Bernd Lüttgerding
In der Bleibe Die Wache des Wachseins zur Nachtzeit, wo
das
Über die Dächer, erahnt im Schimmer letzten Blaus, heben sich morastige Wolken. Auf den Glockturm ragen sie schon herab und lassen seine Ziegelspitze, den ins alleinigste Allüberall weisenden Pfeil, schmächtig wirken. Unter dem Kegel tanzen zwei Zeiger zu Stunde, Jahr und Tag über spangrüne Ziffern hin.
Da nähern sich die Zeiger einander, da trennt sie nur noch ein Schritt, ein nadelfeiner Funke Schweigens vorm großen Ruf zum belanglosen, weil im Zwangslauf ständig wiederholten Abschied, da decken sie sich, werden eins, da zeigt schwingend die Glocke ihren Schlund, und der erste Schlag vollendet die Finsternis. Licht schwand schon früher als vortags. Ein Zweiter. Vögel erstarrten nach und nach als Leere — Drei. — die Himmelhülle zu durchscheinen begann. Vier. Nur eine verlorne Nachtigall färbt die Luft. Fünf. Wolken, morastig, ziehn ungehalten weiter. Sechs. Grillen kratzen dreist und emsig in den Hecken. Sieben. Ranken im Fenster des Schlafsaals, sein schwüles Innen, — Acht. — Kalkwände, Bettstellen und sitzender Menschschatten — Neun. —hielten lang noch letztes Violett. Zehn. Vielleicht ist zu viel Zeit vergangen seit — ? Elf. Was Abend war, fällt in die Nacht. Beim letzten Schlag hebt Anian die Augen auf. Schwach, wie kahle Inseln, spuken in zwei Reihen Bettstellen, umbrandet vom abgründig dunkelen Gang. Einen Schläfer birgt keine von ihnen; nur Anian sitzt auf der Kante seines Lagers am Rand bei der Tür und tastet nach Licht. Durch das Fenster fällt kühler Geruch. Als dann der Raum in Gelb erglüht, wirft eine Motte flinke Schatten. Er legt seinen Schreibblock zurück auf die Knie, nimmt klebendes Haar von der Stirn und aus dem Mundwinkel seinen Stift.
Kleine Fliegen bekreisen die Lampe. Dauernder Schwirrton der Grillen. Die Nachtigall ist still geworden. Ein Hall von Stimmen auf der Straße. Und der Schlafsaal ist weit und schweigt in zäher Luft.
Grillenklang herrscht; er umgarnt die Ohren und kaum anderes Geräusch dringt zu ihnen als täubender Grillenklang. Die Stimmen draußen sind entfernter. Anian sieht um sich, gelockt von glitzernden Flaschen, die an den Fußenden einiger Betten stehn. Viele sind leer; in manchen aber deuten sich übrige Schlucke an. Nur wenig Wermut; mehr Korn, Kartoffel, Köm und Kranewitter, die unentbehrlichen Sicherheiten, die Kraft, klar und leicht jedwedes Erinnern zu überfliegen. Er steht nicht auf, zu prüfen, was er finde, sondern wendet sich wieder seinem Papier zu.
—, weil ich albern genug bin
zu glauben, Du, die Du Dich meiner längst nicht mehr erinnerst, hättest
einen Halt zu bieten, schreibt er nicht. Rückwärts sinkt
er in die Matratze. Sein Blick verfolgt Kerbtierchen im Flug, die tickend,
mit umschalten Leibern an die Zimmerdecke stoßen. Eine Mücke
verrät sich. Der Stift, aufs Laken geworfen, verliert noch das Blut
nicht gefügter Worte und mit knitterdünnem Laut gleitet Beschriebenes
von den Knien zu Boden. Der Turm holt Luft und singt den Ton der ersten
Stunde. Noch immer bebrüten die Tagesseufzer den Raum, denn erdige
Frische, vom Fenster her, verbleibt bodennah. Langsam schiebt Anian seinen
Kopf über den Pritschenrand um ihn stirnvoran dort hinein zu tauchen.
Er blickt auf zum, scheinbar nun über ihm befindlichen Boden, schielt
zur schwindelfernen Decke hinab; der Kleiderständer hindert einige
Jacken daran, ballongleich empor zu steigen. Auch seinen Kopf, Blut und
Hirn drängt es in vermeintliche Höhe. Keine Fessel mehr zwingt
zum Grund. Nichts fällt mehr. Er steigt, entschlüpft der Enge,
aufwärts gesogen und was steinern ihn band, bleibt ... weit ... zurück
... — Da bricht ein rauhreifweißer Schein auf die Dielen nieder,
überwuchert das weiche Bettlampenlicht und schmeißt ihm einen
hart geschliffenen Schattenriß ins Gesicht. — Der entwächst
seiner Form, flackert zwischen Grellem und Schwarz, — der stürzt
ihm entgegen und schreckgetrieben sitzt Anian aufrecht, ehe der gewöhnliche
Schwindel wieder in seinen Schädel eingezogen ist. Über die
Schulter hinweg starrt er leer, gehetzt, jäh erweckt, aber noch unverständig,
vom rätselhaften, die überschaubaren Grenzen seiner Weltverlasserspielerei
sprengenden Geschehen überrannt zur Tür. Dort steht umloht vom
Korridor die greise Adorata mit der Klinke in der Hand. Sie sagt, ach
mein Junge, wie immer : mein Junge, und du bist noch hier ganz allein
? Sie meint das, er weiß es, nur gut. Ist es die Störung in
seinem Traumspaß, oder eine verstohlene Enttäuschung darüber,
daß sich die Ursache seines Schreckens als etwas Bekanntes entpuppt,
die ihn dennoch lediglich auffauchen und sich dann einfach, als sei alles
wie zuvor, abwenden läßt ? Doch Adorata tritt heran. Auf wasserdicken
Beinen schlurft sie, unsicher wie ein Aufziehpüppchen, um das Bett
und nimmt neben ihm Platz. Und so steif, wie ein sommerlich Speisender
das Verschwinden einer Wespe von seinem Mundwinkel abwartet, so steif
wartet Anian, ohne zu wissen, wohin mit seinen zornigen Händen. Leise
hat Adorata zu erzählen begonnen, doch er nimmt ihre Worte nur als
wimmernde Altweibersommerfäden wahr, die ihm entgegen schweben und
an ihm kleben. Mit ihrer Hand, die der Herbst schon beinahe verlassen
hat, klopft sie zart den Takt auf seinem Schenkel und spricht dazu von
Last und Freud gegangener Tage, von Obhut, Qual und was blieb. Gelegentlich
zupft an dem, aus vorjährigem Laub gemachten Mund ein abwesendes
Lächeln; stier blickt sie in unbestimmte Ferne und stier blicken
auch die Löcher in ihrer rosanen Strickjacke vor sich hin. Über
der trägt sie jetzt im Sommer einen Mantel aus gestrengem Sterbedampf,
der jede ihrer Gebärden umspielt. Etliche Jahre haben an ihrer Haut
gezerrt und ihren Geist verwohnt und gänzlich zerknüllt werden
sie sie fallen lassen. Adorata wendet sich Anian zu, als wolle sie sich
seiner Teilnahme versichern. Doch er springt plötzlich auf, stürmt
an ihr vorbei mit zusammengezogenen Brauen, — er hielte sich die
Augen zu, wäre dies nicht eine zu aufwendige Geste — stößt
an einen Bettpfosten, flucht und schließt die Tür hinter sich
laut. Während all dessen hat Adorata reglos verweilt, die kalke Wand
angesehen und ihre Hand hängt, nachdem der Schenkel geflohen war,
noch einen Moment lang über der Restwärme, die weniger werden
will und ihrem Herrn hinterher. Erst als Tür und Zargen sich wieder
in einander klammern, sinkt die Hand. Anian hastet durch den muffigen
Flur, über den Estrich der kleinen, trotz einiger Wandlampen dämmerigen
Vorhalle nach draußen. Vor dem Eingang hält er an, schaut in
den mittlerweile völlig verhangenen Himmel und atmet auf. Ein Garten
umgibt die Bleibe, begrenzt von einem einfachen, niedrigen Maschendrahtzaun.
An einer Stelle ist er heruntergetreten, um den heimkehrenden Anwohnern
mühseliges Pfortenöffnen zu ersparen. Ein Trampelpfad von dort
bis zur Haustür bezeichnet die häufigen, immer gleichen Gänge.
Im Vorgarten ist nur Gras geduldet, über dem sich das Gebäude
in seiner ganzen, verwittert-verworfenen Gestalt erhebt. An den Seiten
und im Hintergarten aber wuchert ungehemmt alles, was der Zufall sät,
vornehmlich Holundergestrüpp. Dorthin geht Anian. Unterwegs erfrischt
er sich bei der Regentonne und findet dann an der Seitenwand, unter einem
Holunderstrauch, halb von einer Straßenlaterne beschienen, die Bank.
Er setzt sich und betrachtet, was die Laterne der kräftigen Nacht
entreißen kann. Weit entfernt, hinter einer Straßenbiegung,
zersplittert eine Flasche auf Asphalt. Gröhlen folgt nach. Die Glocke
im Turm schlägt zwei Mal. Es raschelt und schnauft in einem Busch,
— aber das ist nur ein Igel; er kommt hervor, huscht am Licht vorbei
und geht unter. Aus den Wolken stürzt ein einzelner Tropfen unbemerkt
herab auf seine Schulter. Nichts regt sich. Er habe einen Brief bekommen,
träumte ihm in der vergangenen Nacht. Zwar konnte er die Zeichen
auf dem Papier erkennen, sie aber nicht entziffern. Er wußte, um
den Brief lesen zu können, müßte er die Augen öffnen;
dann jedoch wäre er wach und der Brief verschwunden. Er denkt nicht
mehr an diesen Traum. Nichts regt sich. Schwer steht die Luft im Garten.
Da, miteins, werden die Stimmen lauter. Unter der Laterne erscheint ein
heiterer Pulk und stolpert ohne Zögern weiter den Zaun entlang. Niemand
bemerkt ihn. * Es regnet nicht mehr, Über den Dächern fliegen Stücke von Wolken im Morgenwind. Ein früher Sonnenstrahl setzt sie in Brand. Und Birkenlaub wimpelt im Morgenwind. Die Taube, wie immer, ruft zur Ruh, zur Ruh. Spinnengewebe sind tauperlenbehängt. Morgenwind kräuselt die Pfützen auf der Straße. Unterm Holunder, an der Bleibe, steht eine Bank. Sie glänzt vom Regen der Nacht. Nichts bleibt, wie es war. Über nasses Haar streicht Morgenwind. *** |