Presserechtliche Zwingschrauben nötigen den Boten, der ansonsten nicht dazu neigt, sich nötigen zu lassen, eine Gegendarstellung zuzulassen. Eine großmächtige hamburger Anwaltskanzlei hat im Auftrag des Fremdenverkehrsvereins Delmenhorst und des städtischen Referats für das Bild der Stadt in der Welt Haubitzen aufgefahren gegen den Salmoxis-Städteführer Delmenhorst, respektive den Boten selbst. Der Bote aber tut in der Art aller Boten und tröstet sich mit dem schönen Satz des Mose, niedergelegt Kapitel XXXII seines schönen Essays Deuteronomium1: mea est ultio, die Rache wird des Boten sein. Bei nächster Gelegenheit. Sehr bald. Und überall soll dann sein ein Ächzen und flüstrig gestöhnt solls heißen : zu spät, zu spät. Und das Lamento soll eine ganze Weile dauern. Und aller Atem soll dann verlöschen. Ganz unerwartet

 

Anonyme Delmenhorster packen aus

Delmenhorst —
das Krasnosibirsk des
Nordwestens

Revision eines Geschichtsbildes

Wenn ein Fest auf Delmenhorst fällt, wird es gefeiert. Delmenhorster sind extrem fidel und verstehen ausgezeichnet zu feiern. Ganz Delmenhorst feierte letztes Jahr 625. Stadtjubiläum. Ein Festzelt und eine Festrede gab es, wie es sie noch nicht gegeben hat.

Vom Gedächtnis des Delmenhorsters erzählen sich die Leute noch in Leer und Emden. Er gedenkt der Gründung seiner Stadt und vergißt auch das Gute nicht. Ihm ist ganz gleich, ob das von Hinzugezogenen, Einheimischen oder Fremden kommt. Wer aus Delmenhorst kommt, macht da keine Unterschiede. Der Delmenhorster an sich ist dankbar und nicht nachtragend.

Delmenhorst kommt im Lexikon noch vor Delphi. Das wird Gründe haben.

Der eigentliche Delmenhorster ist treu, aber nicht religiös. Es sei denn, er ist Mohammedaner. Und das sind nicht eben wenige. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die tiefe Gläubigkeit der griechisch-orthodoxen Bevölkerung und der christlichen Minderheit der Armenier.

Aber Delmenhorst hat Kultur : Delmenhorst hat sieben Kirchen. Eine davon steht sogar direkt gegenüber von einem Pornokino. Und von den anderen sechs sind es höchstens fünf Minuten Weg bis zu sehr schönen Spielhallen. Insgesamt allerdings hat Delmenhorst mehr Spielhallen als Kirchen.

Delmenhorst hat auch Feingeist : es gab ein Autokino.

Damals, kurz nach Freigabe der Pornographie, wurde Delmenhorst als Standort für den Supersexshop 2000 ausgesucht. Das war der baufällige Eckladen in der Rosenstraße. Dort fanden sich gesellige Bürger in einem nett gemachten Hinterraum auf einfachen Klappstühlen zu ersten Super-8-Filmen ein. Ich kenne keinen Delmenhorster, der nicht diskret wäre. Ein Delmenhorster nämlich hat Sitte, Anstand und Moral. Und eine Empfindung für die Gerechtigkeit. Er ist dagegen. Oder dafür. Je nachdem — flexibel sozusagen. Sein Wahlspruch ist : eine Harmonie muß sein. Zwischen allem. Harmonie ist, was die Welt erhält und was macht, daß alles funktioniert und daß die Vögel singen in der Natur. Der ursprüngliche Delmenhorster ist im Wesenskern Philosoph, hat Freude am Dasein, schlägt sich eben so durch und verfügt über Lebensart. Quasi sieht er sich als ein Geschöpf in Gottes Hand. Sozusagen ist er vielleicht doch tief in sich drin religiös, aber auf keinen Fall für den Papst. Darum auch ist, daß er so viele Kirchen hat. Und noch viel mehr Spielhallen. Sein Dasein ist nämlich ein spielerisches. Wie das der Sperlinge und Lilien.

Seine Meinung knapp für die Todesstrafe hat der Delmenhorster sich nicht leicht gemacht. Es ist ja leider so : er hat die Welt letzten Endes denn doch nicht gemacht und was muß muß. Und seis nur zur Abschreckung, wärs nicht ganz umsonst. Hier fällt ein leiser Verdacht von Schatten auf den Delmenhorster : er macht sich nicht nur die wichtigen Dinge schwer, sondern auch die unwichtigen. Aber nur manchmal, zum Glück.

Führendes Organ in Delmenhorst ist das Delmenhorster Kreisblatt und wird abgekürzt dk. Es hat eine Auflage und die Macher sind gut ausgestattet mit Telefon und Faxgeräten. Es erscheint immer und täglich trudeln die Nachrichten nur so aus aller Welt ein. Bei den Lesern am beliebtesten ist die tägliche Serie Mit dem Brandstifter unterwegs : in der Nummer vom 20. Januar 1997, die zufällig hier vorliegt, wird berichtet von der Gartenlaube im Kleingartengebiet am Burggrafendamm (Sachschaden 11000 Mark), vom Container am Stubbenweg (Sachschaden noch unbekannt) und vom Gartenhaus der Imkerei an der Innengraft (4000 Mark).

Delmenhorst hat sehr viel Prominenz. Eine gute Gruppe zum Beispiel kommt aus Delmenhorst. Sie hat viele Hits. Zwei davon sind : Blau aufm Bau und Die Besten trinken aus.

Oltmanns ist fünfstellig. Aber ob man ihn erwähnen muß, weiß ich nicht.

Anläßlich seines 625. hatte Delmenhorst eine vielbeachtete Picasso-Ausstellung gehabt. Sogar Bremen und Hannover nahmen davon Notiz. Und bestimmt nicht nur, weil ein Bild von Picasso während der Ausstellung gestohlen wurde. Es war ja auch nur eines. Das Bild war ein Linolschnitt und ob es wieder aufgetaucht ist, wer weiß ? Da kümmert sich keiner drum, schon gar nicht die giftspritzende überregionale Sensationspresse, die immer alles in den Schmutz zieht. Dabei hätte nicht mal jemand was gemerkt, wenn die Fälschung, die herangeschafft wurde (damit niemand was merkt), von den Tätern nicht verkehrt herum aufgehängt worden wäre.

Damit niemand was merkt ist ein gutes Stichwort. Delmenhorst hat auch eine Regierung. Ende der Siebziger hatte der ehrgeizige Bewährungshelfer Harald Groth es geschafft und war SPD-Bürgermeister. Eines Tages ging es um den Haushalt. Groth wollte auf Nummer sicher gehen : würden alle eigenen Leute mit Ja stimmen ? Also legte er bei der geheimen Probeabstimmung Pauspapier
unter die Stimmzettel. Aber die Sache (seien wir froh, sonst hätten wir nie davon erfahren) flog auf. Eine SPD-Ratsherrin kam dahinter. Sie war meine Lehrerin und sagte eines morgens nach der Großen Pause nur »Entschuldigung«, kotzte in den Papierkorb und soff sich anschließend aus Ekel vor der Sozialdemokratie mitsamt einer Kollegin tot. Und Delmenhorst hatte seine Blaupausen-Affäre. Herr Groth trat zurück und ist heute niedersächsischer Landtagsabgeordneter für Delmenhorst. In Hannover.

Man sieht : in Delmenhorst kann jeder was werden. Jeder kriegt seine Chance.

Das Amtsgericht samt seinen Akten fing neulich Feuer. Neben dem Amtsgericht steht das Hotel zur Graft, Niedersachsens kleinste Strafanstalt. Sie ist bei den Insassen äußerst beliebt. Nach mehreren Orgien wurde ein Schließer verwarnt. Die Fenster sind vergittert und lassen sich von innen öffnen. Das Hotel liegt idyllisch gelegen am Rande der Graft. Die Graftanlagen sind das Burggrabengelände des nur noch bißchen erhaltenen Sitzes der Grafen von Delmenhorst. Auf dem ehemaligen Wäscheplatz der Burg sind die Kiffer heimisch geworden. Der Delmenhorster mag die Welt und das ganze Drumherum. Einer seiner Leitsätze ist : Die Welt ist ein Dorf.

Sprichwörtlich auch das Spruchgut Delmenhorsts. Beispiel : wenn ein Delmenhorster Kaffee in den Filter tut, der Maschine Strom gibt aber kein Wasser und das alles irgendwann mal merkt, dann lacht er : Das kann ja nicht gut gehen. Der Delmenhorster hat nämlich neben Spruchgut auch noch exquisiten Humor. Da weiß er sehr wohl zu unterscheiden.

Humor und Spruchgut werden in Delmenhorst gelehrt an den Schulen. Das delmenhorster Bildungswesen ist vorbildlich : es gibt eine Sonderschule, die Lessingschule. Sie wird von Mardern bewohnt und beschissen. Der Krankenstand der Schülerpopulation hört gar nicht mehr auf zu steigen, weil seit vollen zwei Jahre die Scheiße so stinkt, daß der Unterricht im Winter nur bei offenem Fenster abgehalten werden kann — und muß, denn kein Mensch, geschweige denn Delmenhorster, will unausgebildete und humorlose Delmenhorster in die Welt entlassen. Aber die SPD-Dezernenten haben das Problem im Griff : wie am 20. Januar 1997 dem dk zu entnehmen war, nahmen sie auf dem traditionellen Neujahrsgespräch des Ortsvereins Bungerhof, diesmal in der Gaststätte Slatterys, neue Photos der Marder, die der Schulleiter geschossen hatte, zur Kenntnis und stellten Gelder in Aussicht. Große Erleichterung stellte sich ein. Allenthalben.

Delmenhorst hat auch drei Partnerstädte. Die eine ist Allonnes. Von ihr ist zu sagen, daß sie in der Nähe der Loire und in der Nähe von vielen Schlößern liegt und daß viele Austauschschüler dort hinfahren und immer wieder wiederkommen. Ehrlich gesagt : es ist dort ein bißchen sehr grau und langweilig und zu beschaulich. Die zweite Partnerstadt ist Eberswalde. Eberswalde liegt zwischen Berlin und Polen. Früher wurden dort täglich fünftausend Schweine hingerichtet und die ganze DDR mit Kotletts versehen. Seit das nicht mehr so ist, gibt es dort einige wirtschaftliche Unregelmäßigkeiten. Lustig ist, daß dort der Branntwein Brauner heißt. Die dritte und aber berühmteste Partnerstadt Delmenhorsts ist Woronesh am Don, berühmt vor allem durch Wochenschauberichte über dort vorkommende Panzerschlachten. Überlebende delmenhorster Kriegsteilnehmer hört man heute noch schwärmen von den Schönheiten der Taiga. Leider stirbt diese Generation jetzt langsam aus. Sprecht miteinander ! Solang es noch geht ! Unsere Stadt verfügt doch über den einen oder anderen Ort der Aufbewahrung und Begegnungsstätten. Das tut sie doch nicht umsonst !

Hier endlich verdichten sich die Schatten, ist ein gewisser Zug am Delmenhorster zu bekritisieren : eine gewisse Trägheit, wenn er nichts zu tun hat. Das offenbart aber auch einen seiner größten Vorzüge : die Fähigkeit zur Selbstkritik, die bis zu Selbstzerfleischung gehen kann. Auch der Delmenhorster ist nicht perfekt. Nichts auf der Welt ist perfekt.

Dimple Minds. Der Name der Gruppe.

Und Jean Pütz, Jean Pütz kommt auch aus Delmenhorst. Wie vielen war der mit seinen schönen mathematischen Bemerkungen und seinem komisch gezwirbelten Oberlippenbart nicht Führer durch eine haltlose Jugend, hin zu Wissen und Wohlstand ?

Drei Nebenlinien des oldenburger Hauses wurden nach Delmenhorst benannt, die dritte erlosch 1647.

Zugegeben : Atlas Delmenhorst ist in der Krise. Aber sie geht noch nicht ins 625. Jahr. Man muß den Jungs Zeit geben : Atlas Delmenhorst entstand erst Mitte der Siebziger aus dem VSK Bungerhof und dem 1. FC Roland Delmenhorst. Roland hieß der größte Bagger der Atlaswerke. Das ist nächst Woronesh das zweitschönste Beispiel für das Ineineinandergreifen von Schwerindustrie und Körperertüchtigung.

Noch ein Beispiel der Verzahnung von Wirtschaft und Sport : Matthias Ruländer hat die Kneipe Zur Kämmerei übernommen. Matthias spielte eine halbe Saison bei Atlas auf dem Liberoposten und hat durch beispielloses Vorgehen und bedingungslosen Einsatz verhindert, daß die Mannschaft auf dem allerletzten Tabellenplatz landete. Als Belobigung entließ ihn sein alter Kumpel Helmut Konschal (Reserve bei Werder und Trainer Atlas).

Delmenhorst hat auch ein eigenes Autokennzeichen : DEL. Das heißt nicht etwa Die Erste Liebe oder Die Elite oder Deutsches Eldorado, obwohl alles drei stimmen könnte, sondern ganz bescheiden : Delmenhorst.

Die guten Schwarzfeller Gitterzäune kommen aus Delmenhorst.

Überhaupt die Gastlichkeit Delmenhorsts, sie ist schon im Stadtwappen (Wasserturm) verankert. Sie ist die Zierde eines jeden Delmenhorsters.

Zusammenfassung : Delmenhorst wird von lauter Glückspilzen bewohnt. Die meisten von ihnen haben ständig den Reibert dabei, begierig, darin zu lesen. Und wenn es nicht der Reibert ist, ist es die vierbändige Geschichte der Stadt Delmenhorst von E. Grundig, die 1953 im Auftrage der Stadtverwaltung maschinenschriftlich vervielfältigt worden ist.

Delmenhorst hat einen Fluß. Die Delme. Das ist in jedem Atlas nachzuschlagen (Delmenhorster Wortwitz). Wenn man aus der Stadt rausgeht, kann man an dem Fluß mit seinen Ufern sitzen und die Strömung betrachten und die Tiere und Büsche. Die Delme war tendenziell tot, die Situation hat sich aber nicht geändert. Die Delme hat Nebenflüsse : die Welse und auch den Delmegraben.

So sieht das aus.

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1 Der Essay ist in dem schönen Sammelband Thora enthalten und zeugt von höchster experimenteller Phantasie. Autor Mose, wie Josephus weiß, erfolgreicher Feldherr des Pharao, rapportiert eindringlich und erstaunlich konsistent die Erschaffung der Welt, hat sprachliche und intellektuelle Freude an viel und sattem Völkermorden und gipfelt, auch hierin später Nachfahr Ernst Jüngers, in einem Augenzeugenbericht vom eigenen Tod. Diesem Mann aus der Gruppe der Jungen Wilden ist eine große Zukunft beschieden, oder seinem Samen. Oder seines Samens Samen. Er soll erfolgreich sein wie die Sterne am Himmel und die Körner am Strand. Erhältlich ist das Werk um ein Geringes in allen gutsortierten Bahnhofsbuchhandlungen oder bei der Württembergischen Bibelanstalt. Bei der Kult-Gruppe Zeugen Jehovas umsonst.