Dokumente aus den Dunkelkammern religiöser Wahnideen zugleich Kleiner Städteführer Baden/Aargau

F. L. Alexandre Freytag
Treuer und kluger Diener und Sendbote der Periode von Laodizea und Reinkarnator im Schnoor

Ein Mann steht auf gegen den Tod
oder
Leichen pflastern seinen Weg

     Baden in der Schweiz, gelegen im lieblichen Kanton Aargau, inmitten der Kalkketten des Jura, ist der Schauplatz der endgültig offenbarten Erlösung der Menschheit. Dieser charmante Winkel hat es wirklich verdient, so vor allen anderen Orten der Welt ausgezeichnet zu werden, denn schon Tacitus rühmte an Baden, das damals noch Aquae helveticae, Thermopolis, Balneae, Bada und sonstwie genannt wurde, die schwefelhaltigen Quellen. Am 18. Oktober 1870 wurde endlich unser Held dort, 155 Kilometer Luftlinie von Askona, geboren und prompt starb dem Kleinkind Alexandre ein Spielfreund fort am Nervenfieber. Ein Hinweis ? In seinem Kummer fand Alexandre Linderung in den Kirchen, derer das dreieinhalbtausend Seelen zählende Dorf — neben der Synagoge für die 177 Israeliten — zwei besaß : herzhaft und gelassen hing ein Leichnam vom Kreuz und schenkte Alexandre eine erste tröstliche Vorstellung von Sanftmut und kurioserweise auch untot. Irgendwie meinte Alexandre, nur wie Jesus müßten die Menschen lächeln und schon käm Sterben für sie nicht mehr in Frage. Also nicht ganz so wie Jesus. Vorerst aber halfs noch nicht, im Gegenteil, das Problem gewann neue Brisanz : kaum ein Jüngling, fand Alexandre sich wieder an seines Vaters Totenbett und starrte abermals ins Angesicht des Rätsels : kann man den Tod nicht verhüten ?
     Alexandre heiratete — seine Gattin wußte aber auch nichts. Vielmehr tippte die ihren Zeigefinger an ihre Schläfe und empfing Kind um Kind. Alexandre hingegen zeugte und zeugte und las Bücher. Die tippten zwar nicht an eine Schläfe, gaben aber auch keine Antwort. Alexandre ging einen Schritt weiter, Sucher, der er war, und kürzte seinen Gewaltmarsch durch sämtliche Bezirke menschlichen Wissens entschieden ab : er las statt vieler Bücher einfach das Buch der Bücher und ein zweiter Tip gewann Gestalt : Der Tod ist der Sünde Sold, Römer 6,23. Immerhin. Da stands. Wie, wenn man die Sünde meidet wie die Pest und alle Vorschriften der liebenswürdig lächelnden Leiche mit den Nägeln im Leib befolgt ? Dann wär kein respektabler Grund mehr fürs Sterben (übrigens schien es Alexandre immer, als gäben die Nägel besonders guten Halt). Er war begeistert von seiner Entdeckung, weder konnte, noch durfte er an sich halten, er mußte sprechen, mit gläubigen Seelen am besten, aber er traf auf wenig Zustimmung. Immerhin spürte er aus seinem nun beginnenden Leben in Gehorsam innere Kraft erwachsen und großen Segen und Schutz. Er warf keine Steine und war auch fleißig dabei, wenn es darum ging, Tausende zu speisen, niemandes Weib zu begehren, Maulaffen feil- und Wangen hinzuhalten und sonstwie Gutes zu tun. Er trank nicht und nahm sogar keinen Zins. Beides lag aber auch an seiner fortgesetzten Armut.
     Auf einmal jedoch zog seine Armut herbe Enttäuschung nach sich : nicht allein, daß er unaufhörlich älter wurde : auch eins seiner Kinder starb. Alexandre antwortete sehr symphatisch und erkrankte selbst lebensgefährlich. Die Ärzte standen ratlos an seinem Lager und fragten sich, wie man den Tod verhüten könne. Ganz genau wußte Alexandre das auch noch nicht, jedenfalls nahm er nach einer Weile vorsichtig Sitzbäder und sein Fieber sank. Als er voll Wagemut und Gottvertrauen mit den Sitzbädern, deren Dauer und Intensität er bis an den Rand der Kühnheit ausdehnte, auch noch vorteilhafte Ernährung verband, war er bald völlig genesen. Die Ärzte, Meister, ja Künstler ihres Fachs, staunten, da hatte vor ihren Augen einer den Tod verhütet. Aber schon drei Leichen pflasterten Alexandres Weg. Er mußte dringend was tun. Noch mehr tun.
     Alexandre fand in die strategische Offensive. Als erste Maßnahme zerstritt er sich mit seiner Kirche. Dann fing er an, irgendwelche Freunde um sich zu scharen. Doch gar so einfach wollte Gott es Alexandre nicht machen. Es ging schließlich um das größte Geheimnis der Schöpfung. Schwere Anfechtungen kamen über Alexandre, und auch Drangsale : zu seiner ewig schwankenden Gesundheit gesellten sich in stetig wachsendem Ausmaß Geldkummer, Nachbarhohn und Familienzwist. Alexandre aber hatte Blut geleckt und den Ruf Matth. 19,29 vernommen : Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten oder das ewige Leben gewinnen. Geld oder Liebe — aber immer ein reelles Geschäft. Alexandre schloß sich 1898 den Ernsten Bibelforschern an und leitete später deren Büro in Genf. Die hatten ein gutes Programm : die Angehörigen des nahen Tausendjährigen Reiches würden ewig leben. Die Zeit verstrich.
     Nach achtzehn Jahren, die er älter wurde und das Tausendjährige Reich förmlich ticken hören konnte, begann er auch hier, Finger auf Wunden zu legen und den großen Salzstreuer herauszuholen. Woran lags, daß diese fabelhafte Zeit ums Verrecken nicht kommen wollte ? Alexandre schrieb Aufsätze, in denen er die Ernsten Bibelforscher brandmarkte : wir selbst sind es, wir selbst sind schuld, angesichts des Weltendes morgen früh betreiben wir noch Theorie, klappern in der Öffentlichkeit, indem wir die genaue Uhrzeit berechnen, statt an der Besserung unseres eigenen Charakters, der täglich Gott beleidigt, zu arbeiten. Wir verharren im bloßen Studium der Schriften Russels, wo wir uns selbst opfern müßten, und das ganz.
     So ging das nicht weiter. Vier Jahre später, 1920, kam es zum Bruch. Unser Held veröffentlichte die Botschaft an Laodizea gegen die Zeugen Jehovas, daraufhin diese »die Obrigkeit des Fürsten dieser Welt gegen mich [gebrauchten], um zu suchen, mich zu vernichten«, will sagen, die Zeugen bedienten sich bürgerlicher Gerichte, Alexandre mundtot zu machen.
     Zu spät. Sechs goldene Wochen im ansonsten so gebeutelten Jahr 1920, sechs goldene Wochen, in denen Die göttliche Offenbarung entstand, 1922 dann die Botschaft an die Menschheit, in der Alexandre sagte, warum wir kränkeln, altern und sterben. 1933 schrieb er sein drittes Buch, Das ewige Leben. Da steht drin, was zu tun ist, daß wir nicht krank werden, nicht mehr altern und schon gar nicht mehr sterben — das positive Gegenstück zur Göttlichen Offenbarung.
     Zwischendurch fand Alexandre noch Zeit, Versuchsstationen zu gründen und schöne Namen für sie auszudenken. Neue Erde war der Erstling, 1925 mit 60 Hektar in den Basses Alpes eingerichtet, Erziehungshaus, Versöhnungsstation kamen hinzu, bis 1963 insgesamt neun weitere in Vaucluse, Methamis, Marnand, Wart, Draveil, Waldeck/Taunus, Sternberg/Franken, Rixensart und Almoloya. Getreideflocken, gute Luft und Sitzbäder sollten bei dezentem Sündenbefall die Lebenserwartung auf 200 bis 500 Jahre steigern, wenn während des Essens, die Einspeichelung der Nahrung nicht zu behindern, auf Flüssigkeitsaufnahme verzichtet werden würde, ja, »eine Anzahl Personen hat bereits begonnen und ist versichert, daß sie durch die völlige Treue zu den gegebenen Unterweisungen nicht in das Grab hinabmüssen« — so noch 1972 im Anzeiger des Reiches der Gerechtigkeit.
     Exkurs. Leider wird die Einspeichelung immer noch nachlässig vorgenommen, Satan macht die Leute durstig, so daß sie trinken beim Essen. 1952 heißt es in der Abgekürzten Chronik des Anzeigers des Reiches der Gerechtigkeit : wir haben es »mit einem grausamen Widerstand des Widersachers zu tun, der durch alle erdenklichen Mittel auf eines abzielt : die gegenwärtige Beweisführung vom wahren Reiche Gottes zum Scheitern zu bringen« Acht Jahre später : »Bis jetzt fehlt es den Stationen recht oft an ganz entschlossenen Herzen und an kräftigen Armen, die sich freudig in den Dienst der Gemeinschaft stellen«, die Guten sind in der Minderheit, »da sie aber in der Minderheit sind und die anderen das Programm nicht genügend zu Herzen nehmen, ist das Ergebnis nur ein kleiner Durchschnitt« Erst 11 Jahre später, auf der Jahresversammlung 1971 in Turin, deutet sich der Durchbruch an : wir haben unsere Ziele nicht erreicht, aber nur »weil wir beständig vom Geist des Widersachers beeinflußt wurden« Wäre alles anders, entstünde eine »wunderbare Disziplin und vollkommene Harmonie, die sich als das Offenbarwerden der Söhne Gottes kundtun würde. Wir sind sehr weit entfernt von diesem Offenbarwerden« Jedoch schon lassen einige Mitglieder der Versuchsstationen, die weit im Rentenalter stehen, nicht nach im Einspeicheln und Dursten und wünschen hinreichend, »das Böse in sich dadurch zu überwinden, daß man das Gute lebt«
     Aber diese schönen Erfolge waren zur Gründerzeit noch Zukunftsmusik. Alexandre, erster Diener seiner Staaten, hielt sich eisern an die eigenen Regeln. Seine Tochter und zwei seiner Söhne machten mit. Erst als sich der vierte Tote in Gestalt des mittlerweile jüngsten Sohnes einstellte, wurden die beiden überlebenden Geschwister irre an ihrem Vater und stiegen aus. Alexandre selbst zeigte sich minder beeindruckt. Die früheren Sterbefällen hatten ihn abgehärtet. Ihn packte nur noch intensivere Entschlossenheit.
     Er fühle sich, wie er schrieb, zwanzig Jahre jünger und hoffe zu beweisen, »daß durch eine treu befolgte Lebensführung die Menschen es zur vollständigen Lebensfähigkeit auf Erden bringen können«
     Verbissen breitete sich sein Werk aus. Schweiz, Frankreich, Deutschland. Österreich. Aber auch Belgien, Italien, mehrere afrikanische Staaten und Mexiko. Verstreute Gruppen in Nordamerika und Brasilien.
     1934 wurde Alexandre, der es nur wenig anders vermutet hatte, endgültig verkannt. Das Land Preußen verbot am 13. Januar sein Menschenfreundliches Werk — Kirche des Reiches Gottes wegen zu vieler Genitive als kulturbolschewistische Vereinigung. 1945 aber ging das Scharen der Kleinen Herde unverdrossen weiter. Inzwischen war auch im Weltmaßstab munter weiter gestorben worden, Alexandre wurde nervös, es wurde eng. Auch für Alexandre. Exakt 13 Jahre und 18 Tage nach dem Nazi-Edikt starb er. An seinem Grab standen Leute sowie Angehörige des Tausendjährigen Reiches und der Versuchsstationen und fragten : wie kann das sein, konnte er nicht mal seinen eigenen Tod verhüten ? Doch, konnte er, hätte er gekonnt. Kurz vor seinem Hingang gab der teure Sendbote, der Hirte voll Gnade den entscheidenden Wink zur Aufschlüsselung seines Todes : vielleicht, daß ich ein freiwilliges Sühnopfer mache. Für alle und alles. Schade.
     Er hat uns wundervolle Ernährungsvorschriften und Mahngesänge hinterlassen, es gibt gleich 372 Lieder des Sendboten, für jeden Tag des Jahres mehr als eins. Außerdem gibt es viele Zusammenkünfte der Freunde der Armee des Allmächtigen und die noch nicht genügend ausgewertete, aber von Alexandre selbst verbürgte Erkenntnis, daß die Maul- und Klauenseuche ihre mit gelber Lymphe gefüllten Bläschen wirft als Zeichen des Egoismus unter den Menschen, wohingegen die Erwärmung der Erde auf das unbedingt unmittelbar bevorstehende tropische Paradies, das die Neue Erde sein wird, hindeutet. Dies allen Klimaforschern und Epidemiologen Satans ins Stammbuch. Religionswissenschaftler allerdings meinen, Alexandres größte Leistung, gleich nach dem 47er-Sühnetod, sei die Berechnung der erweiterten Bevölkerungszahl der Neuen Erde (nebst der Kleinen Herde, einer Population von 144000), die er durch vorzügliches Multiplizieren der Zahl 144 mit 144000000 erreichte : 20736000000. Eine Bestätigung der Zahl ergab die komplexe mathematische Operation 144000 . 144000 : 20736000000 — man rechne selbst nach. Zwanzig Milliarden und ein paar Zerquetschte. Das stelle man sich mal vor. Das ist viermal mehr, als es jetzt gibt. Gewaltig.
     Aber ach ! Die Zeit war noch nicht reif für einen Geist wie Alexandre, es half nicht nur am Anfang nichts : auch letzten Endes half es nichts. Die Zeit war voller Zeichen, haufenweise. Wäre Alexandre noch am Leben, er könnte für sich in Anspruch nehmen, sie am gründlichsten von allen verkannt zu haben.

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