus Höflichkeit. Die wesenhafte Belästigung, die wesenhafte Unstimmigkeit bin ich — wenn auch nur einer schnatternden Triebigkeit. Nichts um mich her sagt mir was, kein Kichern untergehakter Jungfrauentrupps, der Appetit nicht der Rotten vor den Beißbuden, das Knuffen alter Ganter nicht und auch nicht die derisorischen Lautsprecherdurchsagen — und manchmal hab ich doch nichts zu tun, als traurig den Ausflüssen von Stoffwechsel Wert und Würde, gesiedelt weit hinter meinem Ermessen, zu unterstellen.
... einer ruft mir hinterher Na mien Jung, nulla moneta reversa ? Isses schon so weit ?
     Clemens sieht das anders. Was ich höflich nenne, hält er für mitleidig. Das bin ich nicht. Oder nur wenig. Von Hauptberuf bin ich anmaßend. Aus Ich-Schwäche. Leierkasten dann Clemens´ Widerrede, das sei die Arroganz christlicher Blutzeugen, die als Engel durchzugehen begehrten, indem sie sich als Würmer deklarierten. Mitunter steht Clemens in Gewalt eines inferioren Sophismus. Ich möchte ja Nachsicht üben, aber einige Verstiegenheiten, wie die jüngst begangene, ich sei besessen von einem invertierten Erlöserwahn, inbegriffen einer Neigung zu masochistischer Selbststrangulierung, hör ich einfach nicht gern.
     Ein Wunderzug an ihm, wohl filigran verwoben mit Ödnis und Ethik seiner Zeit in der Soldateska : er favorisiert, wie einst in der Wüste, ein Gegenüber ohne Chance. Die rhetorische Angel, aus der kein Entrinnen ist, liegt landminengleich unter seinem Anteil am Gespräch, er wär der erste, der aufstände und zeigte, daß wer drauf pocht, vollkommen zu sein, dem Vorwurf, sich für makellos zu halten, kaum entgleitet. Wahres Vergnügen aber bereitete ihm erst die Vorführung der Folgeplattheit : eher noch tät der es als der, der es bestritt : vollkommen ist allein, wers demütig verneint. Das ist von der phantastisch-katholischen Hegelei, mit der manch Analytiker die Ablehnung einer Deutung durch den Patienten als Widerstand integriert. Beleidigt aber ist Clemens, wenn ich im Flur stehe und die Zigarre einfach rauche, ungläubig, daß es den Kräften des Fortschritts wirklich gelungen sein soll, die Amerikaner gezwungen zu haben, Deng nach Texas einzuladen.
     Ich bin konstitutionell schwach, aus Schwäche, und dem Zufall zu erliegen, der Freiheit in ihrer aggressivsten Form, ist mein höchstes Pläsier.
     Wo ich mir schon kein Rätsel bin, ist es doch die unfaßbare Duldsamkeit der andern, daß die mich ertragen und sich selbst. Wenn der analytischen Theorie jeder Suizid ein umgelenkter Mord ist, klingt das schneidig und schön und ist also falsch. Ich denke umgekehrt. Jeder Mord ein fehlgeleiteter Suizid. Bis zur Handlungslähmung schäm ich mich, aus dem Holz der andern geschnitzt zu sein.
     So sehr kann ich nicht, daß selbst, wenns nicht so wär, mein Wesen besetzt wär von Abulie. Wie´s Herz Jesu an einen guten Tag
     Die Sätze waren aus Comtesse de Ségurs Kinderbuch ›Die Ferien‹
     Obst war nicht

IV

     Ob es woanders anders ist ? Eine Frage, die mich zunehmend beschäftigt. Ob Fragen woanders was anderes sind ? Ob Kopfschmerzen irgendwo als Köstlichkeit gelten, als gesottenes Schwalbennest unter den Defiziten ? In Lummerland ? Auf Sirius ? Wo ist die Heimat der Ausfallerscheinungen ? Das alles sollte mir besser zunehmend gleichgiltig sein. Wieso besser ?
                                                  Vorsatz : ich will mir weniger ins Wort fallen
     Tacitus hatte I, 47 immerhin noch die feine Differenzierung zwischen Klugen, dem Volk und drittens den Provinzen. Eine Lanze für die Wahrheit : der Versuch mit den Provinzen lief eher kläglich, Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisinsel und was da war. Schon Gide kannte nur noch Sublime und Krustentiere. Selbst das ist noch glitschige Gliedrigkeit und kann ich nicht aufrechterhalten. Ich brauch andre Arbeitshypothesen. Oder Thesen, zum Beispiel :
These : Daß Gott keine Fliege ist, sondern andersrum. Beweis : Talkshow, Satz : Danke, daß ihr meine Gäste seid. Abertausende Radios aber füllen die eine Minute, die immer ist, mit Paraphrasen des Wetters, nach Laune sec ou doux, unverzichtbar Kleinstorte nennend. In denen wieder horchen jubelnd Dorfinsassen nochmals verschachtelt schenkenhockend, ob ihr Kral auch brav und sorgfältig prononciert dahergesagt wird. Kann man Besseres mit der Ewigkeit anstellen ? Und wann schafft Bremen den Sprung von der kommunalen auf die nationale Wetterkarte ? Mit Clemens besprechen. Eine trunkene Bürgerinitiative vom Zaun brechen ... Fördergelder veruntreuen
     In paar Jahren : Radio, Thema : Genom entschlüsselt oder Vera, ich würde alles dafür tun, um in deine Show zu kommen. Bischöfinnen und ballonbäuchige Prälaten werden aufstehen und nach neudehlisch-altnicäischer Art die Frage in ein Studio tönen : Darf der Mensch sich zum Schöpfer aufschwingen ? Antwort, von mir : Och jo, das darf der, der darf das, und schwarzpulvern werden die Bioteckurse und selbstreferentielle Medienmogule den Himmel des Börsenparketts überhellen und ich werde keine Anteile gezeichnet haben.
     Und während woanders alles genauso ist : ein müder Blick in die Schatulle Tag. Ein gräßlicher Blitz stellt den Kontakt zwischen Naturschönem und gossenem Subjekt her. Unter Schmerzen : ja, ausgemacht, ich bin wach. Sehs ein, sehr überzeugend, gut, hier liegt doch schon mehr als Morgenrot vor, schwerer Sommersonnenbeschuß Waller Ring Höhe Paracelsus-Apotheke, eine Krähe tropft zur Frühschicht, Tau hüpft schreiend braunlackierte Pfosten hin, vielbuntes Obst lärmt und schämt sich nicht der unanständigen Zeit armweit nur fern in weitrippigen Holzkisten, ein weiterer Vogel kursiert, diggeridoot und und und : an der Ampel : entsetzt steh ich neben mir und warte, daß das lebt.
     Da kannsdu lange wardn. Touché. Besser hätt ichs auch nicht sagen können. Nur nicht so früh und nicht so von hinten, die Randbedingungen, die´s dazu bräuchte, hat noch kein Harvardmann ausgespitzelt. Was schmutzkräusig Betrunkenes war über nichts gestolpert und hatte mich angediebelt. Mag aber nicht warten. Bin auf dem Weg zu meinem Agronomen.
     Floristen siedeln parasitär um Friedhöfe. Hier : Kopftücher in Stumm, ratschende Weiber in Grau, allsamt komprimierte Wesenheiten mit merkwürdigen Visionen von rätlicher Haartracht : vor denen, vormittag, wochenmarkts, bewehrt mit Gitarre und Pappteller : zwei Sänger singen von Liebe. Zwei Sänger klingen nicht schön. Gerührte Matronen lassen Geprägtes klingeln, verhalten überschäumend vor selbstverliebter Freude, wie sehr sie der Allianz fähig sind mit Jugend, deren sonstigen Klamauk sie keinesfalls billigen, aber was schön ist, muß schön bleiben, egal wers macht, #und jeder muß die eigenen Fehler, und was Hänschen nicht ... Nimmermehr — möge ein jeder Hans mit der Gabe des Verlernens gesegnet sein.
     Nimmermehr — diese Saitenzupfjugend wird meinen Groschen erst auf ihrem Grab zu spüren bekommen, die Legierung aufgeladen mit Flüchen, daß die nicht resurgiert. Anderes auch bedrückt mich : wie sehr die Idee, die´s Geweib von seiner Frisur im Herzen trägt, unabweisbar ›angemessen‹ zu heißen hat, da hilft kein Thesaurus, kein Stoßgebet am Bahnhof um Gesinnungsänderung höheren Orts. Und daß die Steckrüben, die mir gelegentlich vom Bauern aus Stuhr abfallen, mir heute nur Bürgermeisterliches entlocken : Ich grüße die beinlosen Völker, die Maden der Welt. Ich eine Leguminuse unter Leguminusen.

***